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Leitlinie „Nachhaltigkeit in der Intensiv- und Notfallmedizin“ der DGIIN

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN)
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 25.06.2024
Ablaufdatum: 30.08.2028
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/113-004

Grundsätzliches

  • Klimawandel = größte globale Gefahr für die menschliche Gesundheit und existenzielle Bedrohung für die Menschheit
  • Gesundheitswesen ist global der Dienstleistungssektor mit den höchsten Treibhausgasemissionen
  • Klima-Fußabdruck des weltweiten Gesundheitswesens entspricht mit steigender Tendenz 4,4 % der globalen Nettoemissionen (2 Gt CO2-Äquivalent = jährliche Treibhausgasemissionen von 514 kohlebetriebenen Kraftwerken)
  • Treibhausgas-Fußabdruck des deutschen Gesundheitswesens 2019 lag bei 68.000.000 Tonnen CO2-Äquivalente (= 5,2 % des gesamten deutschen Treibhausgas-Fußabdrucks mit 750 Mio. tCO2e)
  • Deutschland weltweit auf Platz 10 bei den pro-Kopf-Emissionen

Empfehlungen

Organisationsstrukturen im KH/ITS/ ZNA

  • Einrichtung einer übergeordneten Stabsstelle für Nachhaltigkeit (in KH o.Ä.)
  • Einführung & Anwendung eines Bewertungskriteriums für Nachhaltigkeit im Einkauf von Medizinprodukten und Arzneimittel
  • enge Zusammenarbeit bzw. abteilungs- und fachübergreifende Abstimmung zum Thema Nachhaltigkeit zwischen Einkauf, Apotheke, Endnutzende, Hygiene und Abfallmanagement
  • elektronische PatientInnenakte, samt Integration ins digitale KMS (Krankenhausmanagementsystem)

Ressourcen- und Energie-Management

  • Energieverbrauch erfassen und geeignete Maßnahmen für den Umgang mit energieintensiven Geräten/Anwendungen identifizieren
  • nachhaltigeres Ressourcenmanagement durch das sogenannte „4 bzw. 5-R-Konzept”
    • R – Reduce (Reduktion)
    • R – Reuse (Wiederverwendung)
    • R – Recycle (Recycling)
    • R – Rethink (Überdenken)
    • R – Research (Forschung)
  • Einsatz von individuell angepassten, vorkonfektionierten Fertigsets (Empfehlung stützt sich hauptsächlich auf drei wesentliche Annahmen: optimale Zusammenstellung, Teamkonsens & Information sowie regelmäßige Überprüfung & Anpassung)
  • maximal konservative Lagerhaltung in Isolationszimmern sowie Festlegung, dass nach Isolationsende in Schränken gelagertes Material entsorgt werden muss, ist auf Erreger zu beschränken, die durch dieses potentiell auf nachfolgende PatientInnen übertragen werden, unter sorgfältigen Beachtung & Berücksichtigung der folgenden Punkte:
    • vorausschauende Isolationsmaßnahmen
    • Prüfung der Indikation der Isolationsmaßnahme
    • rechtzeitige Information der nachfolgenden Organisationseinheit vor Verlegung der Patient*innen
    • Prüfung der Aufbereitungs- & Entsorgungsmaßnahmen
    • sofern möglich Mitgabe der patient*innenbezogenen Medizinprodukte und Arzneimittel – sofern geeignete – bei Verlegung der Patient*nnen auf ein anderes Zimmer/ Station
  • effektive Recyclingpläne auf einer Intensiv- und Notfalleinheit
  • Abfälle, die nicht dem Abfallschlüssel AS 18 01 03 (Abfälle, an deren Sammlung und Entsorgung aus infektionspräventiver Sicht besondere Anforderungen gestellt werden) entsprechen, nicht als solche entsorgen
  • Einkauf von wiederverwertbaren bzw. recycelbaren Medizinprodukten und Verbrauchsmaterialien für die Intensiv- und Notfallmedizin
  • verpflichtende Durchführung von unabhängig geprüften Lebenszyklusanalysen (Life Cycle Assessments, LCA) für Medizinprodukte durch die Hersteller

