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Was ist eigentlich… Body Integrity Identity Disorder (BIID)?

Grundsätzliches

Bei der Körper-Integritäts-Identitätsstörung (engl. Body Integrity Identity Disorder, BIID) handelt es sich laut ICD-11 um ein psychiatrisches Krankheitsbild, bei welchem der intensive und persistierenden Wunsch besteht „in bedeutsamer Weise körperlich behindert zu sein (z.B. Amputation einer großen Gliedmaße, Querschnittslähmung, Erblindung)“. Die BIID ist auch unter den Bezeichnungen Körperintegritätsdysphorie, Amputations-Identitätsstörung, Body Incongruence Disorder bzw. Body Integrity Dysphoria (BID), Xenomelie, Apotemnophilia oder Amputee Identity Disorder (AID) bekannt, wobei hier zu betonen ist das manche der Bezeichnungen sich rein auf den Wunsch nach einer Amputation beziehen. Dieser krankhafte Wunsch eine Behinderung zu erlangen besteht i.d.R. bei Personen mit einem anatomisch gesunden Körper, welche unter dem Gefühl leiden, dass z.B. eine Extremität nicht zum eigenen Körper oder dem eigenen „Selbst“ gehört.

Bekanntheit erlange die BIID vor allem durch den schottischen Chirurg Dr. Robert Smith, welcher 1997 sowie 1999 zwei BIID-Patient*innen jeweils ein gesundes Bein amputierte. Im Nachgang zu diesen Fällen verbot die britische Ärztekammer ab 2000 solche Eingriffe bei Patient*innen mit einer Körper-Integritäts-Identitätsstörung. Aber auch berühmte Personen wie Billie Eilish oder Robert Pattinson haben durch das öffentliche Sprechen über die BIID, diese mehr in den Blick der Öffentlichkeit gebracht.

Historisches

Die ersten Fallbeschreibungen zum Amputationswunsch gesunder Körperteil stammen aus den Jahren 1977 (Money et al.) und 1983 (Everaed et al.), jedoch wurde dieser Wunsch damals noch dem Formenkreis der Paraphilien zu gerechnet. Aus der Zeit um 1977 stammt auch die von Money geprägte Bezeichnung als „Apotemnophilia“, welche erst 2005 durch die in einer Studie von Michael B. First mit 52 Betroffenen gewählte Bezeichung Body Integrity Identity Disorder abgelöst wurde. In seiner vielbeachteten Studie konnte First auch zeigen, dass der Amputationswunsch bei vollständigem Bewusstsein besteht, um dadurch die Vervollständigung der eigenen Identität zu erreichen, und sich bei den betroffenen Personen keine vorlagen.

Epidemiologie

Hinsichtlich der Epidemiologie lässt sich sagen, dass die Datenlage sehr gering ist, sodass Schätzungen zu Prävalenz/Inzidenz kaum möglich sind, in Expertenkreisen wird jedoch von „mehreren Tausend Personen mit BIID“ weltweit ausgegangen. Aus diesem Grund nachfolgend einige epidemiologische Zahlen aus zwei größeren Studien, darunter die oben erwähnte Studie von First aus dem Jahr 2005.

First führte in seiner Arbeit „Desire for Amputation of a Limb: Paraphilia, Psychosis, or a New Type of Identity Disorder“ (2005) strukturierte, telefonische Befragungen bei 52 betroffenen Personen durch, welche im Durchschnitt 48 ± 6 Jahre alt waren (47 Männer, 4 Frauen, 1 intersexuelle Person). Die Studie ergab unter anderem die folgenden Ergebnisse:

  • 90 % hatten mindestens einen High School-Abschluss
  • 65 % befanden sich in einem festen Arbeitsverhältnissen
  • 61 % beschreiben sich als hetero-, 31 % als homo- und 7 % als bisexuell (60 % aktuell in intimer Beziehung)
  • 19 % geben das Gefühl an grundsätzlich das falsche Geschlecht zu haben („feeling of being in the body of the wrong sex“)
  • 63 % geben an durch die Amputation ihre wahre körperliche Identität zu erlangen
  • 15 % erklärten durch Gedanken an Amputation in besonderer Weise auch sexuell erregt zu sein (CAVE: sexuelle Erregung ist aber i.d.R. nicht Hauptgrund für Amputationswunsch; in 53 % der Fälle auch zweithäufigstes Motiv für Amputationswunsch)
  • erste Amputationswünsche i.d.R. in der Kindheit bzw. frühen Adoleszenz (bei 65 % < 8 Jahre; bei 98 % im Alter von 16 Jahren)
  • 56 % verspürten Faszination & positive Erregung und 87 % sexuelle Erregung bei Begegnung mit Personen mit körperlicher Behinderung wie Amputationen
  • 79 % waren aktuell frei von relevanten psychopathologischen Symptomen (jedoch bei 76 % depressive, Angst- und somatoforme Erkrankungen über die gesamte Lebensspanne; 48 % äußerten gelegentliche Suizidideen)
  • keine der befragten Person hatte jemals manische, wahnhafte, halluzinatorische Symptome
  • bei 29 % lagen zusätzlich verschiedene Paraphilien gemäß DSM vor
  • bei 9 Personen wurde Amputationen durchgeführt (3 chirurgisch, 6 selbst)
  • 44 % berichten von Problemen im psychosozialen Kontext und 44 % beschreiben emotionalen Distress wegen Amputationswunsch
  • 81 % erklärten keinen Wunsch nach weiteren körperlichen Behinderungen zu haben
  • 65 % hatten zuvor schon eine Psychotherapie wegen des Amputationswunsches und 60 % hatten verschiedene serotonerge Antidepressiva erhalten, jedoch wurden beide Therapieansätze von der großen Mehrheit als wenig hilfreich und nützlich eingestuft

