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Empfehlung „Schutzstrategien bei Nuklearwaffeneinsatz“ der SSK

veröffentlichende Fachgesellschaft: Strahlenschutzkommission (SSK)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 18.12.2024
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse/DE/2024/2024-10-10_Schutzstrategien_Nuklearwaffen.html

Grundsätzliches

  • Vertrauen darauf, dass die Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen aufgrund terroristischer Gewalt und militärischer Konflikte für Bürger*innen nach dem kalten Krieg und der Wiedervereinigung unrealistisch ist/war –> Vorbereitung von staatlichen Akteur*innen und von privaten Haushalten auf solche Bedrohungen sehr stark reduziert
  • spätestens seit 2022 sind nukleare Drohungen durch Russland (und auch durch andere Atommächte) wieder Teil des Alltags –> Bedrohung geht aber nicht allein von Staaten mit Kernwaffen aus, sondern auch von terroristischen Gruppen
  • Empfehlungen entstehen aus der tiefen Überzeugung der SSK, dass eine Vorbereitung auf den Ernstfall notwendig ist, denn angemessene und optimierte Vorbereitung kann wesentlichen Beitrag zur Rettung und Gesunderhaltung von zehntausenden Menschen leisten

Grundsatzempfehlungen

  • zeitnahe Erarbeitung eines Risikokommunikationskonzeptes und Erstellung einer Informationsplattform zu allen Aspekten eines nuklearen Angriffs mit unterschiedlichem Zugang und Aufarbeitung der Informationen für Ministerien, Behörden, Hilfs- und Rettungsdienste, Krankenhäuser, Personal in medizinischer und psychosozialer Versorgung sowie Bürger*innen
  • Schaffung aller Voraussetzungen zum medizinischen Notfallmanagement wie in der entsprechenden Empfehlung der SSK (SSK 2023a) dargelegt (Ausbildung des Personals, Logistik, Ertüchtigung von Krankenhäusern etc.)
  • bessere Vernetzung aller beteiligten Institutionen (Analyse der Zuständigkeiten, Kommunikation & Zusammenarbeit aller beteiligten Stellen; Prüfung auf strukturelle Schwachstellen sowie ggf. Optimierung; enge Interaktion auf Bundes- und Länderebene, stringente Planungen und regelmäßige Übungen sind für die adäquate Vorbereitung für den Fall eines Einsatzes von Kernwaffen für die SSK von essenzieller Bedeutung)
  • Evaluierung und ggf. Ertüchtigung von Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung, unter besonderer Berücksichtigung „schützender Räume“ im öffentlichen Bereich
  • Erarbeitung von Schutzkonzepten für besonders vulnerable Gruppen in Krankenhäusern, Schulen und Kindergärten etc.

weitere Empfehlungen

Planungsgrundlagen

  • „Leitfaden zur Planung der Reaktionen auf eine Kernwaffenexplosion (Planning Guidance for Response to a Nuclear Detonation)“ der Federal Emergency Management Agency der USA (FEMA 2023) als fundierte Grundlage für Planungen auch in Deutschland heranziehen
  • Einführung eines an die Empfehlungen der FEMA angelehntes Systems mit der Initiierung von ersten Hilfsmaßnahmen erst unterhalb einer Dosisleistung von 100 mSv h-1 (CAVE: dt. Strahlenschutzgesetzgebung bezieht Kernwaffenexplosionen nicht systematisch in ihr System von Richtwerten für die Bevölkerung und Einsatzkräfte ein, da das Strahlenschutzgesetz für den Zivilschutzfall nicht anwendbar ist)
  • ggf. auf initiale Evakuierung Betroffener – trotz Richtwertüberschreitung von 1 mSv h-1 bzw. 100 mSv kumulierte Dosis über 7 d (BMUV 2023) für Strahlenexposition – verzichten (CAVE: initiale Evakuierungen nur mit erheblichen Schwierigkeiten durchführbar und können bei fehlerhafter Durchführung zu vermeidbaren lebensgefährlichen Gesundheitsschädigungen von zehntausenden Evakuierten durch Fallout führen)
  • zuständige Behörden in die Lage versetzen, der Bevölkerung Empfehlungen zum Verhalten nach der Kernwaffenexplosion unter schwierigsten technischen Bedingungen zu übermitteln (Rundfunk, Fernsehen, Mobilfunk, soziale Medien, Lautsprecher)
  • berücksichtigen, dass bei Kernwaffenexplosionen in Abhängigkeit der Bevölkerungsdichte initial mit zehntausenden Toten & Verletzten zu rechnen ist (häufig Kombinationsverletzungen durch mechanische Traumata, Verbrennungen und Strahlung), wobei die Zahl der zu Versorgenden nach Exposition durch Fallout um ein Vielfaches höher liegen kann
  • System der für Unfälle in Kernkraftwerken vorgesehenen Notfallstationen zur Versorgung Betroffener von Kernwaffenexplosionen ertüchtigen, optimieren & beüben (Einrichtungen können u. a. dazu verhelfen, den zu erwartenden Ansturm besorgter Personen abzufangen und der psychosozialen Versorgung zuzuführen
  • Etablierung und Ertüchtigung eines zweistufigen Systems an Krankenhauseinrichtungen für die umfassende und erweiterte Versorgung von Strahlennotfallpatient*innen
  • angemessen Berücksichtigung der Bedeutung „schützender Räume“ im Wohnungsbau (u. a. Einbeziehung und Ertüchtigung von Kellern, Tiefgaragen, etc.)
  • großräumiges vorläufiges Ernteverbot direkt nach Explosionen, Warnung der Bevölkerung vor dem Verzehr von selbst angebautem Gemüse & Obst sowie nachfolgend großräumige & intensive Kontrolle von Futter- & Nahrungsmitteln

Vorbereitungsmaßnahmen

  • redundante Vorhaltung eines geeigneten Notfallschutzsystems zur möglichst raschen Abschätzung der Strahlenexposition bei einer Kernwaffenexplosion (z.B. RODOS-System in Hinblick auf die Ausbreitungsmodellierung erweitern und Explosionsstärke sowie Höhe der Explosion über Grund, atmosphärische Ausbreitung in bis zu 15 km Höhe, Freisetzung kurzlebiger Radionuklide und Ausbreitung unterschiedlicher Partikelgrößen berücksichtigen)
  • Prüfung und ggf. Härtung des vorhandenen IMIS-System zur Messung der Ortsdosisleistung auf Widerstandsfähigkeit ggü. elektromagnetischen Impulsen (EMP)
  • Etablierung resilienter & redundanter Meldewege für kritische Informationen im Falle einer Kernwaffenexplosion (Informationen über Explosionsart, Höhe der Explosion über Grund, Explosionsstärke und Charakteristika der Wolke sollten dem Lagezentrum des Bundes so schnell wie möglich zur Verfügung stehen)
    • auch bei großen Unsicherheiten muss automatisierte, frühzeitige Kommunikation an betroffene Personen ebenso sichergestellt werden wie angepasste & optimierte Strahlenschutzempfehlungen zu Evakuierungen oder Verbleiben in „schützenden Räumen“ innerhalb von Minuten bis wenigen Stunden nach Einsatz einer Kernwaffe
  • Aufbau einer strukturierten Wissensplattform (auch für Identifizierung & Vernetzung von Fachleuten aus den zuständigen Behörden und anderen Expert*innen sowie Bündelung von Informationen, Beratungen und Hilfsangeboten
  • Aufbau eines zweistufigen Netzwerks von spezialisierten Krankenhäusern & mobilen Teams für die medizinische Versorgung von Strahlennotfallpatient*innen in dessen Mitte eine zentrale Koordinierungsstelle die deutschlandweite Verteilung von Strahlennotfallpatient*innen auf Grundlage von tagesaktuell erfassten Daten zu freien Behandlungskapazitäten und der vorhandenen apparativen & personellen Ausstattung ermöglicht (CAVE: Kapazitäten werden bei Kernwaffenexplosionen nicht ausreichen, daher müssen auch Einrichtungen der medizinischen Basisversorgung zur Unterstützung befähigt werden)
  • Strahlennotfälle sollen grundsätzlich Gegenstand des Medizinstudiums und der Ausbildung von Rettungspersonal, Medizintechnolog*innen, Pflegekräften und in der Krisenintervention tätigem Personal werden
  • intensivierte Ausbildung spezialisierter Ärzt*innen und Fachkräfte für die medizinische Versorgung von Strahlennotfallpatient*innen (Etablierung der Qualifizierungen „Strahlennotfallärztin/-arzt“ und „Strahlennotfallmanagement“)
  • Vorhaltung von Medikamenten für die Behandlung von an akutem Strahlensyndrom erkrankten Patient*innen in im Notfall rasch zugänglichen Depots sowie schnelle Verteilung
  • Einsatzpersonal flächendeckend mit geeigneter Messtechnik und PSA ausstatten, um vor Ort so früh wie möglich Hilfe leisten zu können
  • (nachträgliche) Evakuierung der Bevölkerung erwägen in Gebieten, in denen die noch verbleibende Dosisleistung durch den Fallout in großen Gebieten immer noch so hoch sein, dass für die Bevölkerung auch in den folgenden Tagen und Wochen eine erhebliche und potenziell gesundheitsgefährdende Dosis anfallen kann
  • Aufbau einer proaktiven, kontinuierlichen und mehrsprachigen Risikokommunikation, einheitlich durch die zuständigen Bundes- und Landesbehörden (Resilienz der Bevölkerung in Gefahrenlagen entscheidend davon abhängig, wie gut sie durch ausreichende Information auf die mögliche Bedrohung vorbereitet und zu Selbstschutzmaßnahmen bereit ist)
  • Schutz vor Kernwaffenexplosionen als Gegenstand groß angelegter mehrsprachiger Öffentlichkeitskampagnen, die die Bevölkerung auf einfach durchführbare Schutzmaßnahmen & Verhaltensregeln vorbereiten

empfohlene Maßnahmen für die Bevölkerung, wenn der Notfall eintritt

  • Ducken (am besten hinter Wänden oder Erdhügeln etc. als Schutzbarrieren) und das Bedecken unbedeckter Körperteile sind die anfänglich wichtigsten Schutzmaßnahmen, um sich während der Explosion vor herumfliegenden Trümmern und der Hitzestrahlung durch geeignete Deckung wirkungsvoll schützen
  • Aufenthalt in schützenden Räumen (wie z. B. Keller, Tiefgarage) bietet in den ersten 24 - 48 h nach der Explosion im Nahbereich und in potenziell von Fallout betroffenen Gebieten den besten Schutz
  • vorsorgliche Anlegen eines Vorrats von Trinkwasser und ggf. Nahrung empfohlen und Möglichkeiten zur Dekontamination (Wasser, Wischtücher) & Ersatzkleidung vorhalten
  • klare & dringende Empfehlung gegen Selbstevakuierung, da diese mit vermeidbaren, lebensgefährlichen Strahlendosen durch Fallout verbunden sein kann (CAVE: Fahrzeuge bieten keinen ausreichenden Strahlenschutz)
  • keine Empfehlung für die Einnahme von stabilem Kaliumiodid (sog. Iodblockade(-tabletten)) im Fall eines Nuklearangriffs
  • Vorhalten und Tragen von FFP 2-/FFP 3-Atemschutzmasken, wenn schützende Räume verlassen werden müssen (z. B. bei Besorgung lebensnotwendiger Medikamente oder bei anstehender Evakuierung)
  • jede*r Bürger*n soll sich über die Gefahr durch Kernwaffenexplosionen und v.a. über Schutzmaßnahmen/Verhaltensregeln zu Hause und am Arbeitsplatz informieren und sich darüber mit Kolleg*innen, Familienangehörigen und Nachbar*innen austauschen
  • dringende Empfehlung für einfache Eigendekontamination durch Ablegen der Kleidung, Waschen unbedeckter Körperflächen & Haare sowie anschließendes Duschen für die Bevölkerung in den vom Fallout betroffenen Gebieten (Schutz vor Fallout und schnellstmögliche Reinigung sind besonders wichtig, da Fallout zu hoher Strahlenexposition und damit zu gesundheitlichen Schäden führen kann)

Empfehlungen für Einsatzkräfte, wenn der Notfall eintritt

  • Ersthelfer*innen & Einsatzkräfte sollten zunächst geschützte Räume aufsuchen und insbesondere innerhalb der ersten 24 h Anweisungen der Behörden abwarten
  • Dosisbestimmung der und Vermeidung der Inkorporation radioaktiver Stoffe durch Ersthelfer*innen & Einsatzkräfte während des Einsatzes besonders wichtig (möglichst unter Verwendung eines Alarmdosimeters)
  • besonders gründliche Vorbereitung der Ersthelfer*innen & Einsatzkräfte vor dem Betreten der „gefährlichen“ Strahlungszone und schnelle Personalwechsel anhand festgelegter erreichter Dosiswerte erforderlich
Published inLeitlinien kompakt

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