Labortestungen

  • sinnvolle Laborteststrategie (SOPs o.Ä.), um Ressourcen einzusparen und folgendes Vorgehen berücksichtigen:
    • Beschränkung der Auswahl von Labortests, die in der Regel vom Zentrallabor (und klinischen Experten) festgelegt werden
    • Einführung von Routine-Panels
    • Einführungen bzw. Festlegung eines Mindestintervalls für Wiederholungsuntersuchungen für vorgeschriebene Tests
    • Einführung eines Order-Entry Systems (Einsatz computergestützter Systeme für die Eingabe von ärztlichen Anordnungen)
    • selbst auferlegte Limitierungen für Laboranforderungen durch Kliniker*innen durch Fort- und Weiterbildung

Arzneimittel – allgemeiner Teil

  • regelmäßige Durchführung eines pharmazeutischen Reviews oder Überprüfung der Arzneimittelverordnungen, um indikationsgerecht zu Verordnen und Optimierungen in der Arzneimitteltherapie zu erreichen
  • Lagerhaltung /Logistik der Arzneimittel regelmäßig überprüfen und Handlungsfelder zur Optimierung schnell identifizieren und einzusetzen

Arzneimittel – spezieller Teil

  • strenge Indikationsstellung für inhalative Sedierung (Sevofluran ggü. Isofluran bei kurzzeitigen Sedierungen bis 72 h bevorzugen)
  • Einsatz von ACD-100 für die inhalative Sedierung auf der Intensivstation mit dem Sedaconda Anaesthetic Conserving Device (ACD®) unter Nutzung von assistierten Spontanatmungsmodi erwägen
  • alleinig Einsatz von Isofluran mit strenger Indikationsstellung zur inhalativen Sedierung auf der Intensivstation
  • derzeit keine Empfehlung für den Einsatz von Methoxyfluran
  • wenn technisch mgl., Nutzung von dezentralen oder zentralen Auffangvorrichtungen für die Nutzung von Sevofluran und/oder Isofluran sowie Ausschaltung der AGFS
  • derzeit keine Empfehlungen für eine bestimmte Variante der Sedierung in der Intensivmedizin und Notfallmedizin (individuelle Beurteilung im klinischen Kontext)
  • Heranziehen von korrekten und vergleichbaren GWP-Werten (GWP = Global Warming Potential) für wissenschaftliche Studien und Vergleiche

Blutprodukte

  • Etablierung eines PBM-Programm (Patient Blood Management) in jeder Klinik (umfasst Einführung restriktiver Transfusionsstrategien und regelmäßige Audits zur Überprüfung der Transfusionspraxis)
  • Einhaltung restriktiver Transfusionsstrategien gewährleisten und unnötige Transfusionen vermeiden

Umgang mit Lebensmitteln

  • Verwendung eines digitalen Speisebestellsystems
  • Speisen und Produkte wiederverwerten, wenn dies aus hygienischen Gründen möglich ist