Im Jahr 2012 führten Blom et al. eine Fragebogenerhebung bei 54 Betroffenen durch (79,6 % männlich, 96,3 % kaukasischer Herkunft, 64,8 % hatten Hochschulabschluss & Altersspanne von 18 – 76 Jahren). Die Untersuchung „Body Integrity Identity Disorder“ von Blom ergab beispielsweise die folgenden Ergebnisse:

  • Wunsch der Amputation einer oder mehrerer Gliedmaßen bevorzugten 55,6 % und 44,4 % wünschten sich eine andere Art der Behinderung wie z.B. Lähmungen, Klumpfüße o.Ä.
  • 27,8 % gaben Veränderung des Behinderungswunsches im Laufe der Zeit an (z.B. erst Beinamputation, dann Querschnittslähmung)
  • 70,0 % äußerten Wunsch nach Amputation auf der nicht dominanten 70,0 % äußerten den Wunsch nach einer Amputation auf der nicht dominanten Seite ihres Körperseite
  • körperliche Komorbiditäten waren über die gesamte Kohorte selten
  • erste Amputationswünsche i.d.R. in der frühen Kindheit bzw. vor der Adoleszenz
  • Hauptgrund für Körpermodifikation war der Wunsch sich vollständig zu fühlen, zweitrangig waren oftmals sexuelle Motive
  • Wunsch nach Amputation/Lähmung bezieht sich meist auf die unteren Gliedmaßen

Ätiologie

Hinsicht der möglichen Ursachen muss zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter unterschieden werden.

Wie schon erwähnt entsteht das subjektive, ideale Körperbild mit der mitinbegriffenen Behinderung i.d.R. im frühen Kindheitsalter und entwickelt sich ab dann sukzessive immer mehr in die Wunschvorstellung die jeweilige Form der Behinderung. Die Kindheit ist nicht selten geprägt von prädisponierenden/auslösenden, neurobiologische Faktoren (z.B. Dysfunktion des rechten superioren Parietallappen), kindlichen Lernerfahrungen (z.B. prägende Begegnungen mit behinderten Menschen) oder Auffälligkeiten in der elterlichen Erziehung (z.B. Wunsch nach Zuwendung bei mangelnder emotionaler Zuwendung).

Im Erwachsenenalter stehen dann eher Faktoren im Vordergrund, die die Faktoren aus der Kindheit aufrechterhalten, wie die Amputationsfantasien, welche zu einer Dopaminausschüttung führen aufgrund des Gefühls dadurch emotionale Zuwendung zu erhalten. Auch möglich ist ein Denken, welches geprägt ist von der Vorstellung, dass die Behinderung dafür sorgt im Job erfolgreich zu sein. Zuletzt dient das Denken an die Wunschamputation auch der Stressregulierung und sorgt kurzzeitig für ein gutes Gefühl.

Kurz gesagt besteht folgendes Erklärungsmodell: Versagensgefühle + weitere auslösende Faktoren in der Kindheit –> Fixierung auf sich selbst verbunden mit Wut und Enttäuschung –> Entwicklung des Amputationswunsches als Lösung für die Probleme

Die wahrscheinliche Hauptmotivation für den Wunsch der Behinderung ist die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und dem wahrgenommenen Körperschema. So besteht bei Betroffenen trotz des Vorhandenseins eines i.d.R. komplett gesunden Körpers das subjektive Gefühl das dieser nicht vollständig ist. Diese Vorstellung ist als überwertige Idee, also „Vorstufe“ eines unkorrigierbaren Wahns, einzugruppieren. Das spezifische Körperteil wird kategorisch kognitiv, aber nicht affektiv abgelehnt und als nicht vital empfunden.

