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Leitlinie „Distale Femurfrakturen“ der DGOU & DGU (Update 2025)

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. (DGOU) & Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU)
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 26.02.2025
Ablaufdatum: 30.07.2028
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/187-041

Epidemiologie

  • Inzidenz distaler Femurfrakturen 45/105 Einwohner/Jahr unter allen Erwachsenenfrakturen
  • Prävalenz von 0,4 %
  • etwa 3 – 6 % aller Femurfrakturen

Ätiologie

  • direkte Krafteinwirkungen im Rahmen von Niedrig-Energie-Traumata, vor allem beim älteren Menschen mit verminderter Knochenqualität
  • weniger häufig direkte Krafteinwirkung bei (Hoch-)Rasanztraumen (häufig mit Weichteilschaden, offene Frakturen); Dashboard-Injury; Polytrauma; hier sind jüngere, männliche Patienten häufiger betroffen
  • indirekte Krafteinwirkung durch Biegung und / oder Rotation (überwiegend geschlossene Frakturen)
  • Schuss- und Explosionsverletzungen
  • pathologische Frakturen, Ermüdungsbrüche, Osteoporose-assoziierte Frakturen, zunehmende Zahl an periprothetischen Frakturen bei Oberflächenersatz des Kniegelenkes

Klassifikation

  • Fraktureinteilung nach AO (Meinberg)
Quelle: https://classification.aoeducation.org/files/download/AOOTA_Classification_2018_Compendium.pdf
Quelle: https://classification.aoeducation.org/files/download/AOOTA_Classification_2018_Compendium.pdf
Quelle: https://classification.aoeducation.org/files/download/AOOTA_Classification_2018_Compendium.pdf
Quelle: https://classification.aoeducation.org/files/download/AOOTA_Classification_2018_Compendium.pdf
  • Einteilung der Weichteilschäden
    • Klassifikation der offenen Frakturen (nach Gustilo R.B. und Ander-son J.T.)
      • Grad I: Durchspießung des Haut- und Weichteilmantels von innen, wenig oder keine Kontamination, Wunde von weniger als 1 cm
      • Grad II: Hautläsion größer als 1 cm, die umgebenden Weichteile zeigen keine oder nur geringradige Kontusion
      • Grad III A: Ausgedehnte Weichteilzerstörung, jedoch noch ausreichende Weichteildeckung des frakturierten Knochens
      • Grad III B: Ausgedehnte Weichteilverlust mit periostaler Ablösung und Knochenfreilegung. Üblicherweise hohes Maß an Kontamination
      • Grad III C: Offene Fraktur mit einem behandlungsbedürftigen arteriellen Gefäßschaden
    • Klassifikation des frakturbegleitenden Weichteilschadens (nach Oestern H.J. und Tscherne H.)
      • Grad 0: Kein Weichteilschaden
      • Grad I: Oberflächliche Schürfung oder Kontusion durch Fragmentdruck von Innen
      • Grad II: Tiefe, kontaminierte Schürfung; Lokale Haut- und Muskelkontusion; Drohendes Kompartmentsyndrom
      • Grad III: Ausgedehnte Hautkontusion mit Muskelzerstörung; subkutanes Décollement; manifestes Kompartmentsyndrom; Nerven- oder Gefäßverletzung

Präklinisches Management

Unfallmechanismus

  • Verkehrsunfall als
    • Fußgänger
    • Zweiradfahrer (Fahrrad / Motorrad)
    • PKW/LKW-Insasse
  • Sturz aus definierter Höhe
  • Sturz mit Oberschenkel-Verdrehtrauma
  • direkter Anprall
  • Verdrehtrauma mit hoher Krafteinwirkung bei jüngeren Patient*innen, bzw. geringer Krafteinwirkung bei geriatrischen Patient*innen
  • Schuss- und Explosionsverletzungen
  • inadäquates Trauma/Spontanfraktur bei Knochen-, Stoffwechsel- und Tumorerkrankungen, Multipler Sklerose

Notfallmaßnahmen

  • Notfallversorgung in der Präklinik besteht aus
    • a) Anlage steriler Verband bei offenen Frakturen und zusätzlichen Wunden
    • b) Reposition durch Längszug und Fixierung durch geeignete Schiene
    • c) immer Ruhigstellung der angrenzenden Gelenke (Hüfte, Knie) –> Vakuummatratze
  • schonende Rettung unter Vermeidung zusätzlicher Schädigung
  • Analgesie
  • venöser Zugang und Volumengabe bei Bedarf
  • zügiger Transport in Krankenhaus mit adäquater unfallchirurgischer Versorgungskompetenz (möglichst zertifiziertes Traumazentrum im TraumaNetzwerk-DGU)

Dokumentation

  • schriftliches Rettungsdienstprotokoll (ggf. Fotodokumentation sinnvoll; Datenschutz beachten!) zur zur besseren Nachvollziehbarkeit der Notfallmaßnahmen:
    • Schürfungen
    • Kontamination
    • Hautperforation von innen durch Frakturfragmente
    • Hautperforation von außen
    • Gesetzlich versicherter Unfall?
    • vorbestehende Verletzungen und Folgeschäden
    • Vorerkrankungen
    • Medikamente
    • mentaler und körperlicher Status
    • soziales Umfeld
    • Nikotin-, Alkohol-, Drogenabusus
    • multiresistente Keime
    • Unfall im Rahmen der Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV, AUVA, SUVA)