Hygiene und Nachhaltigkeit

  • Einsatz von persönlicher Schutzausrüstung ausschließlich indikationsgerecht (Einsatz von PSA ohne gegebene Indikation ist zu unterlassen)
  • Einsatz von Einmalschürzen erwägen, um Übertritt von Keimen über „feuchte Brücke“ zu vermeiden (Einmalschürzen zum Eigenschutz nur bei potenzieller Gefährdung nutzen)
  • entsprechend Herstellerangaben abgelaufenes PSA-Material nicht verwerfen, sondern zu Trainingszwecken nutzen (Transportlogistik sollte minimiert werden)
  • differenzierter Einsatz von Isolationsmaterialien, um diese so wenig wie möglich nutzen zu müssen
  • Einmalhandschuhe
    • Einsatz unsteriler Einmalhandschuhe strikt auf empfohlene Indikationen begrenzen
    • Überdesinfektion von Handschuhen (Durchführung einer Händedesinfektion von behandschuhten Händen) bei Indikation zur Händedesinfektion anstelle eines Handschuhwechsels bei indikationsgerechtem Einsatz erwägen
      • CAVE: vor Einführung der Strategie der Erlaubnis der Desinfektion behandschuhter Hände Kompatibilität Handschuh/Desinfektionsmittel prüfen und Indikationen & Kontraindikationen im interdisziplinären Team aus Intensivmedizin & Hygiene festlegen und schulen
    • strikt indikationsgerechter Einsatz von sterilen Handschuhen (bei fehlender Indikation zur Nutzung steriler Handschuhe unsterile Handschuhe nutzen & bei generell fehlender Handschuhindikation auf diese verzichten)
    • bei der Auswahl von Einmalhandschuhen auf möglichst geringen ökologischen Fußabdruck des Materials achten
  • Mundnasenschutz (MNS)
    • MNS zur Infektionsprävention unabhängig vom genauen Maskentyp indikationsgerecht verwenden
    • Maskentyp entsprechend der Indikation wählen (aufsteigende Hierarchie: MNS, FFP2, FFP3; immer Maske der geringsten Hierarchie im Rahmen des infektionspräventiven Settings wählen)
    • Masken grundsätzlich entsprechend Herstellerangaben als Einwegprodukte verwenden
  • Isolationskittel
    • Mehrfachverwendung von Isolationskitteln nicht empfohlen
    • Isolationskittel ausschließlich gemäß ihrer Indikation einsetzen (Verwendung auf Situationen beschränken, in denen eine Übertragung von Infektionserregern durch direkten Kontakt wahrscheinlich ist und dementsprechend verhindert werden muss)
    • Aufbereitung von Isolationskitteln zur Einmalnutzung bei Qualitätssicherungsmaßnahmen im Rahmen von Studien erwägen
    • Einsatz von waschbaren Isolationskitteln zur Mehrfachnutzung (z.B. aus Stoff) unter Qualitätssicherung v.a. bei nicht notwendiger Dichtigkeit ggü. Flüssigkeiten erwägen
  • Hauben
    • Vermeidung des nicht-indizierten Einsatzes von Hauben zur Infektionsprävention
  • Versorgung von Patient*innen in einem Isolationszimmer
    • Isolationszimmer nur dann betreten, wenn die Indikation dazu besteht (vor Anlegen der PSA jeden Betretungsvorgang hinterfragen; CAVE: isolierte Patient*innen dürfen dabei NICHT qualitativ schlechter als andere PatientInnen behandelt werden)
    • Betreten jedes Zimmers soll möglichst effektiv erfolgen –> Prozessoptimierung kann sogar bei Zeitersparnis zu verbesserter Umsetzung der Hygienemaßnahmen führen
    • differenzierte Überlegungen bzgl. der Menge an Personen, die zur Visite / zu Ausbildungszwecken mit welcher Schutzausrüstung das Patient*innenzimmer betreten müssen
    • nur indikationsgerechte Isolierung, also keine Durchführung einer nicht (mehr) durch Hygienestandards vorgegebene Isolierung (Beachtung der KRINKO-Empfehlungen)
    • PSA an die Maßnahme im PatientInnenzimmer adaptieren
    • Patient*innen so früh wie möglich entsprechend lokaler Hygienestandards durch das Hygieneteam oder in Rücksprache mit diesem entisolieren
  • Wechselintervalle von Medizinprodukten
    • tägliches Hinterfragen der Indikation für medizinische Devices (indikationsgerechter Gebrauch) sowie möglichst vorrausschauende Planung hinsichtlich Systemwechseln
    • kein routinemäßiger Wechsel einliegender Gefäßkatheter bei fehlenden Infektionszeichen (max. Wechselintervalle bei intakten Verbänden ausnutzen)
    • Verbandswechsel von Gefäßkathetern nach hausinternen SOPs, RKI-Richtlinien und Hersteller-Empfehlungen durchführen
    • KRINKO- und Hersteller-Empfehlungen im Rahmen des Infusionsmanagements zur Ressourcenschonung sowie Infektionsprophylaxe einhalten (max. Wechselintervalle ausnutzen)
    • national empfohlene Wechselintervalle für Beatmungssysteme zur Ressourcenschonung sowie zur Infektionsprophylaxe maximal ausnutzen
    • Umsetzung von Maßnahmen zur Prävention beatmungsassoziierter Pneumonien entsprechend nationaler Empfehlungen
    • kein routinemäßiger Wechsel von Bettwäsche
    • Auswahl der Reinigungs- und Desinfektionssubstanzen sollten neben Aspekten der Effektivität, Wirklücken, Humantoxizität, Kosten und Anwendbarkeit auch Aspekte der ökologischen Nachhaltigkeit wie Abbaubarkeit, Ökotoxizität, etc. einbeziehen

