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Leitlinie „Drowning Management“ des JTS

veröffentlichende Fachgesellschaft: Joint Trauma System – Department of Defense Center of Excellence for Trauma (JTS)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 09.04.2025
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://jts.health.mil/assets/docs/cpgs/Drowning_Management_17_Mar_2025_ID64.pdf

Grundsätzliches

  • Ertrinken ist im zivilen Bereich in über 90 % der Fälle vermeidbar
  • jährlich sterben 360.000 bis mehr als 500.000 Zivilist*innen durch unbeabsichtigtes Ertrinken (CAVE: Bootsunfälle und Unfälle im Zusammenhang mit Naturkatastrophen nicht berücksichtigt)
  • weltweit sind Kinder im Alter von 1 – 4 Jahren am häufigsten von Ertrinken betroffen, gefolgt von Kindern im Alter von 5 – 9 Jahren
  • bei Jungen ist die Wahrscheinlichkeit durch Ertrinken zu sterben doppelt so hoch
  • häufigste Todesursache oder ein mitbestimmender Faktor bei Sporttauchern (100 – 150 pro Jahr in den USA)
  • primäre Ätiologie des Todes ggf. schwierig zu bestimmen, da die Unterscheidung zwischen Fehlfunktion der Ausrüstung und medizinischen Notfall schwierig sein kann
  • keine Nutzung des Begriffs „Beinahe-Ertrinken“ –> korrekte Terminologie umfasst „nicht-tödliches Ertrinken“ und „tödliches Ertrinken“

Pathophysiologie

  • Ertrinken = Verlegung des Atemwegs durch Wasser aus verschiedenen Gründen
  • fortschreitende Aspiration von Wasser kann zu Hypoxämie führen –> bei Bewusstseinsverlust kann die anhaltende Hypoxämie zu Bradykardie und Herzstillstand führen
  • Aspiration von Wasser kann in der Lunge zur Auswaschung & Zerstörung des alveolären Surfactants führen, was eine schwere Hypoxie, eine Derekrutierung der Alveolen, eine verringerte pulmonale Compliance und nicht-kardiales Lungenödem zur Folge hat (CAVE: erschwerte maschinelle Beatmung)
  • pathophysiologischer Abläufe (Mechanismen des Ertrinkens)
    • Atemwege unterhalb Wasseroberfläche → Atemstillstand (Unfähigkeit, dem Atemdrang aufgrund von Hyperkapnie und Hypoxämie zu widerstehen) → fortschreitende Aspiration und nachfolgende Hypoxämie → Bewusstseinsverlust (LOC) → Apnoe und passive Flutung der Atemwege → Bradykardie → Herzstillstand
    • Aspiration führt zu Surfactant-Auswaschung/Zerstörung, erhöhter alveolärer Oberflächenspannung und verminderter Integrität der Alveolar-Kapillarmembran, Atelektase/Derekrutierung und Zerstörung der Alveolar-Kapillarmembran → unregulierte Flüssigkeitsverschiebungen, die zu einem nicht-kardialen Lungenödem und verminderter pulmonaler Compliance führen (~ 10 – 40 % bei nur 1 – 3 cc/kg Wasser) → Rechts-Links-Shunt, der zu Hypoxämie führt
    • Eintauchen in kaltes Wasser → unbeabsichtigtes Schnappen nach Luft („Kälteschockreaktion“) → Tachypnoe, Vasokonstriktion, Tachykardie durch Sympathikusanstieg → Arrhythmien (v.a. bei Patient*innen mit Long-QT-Syndrom) oder parasympathisch vermittelte Bradykardie („Tauchreaktion“), verändertes Bewusstsein, verminderte Kraft und Koordination (erwartete Überlebenszeiten in kaltem Wasser siehe Tabelle)
WassertemperaturZeit bis Erschöpfung oder Bewusstlosigkeiterwartete Überlebenszeit
> 27 °Coffenoffen
21 – 27 °C3 – 12 h3 h – offen
16 – 21 °C2 – 7 h2 – 40 h
10 – 16 °C1 – 2 h1 – 6 h
4 – 10 °C30 – 60 min1 – 3 h
0 – 4 °C15 – 30 min30 – 90 min
< 0 °C< 15 min10 – 45 min