Anamnese

Analyse Verletzungsmechanismus

  • für bessere Versorgung und schnelle Einleiten weiterer Maßnahmen Analyse des Verletzungsmechanismus, wobei folgende Punkte zu differenzieren sind:
    • Richtung und Maß der einwirkenden Kräfte
    • weichteilrelevante Unfall-/Verletzungsmechanismen
    • Rotationstrauma
    • Hinweise auf Beteiligung von Becken, Hüft- und Kniegelenk

Vorgaben der gesetzlichen Unfallversicherung

  • in Deutschland muss bei allen Arbeitsunfällen, bei Unfällen auf dem Weg von und zur Arbeit, bei Unfällen in Zusammenhang mit Studium, Schule und Kindergarten sowie allen anderen gesetzlich versicherten Tätigkeiten – einschließlich aller ihrer Folgen – eine Unfallmeldung durch den Arbeitgeber erfolgen, wenn der Unfall eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Kalendertagen oder den Tod zur Folge hat
  • Patient*innen müssen in Deutschland einer/einem zum Durchgangsarztverfahren zugelassene*n Ärztin/Arzt vorgestellt werden, welcher über die Einleitung eines BG-lichen Heilverfahrens entscheidet
  • bei Unfallfolgen und Folgeerkrankungen gilt das BG-liche Heilverfahren und Folgebehandlungen sollten in einer von der DGUDGOUV zugelassenen Einrichtung erfolgen

Vorerkrankungen und Verletzungen

  • Lokal
    • Frakturen der unteren Extremität
    • Kniegelenksverletzungen, -erkrankungen
    • einliegende Kniegelenksprothese
    • Infektionen an Knochen und Gelenken
    • vorbestehende Beinlängendifferenz oder Achsfehlstellung
    • neurologische Erkrankungen
    • neuromuskuläre Erkrankungen
    • Osteoporose und sonstige Knochenerkrankungen
  • Allgemein
    • allgemeine Erkrankungen und Knochenerkrankungen (System- und neurologische Erkrankungen / Osteoporose)
    • Multiple Sklerose
    • Thrombose, Embolie, postthrombotisches Syndrom
    • arterielle Verschlusskrankheit
    • Diabetes mellitus
    • Hepatitis B/C, HIV
    • Beinödeme verschiedener Ätiologien
    • Hauterkrankungen, chronische Ulcerationen
    • Allergien, speziell Medikamenten- und Metallallergien
    • multiresistente Keime

wichtige Begleitumstände

  • Unfallort, Auffindungsort
  • Unfallzeitpunkt und Zeitraum bis Klinikaufnahme
  • bisherige Versorgung der Verletzungen
  • Alkohol-, Nikotinabusus
  • Drogen
  • gerinnungshemmende Medikamenteneinnahme (ASS, Cumarine, orale Antikoagulantien)
  • Medikamenteneinnahme, die das Operations- und Narkoserisiko erhöhen (Metformin, orale Antidiabetika, Kortison, Antihistaminika, Antihypertonika)
  • funktioneller Status vor Unfall
  • soziales Umfeld
  • Berufsanamnese

Symptome

  • Schmerz
  • Knochenreiben (Crepitatio)
  • Gelenkerguß
  • Fehlstellung
  • abnorme Beweglichkeit
  • mangelnde Belastbarkeit
  • Gefühlsstörungen
  • Funktionsausfälle
  • Blutung, Hämatom
  • periphere Durchblutungsstörung
  • Schwellung

Diagnostik

  • Diagnostik soll ohne Verzögerung erfolgen, wobei dabei auf Wärmeerhalt der Patient*innen, angemessene Analgesie und adäquate Lagerung geachtet werden muss
  • bei klinischem Verdacht auf arterielle Gefäßverletzung bildgebendes Verfahren (z.B.: Doppler-Sonographie/Angiographie/Angio-CT) durchführen
  • zum Ausschluss eines drohenden Kompartmentsyndroms wiederholte Kontrollen in den ersten 24 Stunden durchführen

