veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) & Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN)
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 28.02.2025
Ablaufdatum: 28.02.2026
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/038-013
Grundsätzliches
- Bevölkerungsprävalenz
- insgesamt 10,5 % der deutschen Bevölkerung im Alter ≥ 65 Jahren an Demenz erkrankt (bezogen auf dt. Wohnbevölkerung am 31.12.2020, entspricht das etwa 1,8 Millionen Personen)
- Frauen sind häufiger betroffen als Männer, v.a. aufgrund höherer Lebenserwartung und damit einhergehenden höheren Anteils weiblicher Personen in den höchsten Altersgruppen
- mit Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge der 1950er- und 1960er-Jahre in die höheren Altersgruppen und weiterem Anstieg der Lebenserwartung gehen Schätzungen in Abhängigkeit von Prognoseannahmen im Jahr 2060 von 1.600.000 – 3.300.000 Menschen mit Demenz
- zum Zeitpunkt des Todes leiden im Alter ≥ 85 Jahren über 50 % an einer Demenz, wobei Prognosen zum Krankheitsgeschehen am Lebensende zeigen, dass das Demenzsyndrom bis zum Jahr 2060 die häufigste bestehende Erkrankung zum Zeitpunkt des Todes sein könnte
- altersspezifische Prävalenz
- Demenzerkrankungen nehmen mit steigendem Alter exponentiell zu
- während im Alter < 65 Jahre ca. 0,1 % der Bevölkerung von Demenz betroffen ist, steigt der Wert auf ca. 13 – 16 % im Alter von 80 – 84 Jahren
- im Alter ≥ 100 Jahren sind 49 – 58 % an einer Demenz erkrankt
- häufigste Ursache für Demenzsyndrom ist mit 60 – 80 % Alzheimer-Krankheit, gefolgt von vaskulärer Demenz mit ca. 5 – 10 % (seltenere Ursachen sind u.a. Demenz bei Parkinson-Krankheit, Demenz mit Lewy-Körpern oder frontotemporale Demenz, wobei mit steigendem Alter Mischpathologien immer häufiger vorkommen)
- altersspezifische Inzidenz
- Inzidenz von Demenzerkrankungen, welche die Anzahl der Neuerkrankungen auf die Bevölkerung bezieht, nimmt exponentiell mit dem Alter zu
- basierend auf AOK-Abrechnungsdaten, ergaben sich für den Zeitraum 2016/2017 0,14 neue Demenzerkrankungen je 100 Personen im Alter von 50 – 64 Jahren
- für die Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen liegt dieser Wert in deutschen wie internationalen Studien bei 0,2 bis 0,6 Neuerkrankungen
- Inzidenz steigt auf 4,2 bis 9,7 Neuerkrankungen im Alter von 85 bis 89 Jahren an
- Dauer der Krankheitsstadien (Alzheimer-Krankheit)
- gesamte durchschnittliche Erkrankungsdauer von etwa 12 – 24 Jahren mit
- 2 – 15 Jahren in der präklinischen Phase
- 3 – 7 Jahren in der prodromalen Phase
- 2 – 6 Jahren im milden Stadium
- 1 – 7 Jahren im moderaten bzw. schweren Stadium
- je älter die Betroffenen, desto kürzer sind die einzelnen Krankheitsphasen
- gesamte durchschnittliche Erkrankungsdauer von etwa 12 – 24 Jahren mit
Einwilligung, Einwilligungsfähigkeit & Aufklärung bei Menschen mit Demenz
- Diagnose einer Demenz schließt die Einwilligungsfähigkeit nicht prinzipiell aus
- zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit sollen die Bereiche Informationsverständnis, Krankheits- und Behandlungseinsicht, Urteilsvermögen und Kommunizieren einer Entscheidung bei der betroffenen Person beurteilt und diese Bewertungen in das Gesamturteil mit einbezogen werden
- Nutzung strukturierter Instrumente zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit, z.B. MacCAT-T (MacArthur Competence Assessment Tools for Treatment), ergänzend zur klinischen Bewertung der Einwilligungsfähigkeit in unklaren Fällen
- schriftliche Zusammenfassungen mit verständlichen inhaltlichen & visuellen Informationen im Aufklärungsgespräch unterstützend anbieten
- zeitlichen Rahmen für Aufklärung & Prüfung der Einwilligungsfähigkeit an das Tempo des Menschen mit Demenz anpassen und klare, in der Komplexität reduzierte Sprache einsetzen
- Anwendung von Entscheidungshilfen für Stellvertreter*innen von Menschen mit moderater bis schwerer Demenz
- Menschen mit Demenz und ggf. auch ihre Angehörigen über erhobene Befunde und ihre Bedeutung im ärztlichen Gespräch in einem der persönlichen Situation des Menschen mit Demenz und der Angehörigen angemessenen Rahmen aufklären (Orientierung bzgl. Art Inhalt der Aufklärung am individuellen Informationsbedarf und -wunsch sowie am Zustandsbild des Menschen mit Demenz; keine belastbare Evidenz für Vorteile manualisierter oder standardisierter Aufklärungen)
Kriterien der Einwilligungsfähigkeit
- Informationsverständnis: Verwendung geeigneter Fragen um zu prüfen, ob die Patient*innen ein eigenes Verständnis davon entwickeln können, worüber sie zu entscheiden haben und worin die Risiken und der potenzielle Nutzen bestehen (z.B. „Können Sie bitte mit eigenen Worten wiedergeben, was Sie verstanden haben?“)