Eine mögliche neuroanatomische Ursachen für eine BIID ist vermutlich eine Überaktivierung im rechten superioren Parietallapen, wie u.a. Untersuchungen von McGeoch et al. ergeben haben. Im rechten Parietallappen ist unser eigenes Körperbild verortet, also wie der eigene Körper aussehen sollte. Die rechtsparietalle Überaktivierung sorgt hier dann dafür, dass die Patient*innen Probleme mit der Integration von multimodalen sensorischen Informationen haben. Funktionelle magnetresonanztomographische Untersuchungen ergaben darüber hinaus folgende diskrete, aber statistisch signifikante Auffälligkeiten:

  • reduzierte kortikale Dicke im superioren parietalen Lobulus, in den primären und sekundären somatosensorischen Kortizes, im inferioren parietalen Lobulus, im anterioren insulären Kortex (alles in der rechten Hemisphäre)
  • erhöhte Dicke im Sulcus centralis
  • vergrößerte Oberfläche im inferioren parietalen Lobulus und im sekundären somatosensorischen Kortex (linke Hemisphäre)

Man kann also grundsätzlich sagen, je weniger graue Substanz im Scheitellappen, desto größer der Amputationwunsch von Gliedmaßen.

Symptomatik & Diagnose-Kriterien

Gemäß den ICD-11-Kriterien ist die BIID bzw. Körperintegritätsdysphorie gekennzeichnet durch die folgenden Punkte:

  • intensiver und anhaltender Wunsch, in bedeutsamer Weise körperlich behindert zu sein (z.B. Amputation einer großen Gliedmaße, Querschnittslähmung, Erblindung)
  • Wunsch tritt bereits in der frühen Adoleszenz auf
  • begleitet von anhaltendem Unbehagen oder intensiven Gefühlen der Unangemessenheit in Bezug auf die derzeitig nichtbehinderten Körperbereiche (Leidensdruck, Schamgefühl)
  • Wunsch hat schädliche Folgen durch starken Beschäftigung mit dem Amputationswunsch (z.B. aufgewendete Zeit, die damit verbracht wird, so zu tun, als sei man behindert; auch „Pretending“ genannt; Nutzung von Gehhilfen, Rollstuhl, Orthesen o.Ä.)
  • erhebliche Beeinträchtigung der Produktivität, der Freizeitaktivitäten oder der sozialen Funktionsfähigkeit (z.B. Person ist nicht bereit, eine enge Beziehung einzugehen, weil es schwierig wäre, eine Behinderung vorzugeben)
  • zusätzlich kann es zu Versuchen kommen, tatsächlich eine Behinderung zu erlangen, die die eigene Gesundheit/das eigene Leben in erhebliche Gefahr bringen können (Bau von Mini-Guillotinen, Nutzung elektrischer Sägen, Erfrierungen durch Trockeneis etc.
  • Krankheitsmuster lässt nicht besser durch andere psychische Störung, Verhaltensstörung oder Entwicklungsstörung des Nervensystems, Krankheit des Nervensystems oder anderen medizinischen Zustand oder durch Simulation erklären

Zusätzlich bestehen nicht selten psychiatrische Komorbiditäten wie Depressionen, soziale Angststörungen und/oder Suizidtendenzen.

Hinsichtlich relevanter Differenzialdiagnosen sind vor allem die neurologische Erkrankungen wie Hemineglect, Anosognosie, Asomatognosie, Somatoparaphrenie, Misoplegie, Cotard-Syndrom, Alien-Hand-Syndrom etc. zu nennen.

Therapie

Aktuell gibt es kein festes Therapieregime für die Behandlung der Body Integrity Identity Disorder. Was klar ist, dass eine Psychotherapie (i.d.R. Verhaltenstherapie) den psychischen Leidensdruck lindern kann, jedoch oftmals nur kurzzeitig und nicht mit ausreichendem Effekt. Medikamentös können Antidepressiva eingesetzt werden, um die mit der Körperdysmorphie verbundenen depressiven Symptome zu verringern. Eine relevante Minderung des Amputationswunsches durch Psychopharmaka ist bis auf Einzelfälle nicht berichtet.

Auch wenn die Vorfälle in Schottland mit den Amputationen durch den Chirurg Dr. Robert Smith einen großen Aufschrei auslösten und zu einem Verbot solcher Eingriffe in Großbritannien bei Patient*innen mit Körper-Integritäts-Identitätsstörung führten, konnte eine deutschen Untersuchungen von Noll et al. aus dem Jahr 2014 zeigen, dass keine*r der Patient*innen die Operation bedauerte und es in fast allen Lebensbereichen zu Besserungen kam. Die Studie ergab auch, dass Psychotherapie, Psychopharmaka und auch Entspannungstechniken wenig Wirkung hatten und sogar manchmal das Verlangen verstärkten. Hinsichtlich der Amputation ist aber zu betonen, dass diese die Ultima ratio darstellen und medizinethisch immer noch umstritten ist.

Notfallmedizinisch sind Patient*innen mit einer BIID unglaublich selten, aber hinsichtlich der Versuche, die Amputation bzw. Behinderung zu realisieren sind quasi keine Grenzen gesetzt.

Quellen

Published inIm Notfall Psychiatrie

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