Phasen des Managements des Ertrinkens

initiale Maßnahmen

  • Spezialkräfte/weitere Hilfe anfordern und Patient*in auffordern, sich aus der Gefahr zu entfernen
  • Patient*in. so lagern, dass sich Kopf und Füße auf gleicher Höhe befinden
  • wenn Patient*in bewusst und ohne Atmung –> 5 initiale Beatmungen als Rekrutierungsmanöver, dann normales Vorgehen gemäß CPR-/OHCA-Algorithmen
  • Unterstützung der Atmung mit verfügbaren Hilfsmitteln (Sauerstoff, Beutelventilmaske etc.)
  • CAVE: erhöhtes Risiko für Erbrechen bei Ertrinkungsopfern durch Beatmung und HLW (bei 65 %, die beatmet werden mussten, und 88 %, die eine Herzdruckmassage erhielten)

erweiterte präklinische Versorgung

  • Airway
    • Überprüfung der Atemwege, bei Bedarf Entfernung von Fremdkörper (z.B. Sand oder Seetang)
    • bei Bewusstlosigkeit und fehlenden Schutzreflexen –> stabile Seitenlage
    • wenn notwendig, frühzeitige Intubation in Betracht ziehen, da Beutel-Maske-Beatmung erhöhtes Risiko für Erbrechen darstellt)
    • keine Nutzung von supraglottischen Atemwegshilfen (erhöhter Druck in den Atemwegen)
    • Anlage Magensonde bei stabilisierten, intubierten Patient*innen
  • Breathing
    • 5 initiale Beatmungen als Rekrutierungsmanöver bei Bewusstlosigkeit und Atemstillstand
    • bei Spontanatmung schnellstmögliche Gabe von O2 (15 L/min)
    • frühzeitige Nutzung von von positivem Druck zur Aufrechterhaltung des PEEP erwägen
    • Kopfüberstreckung vermeiden und KEIN Heimlich-Manöver (Bauchstöße), da sie Ventilation verringern und Risiko von Erbrechen erhöhen
    • Ziel-SpO2 bei 92 – 96 %
  • Circulation
    • normales Vorgehen gemäß CPR-/OHCA-Algorithmen bei fehlenden Pulsen bei Patient*innen mit Atemstillstand und/oder Ertrinken < 60 min ohne offensichtliche/sichere Todeszeichen (CAVE: auch wenn Pulse aufgrund von Unterkühlung oder Hypotonie schwer zu ertasten sind)
    • häufigste Rhythmusstörungen sind Asystolie und pulslose elektrische Aktivität, daher Defi/AED-Anlage nur, wenn dadurch Herzdruckmassage und Beatmung nicht verzögert oder beeinträchtigt wird (schockbareRhythmen, also Kammerflimmern oder ventrikuläre Tachykardie, treten bei < 6 % auf und haben bessere Prognose)
    • Anlage venöser Zugang oder alternativ i.o.-Zugang, wenn i.v. nicht möglich
    • keine Applikation von Medikamenten über Endotrachealtubus bei Ertrinkungsopfern
    • Gabe kristalloider Lösung in Betracht ziehen, da intravaskulärer Volumenverlust und volumenabhängige Hämodynamik, v.a. bei maschineller Beatmung (bei hypothermen Patient*innen erwärmte intravenöse Flüssigkeiten mit 43 °C erwägen; CAVE: Volumengabe mit Bedacht, da erhöhtes Risikos für nicht-kardiales Lungenödem)
    • viele ACLS-Maßnahmen wie z.B. Atropin-, Lidocain-Gabe oder Defibrillation sind bei niedrigen Körperkerntemperaturen unwirksam (keine Antiarrhythmika-Gabe bei einer KKT < 30 °C)
    • Schwerpunkt sollte auf Herzdruckmassage und Beatmung zur Aufrechterhaltung der Perfusion liegen
  • Disability
    • initiale GCS-Bestimmung
    • andere Ursachen als Hypoxämie für Bewusstseinsverlust in Betracht ziehen, wenn Ertrinken unbeobachtet und Bewusstseinsverlust anhaltend (z.B. SHT, Intoxikation, arterielle Gasembolie)
      • bei V.a. arterielle Gasembolie: Benachrichtigung des Überdruckkammerteams
    • keine Nutzung von Maßnahmen wie Gabe hyperosmolare Substanzen (z.B. Mannitol oder hypertone Kochsalzlösung), Hyperventilation, Barbituratkoma, Hirndrucküberwachung)
    • Ziel-BZ bei beatmeten Patient*innen: 80 – 140 mg/dL
  • Environment
    • bevorzugte Methode der Temperaturmessung ist Messung der Körperkerntemperatur
    • Hypothermie-Management
      • leichte Hypothermie (34 – 35 °C): passive Wiedererwärmung, also warme Decken und Umgebung
      • mäßige Hypothermie (30 – 34 °C): aktive externe Wiederaufwärmung, sofern verfügbar (d.h. Heizdecken, Wärmestrahlung, forcierte Heißluftnutzung, erwärmte i.v.-Lösungen mit 43 °C, Wärmepacks)
      • schwere Hypothermie (< 30 °C): aktive interne Wiedererwärmung, wenn verfügbar (Peritoneallavage, Ösophagus-Wiedererwärmungsschläuche, Bypass, extrakorporaler Kreislauf; ECMO erwägen); ACLS-Medikamente erst, wenn Temperatur > 30 °C
  • Beendigung von Wiederbelebungsmaßnahmen
    • bei Ertrinken > 60 Minuten keine Rettung, sondern nur noch Körperbergung
    • bei nicht-hypothermen Patient*innen kann Wiederbelebung nach 30 min HLW ohne ROSC eingestellt werden
    • bei hypothermen Patient*innen Wiederbelebung fortsetzen bis die/der Patient*in wieder auf 30 – 34 °C erwärmt ist, dann HLW fortsetzen –> Wiederbelebung kann eingestellt werden, wenn Asystolie länger als 20 Minuten besteht
    • Dauer des Eintauchens korreliert mit Mortalitätsrisiko oder Risiko schwerer neurologischer Beeinträchtigungen wie folgt:
      • 0 – 5 min – 10 %
      • 6 – 10 min – 56 %
      • 11 – 25 min – 88 %
      • > 25 min – fast 100 %

