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Im Notfall Psychiatrie – Was ist eigentlich… die Krankheitsangststörung?

Bei der Krankheitsangststörung, welche früher auch als „Hypochondriasis“ oder „Hypochondrie“ eher abwertend bezeichnet wurde, handelt um eine Erkrankung aus dem Bereich der Zwangsstörungen oder damit verwandten Störungen. Bei der Krankheitsangststörung stehen die Ängste, eine oder mehrere schwere körperliche Erkrankungen zu haben, im Mittelpunkt. Die Patient*innen empfinden extremen Leidensdruck, welcher einerseits durch die oft schweren Symptome ohne eine körperliche Ursache sowie die oftmals lange Odyssee von Behandler*in zu Behandler*in begründet ist.

Epidemiologie

  • Beginn meist im frühen bis mittleren Erwachsenenalter (meistens vor dem 50. Lebensjahr)
  • 1-Jahres-Prävalenz je nach Kriterien und untersuchter Population: 1 – 10 %
  • beide Geschlechter sind ähnlich häufig betroffen
  • Prävalenz im Sinne einer echten klinischen Störung liegt in der Allgemeinbevölkerung bei etwa 0,05 %
  • Menschen mit unterschwelliger Hypochondrie oder andauernden starken Krankheitssorgen machen etwa 2 – 3 % der Bevölkerung aus
  • laut einer großen WHO-Studie zählt Deutschland international zu den Spitzenreitern für hohe Krankheitsangst
  • laut jüngster Studien liegt die Lebenszeitprävalenz bei 5,7 %
  • in den USA betrugen die Gesamtkosten für die Behandlung der Krankheitsangststörung 1964,91 US-Dollar pro Patient*in für die 12 Monate vor und 2089,21 US-Dollar pro Patient*in für die 12 Monate nach dem Indexbesuch mit Diagnosestellung/-verdacht

Erklärungsansätze/Psychopathologie

  • Auslöser sind häufig gesundheitsbezogene Lebensereignisse wie bspw. eine schwere Erkrankung im Umfeld der Betroffenen oder auch negative Erfahrungen mit dem medizinischen System sowie andere Belastungsfaktoren, die unabhängig von der Gesundheit sind (z.B. beruflicher Stress, Trennung)
  • Aufrechterhaltung der Krankheitsängste meistens bedingt durch verstärkte Aufmerksamkeit auf körperliche Prozesse –> Entdecken körperlicher Veränderungen wahrscheinlicher –> Fehlinterpretation der Veränderungen als Krankheitsanzeichen

Risikofaktoren

  • Erziehungsstil/Elternverhalten, bei dem körperlichen Symptomen mit viel Aufmerksamkeit und Besorgnis begegnet wird
  • Stresserlebnisse in der frühen Kindheit (z.B. sexueller Missbrauch und Misshandlung) und wenig verlässliche Bezugspersonen
  • Schwierigkeiten in der Stressverarbeitung
  • allgemein erhöhte Ängstlichkeit
  • bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, z.B. häufige Beschäftigung mit Gesundheit und Körper sowie Gefühl, anfällig für Krankheiten zu sein

Klassifikation & Symptomatik

ICD-11 (6B23)

  • ständige Sorge oder Angst, eine oder mehrere schwere, fortschreitende oder lebensbedrohliche Krankheiten zu haben
  • Besorgnis wird entweder begleitet von
    • 1) wiederholten und exzessiven gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen, wie z. B. wiederholtem Überprüfen des Körpers auf Anzeichen von Krankheiten, übermäßigem Zeitaufwand für die Suche nach Informationen über die befürchtete Krankheit, wiederholtem Suchen nach Bestätigung (z. B. mehrfache Arztbesuche)
    • 2) maladaptivem Vermeidungsverhalten in Bezug auf die Gesundheit (z. B. Vermeiden von Arztterminen)
  • Symptome führen zu bedeutsamem Leidensdruck oder zu signifikanten Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, ausbildungsbezogenen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen

Zusätzlich unterscheidet die ICD-11 die zwei folgenden Schweregrade:

  • Hypochondrie mit mittelmäßiger bis guter Krankheitseinsicht (6B23.0)
    • alle definitorischen Anforderungen der Hypochondrie sind erfüllt
    • meiste Zeit sind Betroffene in der Lage, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die krankheitsspezifischen Überzeugungen nicht wahr sind
    • meiste Zeit sindr Betroffene bereit, eine alternative Erklärung für die Erfahrungen zu akzeptieren
    • zu bestimmten Zeiten (z.B. bei starker Angst) zeigen Betroffene möglicherweise keine Einsicht
  • Hypochondrie mit schlechter bis fehlender Krankheitseinsicht (6B23.1)
    • alle definitorischen Anforderungen der Hypochondrie sind erfüllt
    • Betroffene sind die meiste oder die ganze Zeit davon überzeugt, dass die störungsspezifischen Überzeugungen wahr sind
    • Betroffene können keine alternative Erklärung für die Erfahrungen akzeptieren
    • Mangel an Einsicht, den die Betroffene an den Tag legen, variiert nicht merklich in Abhängigkeit vom Angstniveau