- Krankheits- und Behandlungseinsicht: Verwendung geeigneter Fragen um zu prüfen, ob die Patient*innen erkennen, dass ihre physische/psychische Gesundheit eingeschränkt ist und dass Möglichkeiten zur Behandlung/Linderung der gesundheitlichen Problematik bestehen und angeboten werden (z.B.: „Wie beurteilen Sie aktuell Ihren Gesundheitszustand?“)
- Urteilsvermögen: Verwendung geeigneter Fragen um zu prüfen, die Patient*innen in der Lage sind, die erhaltenen Informationen und mgl. Behandlungsfolgen mit ihrer Lebenssituation, ihren Wertvorstellungen und Interessen in Verbindung zu bringen sowie diese zu gewichten und zu bewerten (z.B.: „Was sind aus Ihrer Sicht die Vorteile der Behandlung/Untersuchung für Sie?“)
- Kommunizieren einer Entscheidung: Prüfen, ob die Patient*innen eine Entscheidung treffen und kommunizieren können, wobei die kommunizierte Entscheidung daraufhin überprüft werden soll, ob sie freiwillig zustande gekommen ist, bezogen auf den jeweiligen Behandlungszeitpunkt und Behandlungsschritt (z.B.: „Könnten Sie mir bitte noch einmal klar sagen, welche Entscheidung Sie getroffen haben, nachdem wir alles besprochen haben?“)
Therapie
Behandlung von psychischen und Verhaltenssymptomen
- nicht pharmakologische Interventionen
- keine Evidenz für die Wirksamkeit nicht pharmakologischer Interventionen zur Behandlung der Angst bei Demenz
- keine Evidenz für die Wirksamkeit nicht pharmakologischer Interventionen zur Behandlung von Halluzinationen bei Demenz
- keine Evidenz für die Wirksamkeit nicht pharmakologischer Interventionen zur Behandlung von Psychose (Wahn) bei Demenz
- personalisierte Aktivierung oder Musiktherapie oder Berührungstherapie bei agitiertem Verhalten (angetriebenes, unruhiges Verhalten und Aggression)
- keine Evidenz für die Wirksamkeit nicht pharmakologischer Interventionen zur Behandlung von unangemessenem Verhalten oder Enthemmung bei Demenz
- medikamentöse Therapie
- keine durch höherwertige Evidenz gesicherte medikamentöse Behandlungsempfehlungen für die Therapie von Angst und Angststörungen bei Menschen mit Demenz
- im Fall medikamentöser Behandlungsnotwendigkeit von psychotischen Symptomen (Wahn, Halluzinationen) bei Demenz Einsatz von Risperidon als Mittel der 1. Wahl oder Haloperidol als Mittel der 2. Wahl zeitlich begrenzt und in möglichst geringer Dosis
- Risperidon ist zugelassen für aggressives Verhalten bei Alzheimer-Demenz, bei dem nicht pharmakologische Behandlungen nicht ausreichend wirksam sind und ein Risiko für Eigen-oder Fremdgefährdung besteht (CAVE: spezifische Zulassung zur Behandlung von Psychose bei Demenz besteht nicht)
- Haloperidol ist zur Behandlung psychotischer Symptome bei Alzheimer-Demenz, die durch nicht pharmakologische Behandlungen nicht ausreichend gemildert werden können und durch die ein Risiko für Eigen- oder Fremdgefährdung besteht, zugelassen
- Einsatz von Clozapin bei psychotischen Symptomen bei Demenz mit Lewy-Körpern oder bei M. Parkinson im Fall einer pharmakologischen Behandlungsbedürftigkeit
- Einsatz von Risperidon als Mittel der 1. Wahl oder Haloperidol als Mittel der 2. Wahl zeitlich begrenzt bei pharmakologisch behandlungsbedürftigem agitiertem oder aggressivem Verhalten (alternativ Behandlung mit Citalopram erwägen)
- Verweis auf die DGPPN-S2k-Leitlinie „Notfallpsychiatrie“ bzgl. der Empfehlung der Gabe von Risperidon als orale Medikation besonders zur Notfallbehandlung von älteren Menschen mit Demenz (alternativ Haloperidol i. m. sowie niederpotente Antipsychotika wie Melperon und Pipamperon aufgrund der fehlenden anticholinergen Nebenwirkungen)
- keine durch höherwertige Evidenz gesicherte medikamentöse Behandlungsempfehlung für die Behandlung von unangemessenem oder enthemmtem Verhalten
- Behandlung gemäß Leitlinienstandards bei Epilepsie bei Demenz
Erkennung von Schmerzen
- bei Menschen mit Demenz zusätzlich zur klinischen Beurteilung ein regelmäßiges Schmerzscreening durch geschultes Personal durchzuführen; vorzugsweise mit validierten Skalen und durch Personen, die mit der betroffenen Person vertraut sind (für die einzelnen Schmerzskalen Veweis auf DGG-S1-LL „Geriatrisches Assessment“)
- keine Behandlung mit Schmerzmedikamenten ohne spezifische Schmerzindikation bei Menschen mit Demenz
Palliativversorgung
- zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit fortgeschrittener Demenz regelmäßige Durchführung nichtmedikamentöser und medikamentöser Maßnahmen der Palliativversorgung zur Linderung belastender Symptome wie Schmerz, Dyspnoe & Schluckstörung
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