Versorgung in der Notaufnahme/auf der Intensivstation

  • bei Ankunft rasche körperliche Untersuchung und Ausschluss traumatischer Verletzungen
  • Durchführung Primary und Secondary Surves mit Fokus auf Atemwegssicherung, angemessene Sauerstoffzufuhr, Sicherung der hämodynamischen Stabilität, Magendekompression, Wärme-Management und Identifizierung begleitender traumatischer Verletzungen
  • initiale Diagnostik bestehend aus Thorax-Röntgen, EKG, Anlage Blasenkatheter zur Steuerung der Volumentherapie sowie bei anhaltender Bewusstlosigkeit CT von Kopf & Hals
  • zusätzliche FAST-Sonographie bei allen Ertrinkungsopfern ohne Anzeichen eines Traumas
  • bei bewusstlosen Patient*innen zusätzlich zum CT von Kopf & Hals Röntgenbild des Beckens, da Beckenfraktur eine bedeutende Blutungsquelle darstellen kann
  • bei anhaltender Hypotonie ohne Anzeichen eines Traumas zusätzliches ein CT des Rumpfes (Brust, Bauch und Becken)
  • notwendige Labor-Diagnostik: BGA (arteriell/venös), großes Blutbild, umfassendes Stoffwechselpanel, Glukose, Troponin I, Prothrombinzeit/partielle Thromboplastinzeit, Urinuntersuchung (u.a. Myoglobin, Drogenscreening), Kreatinkinase, Blutalkohol
  • Entlasskriterien
    • initial Erhebung Drowning Severity Grades (siehe Tabelle)
    • bei Patient*innen mit Drowning Severity Grade ≤ 2 Beobachtung in ZNA oder auf Beobachtungsstation für 4 – 6 Stunden (GCS > 13, Oxygenierung mit ≤ 2 L O2, ggf. Husten oder Rasselgeräusche bei Auskultation)
    • bei Patient*innen mit Drowning Severity Grade 3 – 6 Aufnahme auf ITS (nicht ansprechbar, erhebliches Lungenödem oder Atemstillstand, Schockzustand)
GradSymptomeMortalität
1Husten0 %
2Rasseln1 %
3Lungenödem4 – 5 %
4Lungenödem +Schock18 – 22 %
5Apnoe +Puls31 – 44 %
6Apnoe ohne Puls88 – 93 %

Algorithmus

Published inLeitlinien kompakt

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