Zum Inhalt springen

Im Notfall Psychiatrie – Kann ein Lied Leben retten?

Heute geht es bei FOAMio um die Symbiose aus Popkultur und Prävention im Bereich psychischer Erkrankungen. Prävention ist immer noch ein stiefmütterlich beachtetes Thema, was viel mehr Aufmerksamkeit bräuchte bzw. verlangt. Prävention muss auf vielen Ebenen des Lebens und Erlebens gedacht werden, denn die zu verhindernden Erkrankungen wirken sich ebenfalls auf viele Ebenen des Lebens aus! Das heutige Beispiel zeigt wie man Vorbeugung anders denken kann und so Aufmerksamkeit schafft.

Der Song

Im Jahr 2017 veröffentlicht der US-amerikanische Rapper Logic einen Song mit dem initial etwas komisch anmutenden Titel „1-800-273-8255„. Die Zahlenfolge 1-800-273-8255 ist die Telefonnummer der US-amerikanischen Suizidhotline National Suicide Prevention Lifeline.

Die deutschsprachigen Angebote zur Suizidprävention sind unter den folgenden Telefonnummer und anderen Zugriffswegen erreichbar:
– Telefonseelsorge Deutschland: 0800 1110111 oder 0800 1110222 oder online unter https://www.telefonseelsorge.de/
– Kinder- & Jugendtelefon Deutschland (Nummer gegen Kummer): 116111 oder online unter https://www.nummergegenkummer.de/
– Telefonseelsorge Österreich: 142 oder online unter https://www.telefonseelsorge.at/
– Kinder- & Jugendtelefon Österreich (Rat auf Draht): 147 oder online unter https://www.rataufdraht.at/
– Telefonseelsorge Schweiz: 143 oder online unter https://www.143.ch/
– Kinder- & Jugendtelefon Schweiz (Pro Juventute): 147 oder online unter https://www.147.ch/

In dem Song singt Logic zusammen mit Alessia Cara und Khalid über einen Menschen, der keinen Sinn mehr in ihrem Leben sieht und sich bei der Suizidhotline meldet, wo ihm/ihr geholfen wird. Nach dem Telefonat verändert sich der Entschluss bzw. die Einstellung der Person.

Suizidgedanken: „I’ve been on the low/I been taking my time/I feel like I’m out of my mind/It feel like my life ain’t mine/Who can relate?“ („Ich war am Tiefpunkt/Ich habe mir Zeit gelassen/Ich habe das Gefühl, dass ich verrückt bin/Es fühlt sich an, als ob mein Leben nicht mein ist/Wer kann das nachvollziehen?“)
Anruf bei Suizidhotline; „I want you to be alive/I want you to be alive/You don’t gotta die today/You don’t gotta die/I want you to be alive/I want you to be alive/You don’t gotta die“ („Ich will, dass du am Leben bleibst/Ich will, dass du am Leben bleibst/Du musst heute nicht sterben/Du musst nicht sterben/Ich will, dass du am Leben bleibst/Ich will, dass du am Leben bleibst/Du musst nicht sterben“)
Einstellungsänderung: „The lane I travel feels alone/but I’m moving ’til my legs give out/and I see my tears melt in the snow/but I don’t wanna cry/I don’t wanna cry anymore/I wanna feel alive/I don’t even wanna die anymore.“ („Die Spur, in der ich reise, fühlt sich alleine an/aber ich bewege mich, bis meine Beine nachgeben/und ich sehe meine Tränen im Schnee schmelzen/aber ich will nicht weinen/Ich will nicht mehr weinen/Ich will mich lebendig fühlen/Ich will nicht mehr sterben.“)

(Den vollständigen Liedtext findet Ihr am Ende des Beitrags!)

28. April 2017

Veröffentlichung des Songs

Die nationale Suizidhotline erhält 4.573 Anrufe, was der zweithöchste Wert in der Geschichte der National Suicide Prevention Lifeline ist (Steigerung um 27 %).

27. August 2017

Auftritt bei den MTV Video Music Award

Anstieg der Anrufzahlen bei der National Suicide Prevention Lifeline am darauffolgenden Tag um 50 % (5.041 Anrufe am 27.08.17 selbst) sowie ein kontinuierlicher Anstieg der Telefonanrufe um 27 % in den drei folgenden Wochen und Anstieg der Webseitenbesuche von von 300.000 auf 400.00 in den darauffolgenden Monaten

28. Januar 2018

Auftritt bei den Grammy Awards

Verdreifachung der Anrufzahlen in den ersten 2 Stunden nach dem Auftritt

13. Dezember 2021

Veröffentlichung der Studie zur Assoziation des Songs
und der Anrufzunahme
der nationalen Suizidhotline und dem Rückgang der Suizidzahlen

Niederkrotenthaler et al. veröffentlichen in The BMJ eine Untersuchung des Zusammenhang zwischen Logic Song und dem Sinken der Suzide in den USA

Die Studie

In der Untersuchung „Association of Logic’s hip hop song “1-800-273-8255” with Lifeline calls and suicides in the United States: interrupted time series analysis“ von Niederkrotenthaler et al. in The BMJ aus dem Dezember 2021 wurden die Zusammenhänge zwischen Logic Song und den Anrufen bei der US-amerikanischen Suizidhotline sowie einem feststellbaren Rückgangs der Suizidzahlen in den USA untersucht. Wichtig bei der Studie ist es zu betonen, dass es sich bei der Untersuchung um eine Beobachtungsstudie handelt, welche schon grundsätzlich keine kausalen Zusammenhänge nachweisen kann. Außerdem konnte auch nicht eruiert werden, ob die Betroffenen durch das Hören des Songs oder die stärkere mediale Aufmerksamkeit für das Thema „Suizidalität“ beeinflusst waren.