notwendige Untersuchungen

  • Blutverlust, Kreislauf, Schock
    • Blutdruck
    • Puls
    • Labor
  • klinische Untersuchungen
    • arterielle und venöse Durchblutung
    • periphere Motorik
    • periphere Sensibilität
    • Einschätzung und Klassifizierung des Weichteilschadens mit Dokumentation von Hämatom / Wunden / Schürfung / Kontusionszone / Blasen / Fremdkörper
    • sichere Frakturzeichen:
      • sichtbare (offene) Frakturenden
      • Krepitation
      • Achsfehlstellung
      • abnorme Beweglichkeit
    • bei offenen Frakturen:
      • Wundinspektion bei offenen Frakturen nur unter sterilen Bedingungen (sinnvoll: Fotodokumentation)
      • Keine mehrfachen Inspektionen
      • Proben zur mikrobiologischen Untersuchung
    • unsichere Frakturzeichen:
      • Schmerzen, lokaler Druckschmerz
      • Schwellung
      • Rötung
      • Wärme
    • Kniegelenkerguss
    • Bursa präpatellaris
    • Begleit- und Zusatzverletzungen des Kniegelenks
    • Begleitfrakturen: prox. Unterschenkel, Femurschaft, Hüfte,
    • Becken
    • Fragmentdruck
    • Faszienspannung, Kompartmentsyndrom?
  • Laboruntersuchungen
    • Laboruntersuchungen unter Berücksichtigung von Alter, Begleiterkrankungen und –verletzungen
    • Kreuzblut für Blutgruppe und präoperativ Bereitstellung von Blutkonserven in Abhängigkeit von der Verletzungsschwere und Begleitverletzugen
    • HIV / Hepatitis B/C – Schnelltest nach Einwilligung des Patienten zum Schutz des Krankenhauspersonals und des Patienten (z.B. Antibiotikatherapie bei herabgesetzter Immunabwehr)
  • Röntgendiagnostik
    • Oberschenkel und angrenzende Gelenke in 2 Ebenen (a.p. / seitlich)
    • bei Polytrauma mit Ganzköper-CT bis unterhalb des Knies keine zusätzliche konventionelle Röntgenaufnahme erforderlich

fakultative Diagnostik

  • bei Minderdurchblutung Dopplersonographie/Pulsoxymetrie der Beinarterien durchführen
  • Stabilitätsuntersuchung von Becken und Hüftgelenk soweit möglich
  • bei klinisch grenzwertigen Befunden für Kompartmentsyndrom, bei bewusstlosen Patient*innen oder fehlender Compliance intrakompartimentelle Druckmessung, ggf. mit kontinuierlichem Monitoring (sicherste Diagnosestellung)
  • Vibrationsempfindlichkeit (Kompartmentsyndrom, DD Polyneuropathie)
  • Bestimmung von Achse und Rotation des unverletzten Beins
  • MRSA-Screening bei Risikopatienten
  • intraoperative Biopsie bei fraglich pathologischer Fraktur

Differenzialdiagnosen

  • Weichteilverletzung ohne Fraktur
  • proximale Femurfraktur oder Femurschaftfraktur
  • Knieluxation, Kniebandverletzung
  • Tibiakopffraktur
  • periprothetische Femurfraktur
  • Tumor/Metastase
  • Ermüdungsfraktur
  • Kombinationsverletzung distaler Femur plus proximaler Unterschenkel „Floating Knee“

klinische Erstversorgung

klinisches Management

  • klinische und radiologische Diagnostik ohne Zeitverzögerung
  • Planung des OP-Zeitpunkts in Abhängigkeit von Verletzungsmuster und Weichteilschaden
  • Anästhesie- und OP-Team verständigen: notfallmäßige Stabilisierung
  • Planung des Behandlungsverfahrens

allgemeine Maßnahmen

  • Analgesie
  • schmerzfreie Lagerung
  • Kühlung der verletzten Extremität (nicht bei drohendem Kompartmentsyndrom)
  • Unfallanzeige / D-Arzt Bericht (bei Arbeits-, Wege-, Schulunfall)
  • Anlage einer intravenösen Infusion
  • Volumenausgleich, Schockbekämpfung
  • bei starker Blutung: kurzzeitiger Kompressionsverband und gezielte instrumentelle Blutstillung = Notfall-OP
  • Wärmeerhalt der Patient*innen
  • falls erforderlich Behandlung von Elektrolytverschiebungen, Volumensubstitution, Transfusion von Blut und/oder Blutbestandteilen
  • Dekubitusprophylaxe durch Spezialmatratze bei zu erwartender schwerer Mobilisation oder Polytrauma-Patient*innen

spezielle Maßnahmen

  • Reposition (durch axialen Zug)
  • Ruhigstellung mit geeigneter Schiene oder Cast
  • Thromboseprophylaxe (s. AWMF-Leitlinie Nr. 003-001 VTE-Prophylaxe)
  • Gabe Antibiotikum bei offener Fraktur bei Aufnahme in der Klinik zur Reduktion der Infektionsrate
  • bei Patient*innen mit Gerinnung beeinflussenden Medikamenten individuelle und interdisziplinäre Beurteilung, um Risikoabwägung zwischen Folgen einer OP-Verzögerung, vermehrter perioperativer Blutungsneigung und Auswirkungen auf die Grunderkrankung vornehmen zu können (spezielle Aufklärung des Patienten gemäß AWMF-Leitlinie Nr. 053-027 „Bridging“)
  • Tetanus-Prophylaxe bei offenen Frakturen und anderen Wunden nach RKI

klinische Erstversorgung bei Polytrauma

  • gelenkübergreifender Fixateur externe bis zur definitiven Versorgung
  • offene Frakturen: tiefe Wundreinigung, Débridement und Drainage und operative Stabilisierung
  • Stabilisierung der Vitalparameter bis zur definitiven Versorgung
Published inLeitlinien kompakt

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