Überversorgung und Nachhaltigkeit

  • Aufnahmevermeidung in der Intensiv- und Notfallmedizin
    • Implementierung medizinisch-pflegerischer Beratungskonzepte (Advance Care Planning (ACP) bei chronisch kranken Patient*nnen bzw. Patient*innen mit weit fortgeschrittener Grunderkrankung
    • Klärung des Patient*innenwille in Bezug auf Behandlungswünsche, Therapieziele, Reanimationsstatus (DNR) sowie Intubationsstatus (DNI) bei chronisch kranken Patient*innen bzw. Patient*innen mit einer weit fortgeschrittenen Grunderkrankung –> PatientInnenverfügung und Vorsorgevollmacht sollten vorliegen
    • Implementierung von Early Warning Scores in KH zur frühzeitigen Identifizierung von Patient*innen, bei denen ein krankheitsbedingter komplizierter Verlauf ansonsten zu spät identifiziert werden würde sowie parallele Etablierung von Outreach Teams, um bei diesen identifizierten Risikopatient*innen zeitnah eine adäquate Therapie einzuleiten
    • rechtzeitige palliativmedizinische Mitversorgung bei nicht kurativ behandelbaren Erkrankungen und chronischen Erkrankungen, ggf. Einschaltung der SAPV, um Aufnahmen/Wiederaufnahmen zu reduzieren
    • Durchführung von Präventionsmaßnahmen, um die Wiederaufnahme in der Intensiv- und Notfallmedizin zu reduzieren
    • Durchführung von Prähabilitationsprogramme bei Patient*innen, bei denen ein elektiver langwieriger Intensivaufenthalt absehbar sein könnte
    • Realisierung spezieller Angebote für sozioökonomisch benachteiligte Personengruppen
    • sowohl prä- als auch innerklinisch Integration transkultureller Versorgungskonzepte
    • bei Studien an kritisch kranken Patient*innen auf ausreichende Diversität achten
    • Erhebung einer Suchtanamnese bei allen Patient*innen sowie Angebote zu Entgiftung, Abstinenz oder Substitution für die konsumierten Substanzen machen
  • Maßnahmen in der Zentralen Notfallaufnahme und Intensivstation
    • Umsetzung von Leitlinienempfehlungen, SOP und der Initiative „Klug entscheiden“, um Über- und Untertherapie zu vermeiden und so damit Ressourcen einzusparen
    • Durchführung eines zeitlich begrenzten Therapieversuchs („time limited trial“) bei prognostischer Unsicherheit und bestehenden Zweifeln zur Sinnhaftigkeit & Angemessenheit intensivmedizinischer Maßnahmen
    • regelmäßige Re-Evaluation von Therapiezielen während der Intensiv- & Notfallbehandlung
    • regelmäßige & frühzeitige Durchführung von Zugehörigenbesprechungen bei schwerkranken Intensivpatient*innen mit zweifelhafter Prognose
    • frühzeitige Integration von palliativmedizinischer Versorgung in der Versorgung der Patient*nnen auf der Intensivstation und in Notaufnahmen
    • Angebot struktureller Versorgungsmöglichkeiten bei schwerstkranken Patient*innen, die die Intensivstation verlassen (Implementierung unterschiedlicher Versorgungsmöglichkeiten im Anschluss an Intensivmedizinische Behandlung erwägen)
    • bei multimorbiden Patient*innen und schweren Krankheitsverläufen nach Intensiv- und Notfallbehandlung Reanimationsstatus besprechen bzw. festlegen sowie Erstellung einer Patient*nnenverfügung und Vorsorgevollmacht
Published inLeitlinien kompakt

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