DSM-5

  • Beschäftigung mit der Vorstellung, eine schwere Krankheit zu haben oder zu bekommen
  • keine oder nur geringe körperliche Symptome vorliegend (CAVE: liegt eine andere Erkrankung vor oder besteht ein hohes Risiko für die Entwicklung einer Erkrankung, z. B. bei starker familiärer Belastung, ist die Beschäftigung mit der Krankheit eindeutig übertrieben oder unverhältnismäßig
  • hohes Maß an Angst um die Gesundheit und die Person ist leicht beunruhigt über ihren persönlichen Gesundheitszustand
  • übermäßiges gesundheitsbezogenes Verhalten (z. B. wiederholte Überprüfung des Körpers auf Krankheitsanzeichen) oder maladaptives Vermeidungsverhalten (z. B. Vermeidung von Arztterminen und Krankenhausaufenthalten)
  • Sorge um die Krankheit besteht seit mind. 6 Monaten (CAVE: spezifische Krankheit, die befürchtet wird, kann sich in diesem Zeitraum verändern/ändern)
  • krankheitsbedingte Beschäftigung lässt sich nicht besser durch eine andere psychische Störung erklären, wie etwa eine Somatisierungsstörung, Panikstörung, generalisierte Angststörung, körperdysmorphe Störung, Zwangsstörung oder wahnhafte Störung vom somatischen Typ

monosymptomatische Sonderformen

  • Bromosis: Vorstellung, man würde einen üblen Geruch verströmen
  • Parasitosis: Vorstellung, man wäre von Parasiten (speziell Würmern oder Spinnen) befallen, die im Körper wachsen, speziell bei unter der Haut wachsenden Parasiten
  • Dysmorphophobie: Vorstellung, man sei missgebildet, entstellt oder allgemein abstoßend hässlich
  • Nosophobie: generalisierte Angst vor Krankheiten vordergründig, unabhängig von den wahrgenommenen Symptomen

weitere Details

  • häufigste Angst bei hypochondrischen Störungen sind u.a. Krebserkrankung, Herzerkrankung, potenziell beeinträchtigenden neurologischen Erkrankung (z. B. multiple Sklerose) oder Infektionskrankheit (meistens AIDS)
  • körperliche Wahrnehmungen und Symptome werden in hypervigilanter Weise überbewertet und als katastrophal interpretiert
  • unterscheidend zu Zwangsstörungen, bei denen eher künftig eintretende Erkrankungen befürchtet werden, ist die Hauptbefürchtung der Patienten bei Hypochondrie, dass die Erkrankung bereits vorliegt
  • Verlauf ist oft chronisch, aber in einigen Fällen auch fluktuierend oder stetig
  • CAVE: einige Patient*innen besuchen häufig Ärzt*innen (Pflege-suchender-Typ) und andere Patient*innen suchen Ärzt*innen seltener auf (Pflege-vermeidender Typ)
  • akute Auslöser von Krankheitsängsten können ganz unterschiedliche körperliche Symptome sein, wie z.B. Schwindel, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden oder Muskelzuckungen
  • negativer Befund führt oft nur kurzfristig zu Beruhigung
  • Cyberchondrie: Hypochondrie-Form, die durch Informationen aus dem Internet ausgelöst wird

Anamnese & Diagnostik

  • Erkrankung wird oft spät diagnostiziert, da Patient*innen i.d.R. zunächst unterschiedliche Fachärzt*innen wegen körperlicher Beschwerden aufsuchen
  • wenn körperliche Ursachen ausgeschlossen sind und nach 3 Monaten keine Besserung besteht –> Untersuchung durch Spezialist*in im Bereich der Psychiatrie bzw. Psychosomatik

Anamnese

  • Art der Ängste (z.B. Befürchtung bzgl. Krebs, AIDS oder einer schweren Herzerkrankung oder bald zu sterben)
  • Grundstimmung
  • bisherige Entwicklung der Erkrankung
  • aktuelle Lebensumstände und Lebensstil
  • familiäre Belastungen
  • weitere psychische und/oder körperliche Erkrankungen
  • körperliche Beschwerden

Untersuchung/Diagnostik

  • ausführliche körperliche Untersuchung (zum Ausschluss körperlicher Ursachen)
  • Monitoring mit EKG, RR, SpO2, BZ, Temperatur
  • Laboruntersuchung (z. B. Blutbild, Schilddrüsenhormone)
  • ggf. weitere Untersuchungen bei Spezialist*innen

Komorbiditäten

  • Angst/Angststörung/Panikstörung
  • Depression
  • Schlafstörungen
  • paranoide Psychose
  • Somatisierungsstörung

Differentialdiagnosen

  • Depression
  • Wahnstörung
  • Zwangsstörung
  • Schizophrenie
  • Angststörung
  • Konversionsstörung
  • Simulation

Therapie

  • Aufbau einer unterstützenden, vertrauensvollen Beziehung zwischen Behandler*innen und Patient*in
  • kognitive Verhaltenstherapie (KVT) als Behandlung der 1. Wahl
  • Behandlung mit SSRI ggf. hilfreich bei Komorbiditäten wie Depression, Angststörung oder wahnhafter Störung

Behandlungsziele (i.d.R. individuell angepasst)

  • Verständnis für Zusammenhänge der Erkrankung entwickeln (z. B. Teufelskreis der Angst)
  • besserer Umgang mit Erkrankung (mit/trotz der Beschwerden)
  • Vermittlung der Gewissheit, dass sich durch die Therapie die Beschwerden lindern werden und die Lebensqualität verbessern wird
  • Selbstwirksamkeit erlernen und erleben, also beeinflussen zu können, wie es einem geht
  • körperlich aktiv bleiben
  • (Wieder)Aufnahme sozialer Kontakte
  • Regeneration & Entspannung erlernen

Prognose

  • Verlauf oft unterschiedlich
  • Spontanheilung ist selten, wenn Beschwerden länger als 12 Monate andauern
  • Heilung bei 30 – 50 % der Betroffenen mit hoher Erfolgsrate bei KVT
  • Erkrankung kann ohne eine entsprechende Behandlung lebenslang andauern, dann unterziehen sich viele Erkrankte oft ohne Erfolg zahlreichen Untersuchungen und Behandlungsversuchen

Quellen

Published inIm Notfall Psychiatrie

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