Was die Studie aber zeigen konnte ist, dass es im Zeitraum von 34 Tagen nach den drei folgenden Ereignissen, welche mit einer großen öffentlichen Aufmerksamkeit verbunden waren, zu einer Veränderung des Anrufsverhalten bei der National Suicide Prevention Lifeline kam und auch zu einem Rückgang der Suizidzahlen kam:

  • Veröffentlichung des Songs
  • MTV Video Music Awards am 27. August 2017
  • Grammy Awards am 28. Januar 2018

Im 34-Tage-Zeitraum nach den zuvor genannten Ereignissen konnten Niederkrotenthaler et al. folgende Dinge nachweisen:

  • Logic’s „1-800-273-8255“ generierte 81 953 Tweets von 55 471 einzelnen Nutzer*innen im Zeitraum zwischen dem 01.03.2017 und dem 30.04.2018, wobei drei große Peaks zu den drei zuvor genannten Ereignissen zu identifzieren waren sowie zwei kleinere Peaks um die Zeit der Veröffentlichung des Liedes & parallel zu Medienberichten über einen Anstieg der Anrufe bei Lifeline im Zusammenhang mit dem Lied
  • Anstieg der Online-Google-Suchen nach der Telefonnummer der National Suicide Prevention Lifeline um fast 10 % in den 28 Tagen nach Veröffentlichung
  • Entwicklungszahlen der Lifeline-Anrufe
    • statistisch signifikanter Zusammenhang für die Zunahme der Lifeline-Anrufe für den Zeitraum von 34 Tagen, aber nur für die drei großen Peaks (stärkster Peak unmittelbar nach den MTV Video Music Awards) mit den jeweilig folgenden Werten:
      • Zunahme um 5,3 % nach Veröffentlichung des Songs für einen Zeitraum von 3 Tagen (95 % Konfidenzintervall: 0,53 – 10,0 %)
      • Zunahme um 8,5 % nach Auftritt bei den MTV Video Music Awards für einen Zeitraum von 28 Tagen (95 % Konfidenzintervall: 5,1 – 10,0 %)
      • Zunahme um 6,5 % nach Auftritt bei den Grammy Awards für einen Zeitraum von 3 Tagen (95 % Konfidenzintervall: 1,7 – 11,2 %)
    • kombinierte Analyse des Zusammenhangs der Zunahme der Lifeline-Anrufe für die drei Ereignisse ergab Zunahme von 9915 Anrufen (95 % Konfidenzintervall: 6594 – 13236), was Anstieg von 6,9 % (95 % Konfidenzintervall: 4,6 – 9,2 %, P< 0,001) entspricht
  • Zusammenhang mit den Suizidzahlen
    • beobachtete Zahl der Suizide in den Zeiträumen nach den drei Medienereignissen in der Range der im Model statistisch prognostizierten bzw. berechneten Zahl der Suizide
    • SARIMA-Modellberechnungen (Seasonal Autoregressive Integrated Moving Average) mit einer Kombination der Daten für alle drei Großereignisse ergab signifikanten Rückgang von 245 Suiziden (95 % Konfidenzintervall: 36 – 453 Selbstmorde) bzw. um 5,5 % (95 % Konfidenzintervall: 0,8 – 10,1 %, P = 0,02) belief
Quelle: https://www.bmj.com/content/375/bmj-2021-067726

Die Conclusio der Arbeit zum Song „1-800-273-8255“ von Logic und den Auswirkungen auf die Suizidhäufigkeit in den USA lautet wie folgt: „Der Song „1-800-273-8255“ von Logic wurde mit einem starken Anstieg der Anrufe bei National Suicide Prevention Lifeline in Verbindung gebracht. In den Zeiträumen, in denen der Song in den sozialen Medien stark diskutiert wurde, wurde ein Rückgang der Suizide beobachtet.“

Exkurs – Werther-Effekt

Mit dem Begriff des „Werther-Effekt“ beschreibt man den Anstieg der Suizidzahlen (Imitationssuizide) im Nachgang zu polarisierenden Berichten über Suizide in den Medien. Der Begriff „Werther-Effekt“ beruht auf Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ (1774), in welchem sich der Protagonist Werther suizidiert, weil er unglücklich in eine verheiratete Frau verliebt ist. Das Buch von Johann Wolfgang von Goethe löste Suizidwelle, sodass der Verkauf des Buches zwischenzeitlich unter Strafe stand und Goethe das Buch „entschärfen“ musste. Erstmals genutzt wurde der Begriff 1974 vom amerikanischen Soziologen David P. Phillips. Beispiele für den Werther-Effekt, die auch wissenschaftlich untersucht wurden, sind z.B.:

  • ZDF-Mehrteiler „Tod eines Schülers“ aus dem Jahr 1981: Anstieg der Eisenbahnsuizid-Rate unter 15- bis 19-Jährigen während des Ausstrahlungszeitraums und in den fünf Wochen danach um 175 % bei Männern und um 167 % bei Frauen (kein signifikanter Effekt bei Männern > 40 und Frauen > 30 Jahren)
  • Suizid des US-amerikanischen Schauspieler & Komiker Robin Williams am 11. August 2014 durch Erhängen mit konsekutivem Ersticken: geschlechts- und altersübergreifend Suizidanstieg um 9,85 % (1.841 Suizide), mit Peak in der Gruppe der Männer und Personen im Alter von 30 – 44 Jahren (Anstieg der Suizide durch Erstickung um 32,3 %)

Exkurs – Papageno-Effekt

Beim „Papageno-Effekt“ handelt es sich um das Phänomen, dass eine aufklärend-bedachte Berichterstattung in den Medien sogar einen vorbeugenden Charakter bezogen auf suizidales Verhalten haben kann. Der Bezug auf den Charakter „Papageno“ aus der Oper „Die Zauberflöte“ von Wolfgang Amadeus Mozart rührt daher, dass selbiger wie Goethes „Werther“ unglücklich verliebt und suizidal ist, aber durch die Hilfe von „drei Knaben“ andere Lösungsansätze erkennt und seine Krise überwindet. Bezogen auf die aufklärend-bedachte Berichterstattung sind u.a. folgende Aspekte zu nennen:

  • Hinweise zu einem sinnvollen Management in Krisenphasen
  • keine monokausale Darstellung des Motivs
  • Verzicht auf detailreiche Beschreibungen genauer Umstände zur Tat und Person
  • keine Heroisierung oder Romantisierung
  • individuelle Problematik erklären, Lösungsansätze & professionelle Hilfsangebote aufzeigen

Die Lyrics

I′ve been on the low
I been taking my time
I feel like I’m out of my mind
It feel like my life ain′t mine
(Who can relate? Woo!)
I’ve been on the low
I been taking my time
I feel like I’m out of my mind
It feel like my life ain′t mine

I don′t wanna be alive
I don’t wanna be alive
I just wanna die today
I just wanna die
I don′t wanna be alive
I don’t wanna be alive
I just wanna die
And let me tell you why

All this other shit I′m talkin‘ ′bout they think they know it
I’ve been praying for somebody to save me, no one’s heroic
And my life don′t even matter, I know it, I know it
I know I′m hurting deep down but can’t show it
I never had a place to call my own
I never had a home, ain′t nobody callin‘ my phone
Where you been? Where you at? What′s on your mind?
They say every life precious but nobody care about mine

I’ve been on the low
I been taking my time
I feel like I′m out of my mind
It feel like my life ain’t mine
(Who can relate? Woo!)
I’ve been on the low
I been taking my time
I feel like I′m out of my mind
It feel like my life ain′t mine

I want you to be alive
I want you to be alive
You don’t gotta die today
You don′t gotta die
I want you to be alive
I want you to be alive
You don’t gotta die
Now lemme tell you why

It′s the very first breath
When your head’s been drowning underwater
And it′s the lightness in the air
When you’re there
Chest to chest with a lover
It’s holding on, though the road′s long
And seeing light in the darkest things
And when you stare at your reflection
Finally knowing who it is
I know that you′ll thank God you did

I know where you been, where you are, where you goin‘
I know you′re the reason I believe in life
What’s the day without a little night?
I′m just tryna shed a little light
It can be hard
It can be so hard
But you gotta live right now
You got everything to give right now

I’ve been on the low
I been taking my time
I feel like I′m out of my mind
It feel like my life ain’t mine
(Who can relate? Woo!)
I’ve been on the low
I been taking my time
I feel like I′m out of my mind
It feel like my life ain′t mine

I finally wanna be alive (Finally wanna be, alive)
I finally wanna be alive (Hey)
I don’t wanna die today
I don′t wanna die
I finally wanna be alive (Finally wanna be, alive)
I finally wanna be alive (Woah)
I don’t wanna die (Nooo)
I don′t wanna die (I don’t wanna die)

(I just wanna live)
(I just wanna live)

Pain don′t hurt the same, I know
The lane I travel feels alone
But I’m moving ‚til my legs give out
And I see my tears melt in the snow
But I don′t wanna cry
I don′t wanna cry anymore
I wanna feel alive
I don’t even wanna die anymore
Oh, I don′t wanna
I don’t wanna
I don′t even wanna die anymore

Quellen

Published inIm Notfall Psychiatrie

Sei der Erste der einen Kommentar abgibt

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert