Ertrinken ist im zivilen Bereich in über 90 % der Fälle vermeidbar
jährlich sterben 360.000 bis mehr als 500.000 Zivilist*innen durch unbeabsichtigtes Ertrinken (CAVE: Bootsunfälle und Unfälle im Zusammenhang mit Naturkatastrophen nicht berücksichtigt)
weltweit sind Kinder im Alter von 1 – 4 Jahren am häufigsten von Ertrinken betroffen, gefolgt von Kindern im Alter von 5 – 9 Jahren
bei Jungen ist die Wahrscheinlichkeit durch Ertrinken zu sterben doppelt so hoch
häufigste Todesursache oder ein mitbestimmender Faktor bei Sporttauchern (100 – 150 pro Jahr in den USA)
primäre Ätiologie des Todes ggf. schwierig zu bestimmen, da die Unterscheidung zwischen Fehlfunktion der Ausrüstung und medizinischen Notfall schwierig sein kann
keine Nutzung des Begriffs „Beinahe-Ertrinken“ –> korrekte Terminologie umfasst „nicht-tödliches Ertrinken“ und „tödliches Ertrinken“
Pathophysiologie
Ertrinken = Verlegung des Atemwegs durch Wasser aus verschiedenen Gründen
fortschreitende Aspiration von Wasser kann zu Hypoxämie führen –> bei Bewusstseinsverlust kann die anhaltende Hypoxämie zu Bradykardie und Herzstillstand führen
Aspiration von Wasser kann in der Lunge zur Auswaschung & Zerstörung des alveolären Surfactants führen, was eine schwere Hypoxie, eine Derekrutierung der Alveolen, eine verringerte pulmonale Compliance und nicht-kardiales Lungenödem zur Folge hat (CAVE: erschwerte maschinelle Beatmung)
pathophysiologischer Abläufe (Mechanismen des Ertrinkens)
Atemwege unterhalb Wasseroberfläche → Atemstillstand (Unfähigkeit, dem Atemdrang aufgrund von Hyperkapnie und Hypoxämie zu widerstehen) → fortschreitende Aspiration und nachfolgende Hypoxämie → Bewusstseinsverlust (LOC) → Apnoe und passive Flutung der Atemwege → Bradykardie → Herzstillstand
Aspiration führt zu Surfactant-Auswaschung/Zerstörung, erhöhter alveolärer Oberflächenspannung und verminderter Integrität der Alveolar-Kapillarmembran, Atelektase/Derekrutierung und Zerstörung der Alveolar-Kapillarmembran → unregulierte Flüssigkeitsverschiebungen, die zu einem nicht-kardialen Lungenödem und verminderter pulmonaler Compliance führen (~ 10 – 40 % bei nur 1 – 3 cc/kg Wasser) → Rechts-Links-Shunt, der zu Hypoxämie führt
Eintauchen in kaltes Wasser → unbeabsichtigtes Schnappen nach Luft („Kälteschockreaktion“) → Tachypnoe, Vasokonstriktion, Tachykardie durch Sympathikusanstieg → Arrhythmien (v.a. bei Patient*innen mit Long-QT-Syndrom) oder parasympathisch vermittelte Bradykardie („Tauchreaktion“), verändertes Bewusstsein, verminderte Kraft und Koordination (erwartete Überlebenszeiten in kaltem Wasser siehe Tabelle)
Wassertemperatur
Zeit bis Erschöpfung oder Bewusstlosigkeit
erwartete Überlebenszeit
> 27 °C
offen
offen
21 – 27 °C
3 – 12 h
3 h – offen
16 – 21 °C
2 – 7 h
2 – 40 h
10 – 16 °C
1 – 2 h
1 – 6 h
4 – 10 °C
30 – 60 min
1 – 3 h
0 – 4 °C
15 – 30 min
30 – 90 min
< 0 °C
< 15 min
10 – 45 min
Phasen des Managements des Ertrinkens
initiale Maßnahmen
Spezialkräfte/weitere Hilfe anfordern und Patient*in auffordern, sich aus der Gefahr zu entfernen
Patient*in. so lagern, dass sich Kopf und Füße auf gleicher Höhe befinden
wenn Patient*in bewusst und ohne Atmung –> 5 initiale Beatmungen als Rekrutierungsmanöver, dann normales Vorgehen gemäß CPR-/OHCA-Algorithmen
Unterstützung der Atmung mit verfügbaren Hilfsmitteln (Sauerstoff, Beutelventilmaske etc.)
CAVE: erhöhtes Risiko für Erbrechen bei Ertrinkungsopfern durch Beatmung und HLW (bei 65 %, die beatmet werden mussten, und 88 %, die eine Herzdruckmassage erhielten)
erweiterte präklinische Versorgung
Airway
Überprüfung der Atemwege, bei Bedarf Entfernung von Fremdkörper (z.B. Sand oder Seetang)
bei Bewusstlosigkeit und fehlenden Schutzreflexen –> stabile Seitenlage
wenn notwendig, frühzeitige Intubation in Betracht ziehen, da Beutel-Maske-Beatmung erhöhtes Risiko für Erbrechen darstellt)
keine Nutzung von supraglottischen Atemwegshilfen (erhöhter Druck in den Atemwegen)
Anlage Magensonde bei stabilisierten, intubierten Patient*innen
Breathing
5 initiale Beatmungen als Rekrutierungsmanöver bei Bewusstlosigkeit und Atemstillstand
bei Spontanatmung schnellstmögliche Gabe von O2 (15 L/min)
frühzeitige Nutzung von von positivem Druck zur Aufrechterhaltung des PEEP erwägen
Kopfüberstreckung vermeiden und KEIN Heimlich-Manöver (Bauchstöße), da sie Ventilation verringern und Risiko von Erbrechen erhöhen
Ziel-SpO2 bei 92 – 96 %
Circulation
normales Vorgehen gemäß CPR-/OHCA-Algorithmen bei fehlenden Pulsen bei Patient*innen mit Atemstillstand und/oder Ertrinken < 60 min ohne offensichtliche/sichere Todeszeichen (CAVE: auch wenn Pulse aufgrund von Unterkühlung oder Hypotonie schwer zu ertasten sind)
häufigste Rhythmusstörungen sind Asystolie und pulslose elektrische Aktivität, daher Defi/AED-Anlage nur, wenn dadurch Herzdruckmassage und Beatmung nicht verzögert oder beeinträchtigt wird (schockbareRhythmen, also Kammerflimmern oder ventrikuläre Tachykardie, treten bei < 6 % auf und haben bessere Prognose)
Anlage venöser Zugang oder alternativ i.o.-Zugang, wenn i.v. nicht möglich
keine Applikation von Medikamenten über Endotrachealtubus bei Ertrinkungsopfern
Gabe kristalloider Lösung in Betracht ziehen, da intravaskulärer Volumenverlust und volumenabhängige Hämodynamik, v.a. bei maschineller Beatmung (bei hypothermen Patient*innen erwärmte intravenöse Flüssigkeiten mit 43 °C erwägen; CAVE: Volumengabe mit Bedacht, da erhöhtes Risikos für nicht-kardiales Lungenödem)
viele ACLS-Maßnahmen wie z.B. Atropin-, Lidocain-Gabe oder Defibrillation sind bei niedrigen Körperkerntemperaturen unwirksam (keine Antiarrhythmika-Gabe bei einer KKT < 30 °C)
Schwerpunkt sollte auf Herzdruckmassage und Beatmung zur Aufrechterhaltung der Perfusion liegen
Disability
initiale GCS-Bestimmung
andere Ursachen als Hypoxämie für Bewusstseinsverlust in Betracht ziehen, wenn Ertrinken unbeobachtet und Bewusstseinsverlust anhaltend (z.B. SHT, Intoxikation, arterielle Gasembolie)
bei V.a. arterielle Gasembolie: Benachrichtigung des Überdruckkammerteams
keine Nutzung von Maßnahmen wie Gabe hyperosmolare Substanzen (z.B. Mannitol oder hypertone Kochsalzlösung), Hyperventilation, Barbituratkoma, Hirndrucküberwachung)
Ziel-BZ bei beatmeten Patient*innen: 80 – 140 mg/dL
Environment
bevorzugte Methode der Temperaturmessung ist Messung der Körperkerntemperatur
Hypothermie-Management
leichte Hypothermie (34 – 35 °C): passive Wiedererwärmung, also warme Decken und Umgebung
schwere Hypothermie (< 30 °C): aktive interne Wiedererwärmung, wenn verfügbar (Peritoneallavage, Ösophagus-Wiedererwärmungsschläuche, Bypass, extrakorporaler Kreislauf; ECMO erwägen); ACLS-Medikamente erst, wenn Temperatur > 30 °C
Beendigung von Wiederbelebungsmaßnahmen
bei Ertrinken > 60 Minuten keine Rettung, sondern nur noch Körperbergung
bei nicht-hypothermen Patient*innen kann Wiederbelebung nach 30 min HLW ohne ROSC eingestellt werden
bei hypothermen Patient*innen Wiederbelebung fortsetzen bis die/der Patient*in wieder auf 30 – 34 °C erwärmt ist, dann HLW fortsetzen –> Wiederbelebung kann eingestellt werden, wenn Asystolie länger als 20 Minuten besteht
Dauer des Eintauchens korreliert mit Mortalitätsrisiko oder Risiko schwerer neurologischer Beeinträchtigungen wie folgt:
0 – 5 min – 10 %
6 – 10 min – 56 %
11 – 25 min – 88 %
> 25 min – fast 100 %
Versorgung in der Notaufnahme/auf der Intensivstation
bei Ankunft rasche körperliche Untersuchung und Ausschluss traumatischer Verletzungen
Durchführung Primary und Secondary Surves mit Fokus auf Atemwegssicherung, angemessene Sauerstoffzufuhr, Sicherung der hämodynamischen Stabilität, Magendekompression, Wärme-Management und Identifizierung begleitender traumatischer Verletzungen
initiale Diagnostik bestehend aus Thorax-Röntgen, EKG, Anlage Blasenkatheter zur Steuerung der Volumentherapie sowie bei anhaltender Bewusstlosigkeit CT von Kopf & Hals
zusätzliche FAST-Sonographie bei allen Ertrinkungsopfern ohne Anzeichen eines Traumas
bei bewusstlosen Patient*innen zusätzlich zum CT von Kopf & Hals Röntgenbild des Beckens, da Beckenfraktur eine bedeutende Blutungsquelle darstellen kann
bei anhaltender Hypotonie ohne Anzeichen eines Traumas zusätzliches ein CT des Rumpfes (Brust, Bauch und Becken)
bei Patient*innen mit Drowning Severity Grade ≤ 2 Beobachtung in ZNA oder auf Beobachtungsstation für 4 – 6 Stunden (GCS > 13, Oxygenierung mit ≤ 2 L O2, ggf. Husten oder Rasselgeräusche bei Auskultation)
bei Patient*innen mit Drowning Severity Grade 3 – 6 Aufnahme auf ITS (nicht ansprechbar, erhebliches Lungenödem oder Atemstillstand, Schockzustand)
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