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Praktische Empfehlung „Tertiary Survey bei Traumapatienten“ der DIVI

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 01.09.2025
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1007/s00113-025-01600-y

Was ist das Tertiary Survey?

  • Versorgung schwer verletzter Patient:innen erfolgt gemäß der S3-Leitlinie Schwerverletztenversorgung
  • Unterscheidung zw. Primary, Secondary & Tertiary Survey
    • Primary Survey (oder 1. Untersuchungsgang): prioritätenorientierte Untersuchung nach dem ABCDE-Schema mit dem Ziel unmittelbar lebensbedrohliche Zustände zu erkennen und zu behandeln
    • Secondary Survey (oder 2. Untersuchungsgang): schließt sich an die initiale Schockraumversorgung an, sofern nicht die Indikation für einen unmittelbar notwendig werdenden operativen Eingriff bzw. eine unmittelbar notwendig werdende Intervention gestellt wird (Untersuchung von Kopf bis Fuß unter Würdigung der erfolgten apparativen Diagnostik, um am Ende alle erlittenen Verletzungen zu dokumentieren)
    • Tertiary Survey (oder 3. Untersuchungsgang): ausführliche, nicht unter Zeitdruck stehende, regelhafte Reevaluation der Patient:innen mit einer ausführlichen körperlichen Untersuchung parallel zu anderen intensivmedizinischen Maßnahmen
  • Grund für den Tertiary Survey ist, dass laut dem DGU-TraumaRegister bei 9,2 % der Patient*innen relevante Verletzungsfolgen erst auf der Intensivstation festgestellt wurden, davon 36 % im Bereich des Kopfes, 33 % im Bereich der Extremitäten und 20 % am Thorax
  • strukturierte Untersuchung innerhalb der ersten 72 h nach Traumaeintritt kann die Zahl der verzögert festgestellten Diagnosen senken („delayed diagnosed injuries“)

Ziele des Tertiary Survey

  • bisher nicht erkannte Verletzungen detektieren („delayed detected diagnosis“)
  • Erkennung von dynamischen Befunde sowie graduellen Zustandsveränderungen (z.B. größenprogredientes Hämatom oder zunehmender Sensibilitätsverlust)
  • Erkennung von Traumafolgen, die erst im Verlauf entstanden sind (z.B. Kompartmentsyndrom oder Gefäßverschluss)

Praktisches Vorgehen

Zeitpunkt der Untersuchung

  • Zeitpunkt grundsätzlich im ausreichenden Abstand zum Zeitpunkt des Unfalls und auch zum Zeitpunkt des zweiten Untersuchungsganges im Schockraum
  • Empfehlung: ausführliche Untersuchung unter Einbeziehung aller Aspekte des 3. Untersuchungsganges erstmalig innerhalb von 6 – 12h nach Unfall
    • falls Patient*in nach Erstversorgung im Schockraum mehrere Stunden im OP gewesen ist –> zügig innerhalb von 1 – 2 h nach Aufnahme auf ITS
    • falls Patient*in innerhalb von 1 – 3 h nach Unfall bereits auf Intensiv- oder Normalstation ist –> 3. Untersuchungsgang erst 6 – 12 h nach Unfall
  • CAVE: bedeutet nicht, dass fokussierte Untersuchungen nicht auch deutlich eher erfolgen kann/muss (z.B. engmaschige neurologische Untersuchungen)
  • Empfehlung: 3. Untersuchungsgang innerhalb der nächsten Tage auf ITS wiederholen (ggf. mehrmals)
  • Empfehlung: konsequenterweise erfolgt nach Extubation immer ein weiterer 3. Untersuchungsgang (Grund: sedierte, narkotisierte oder delirante Patient*innen können keine Angaben zu Schmerzen oder anderen Beschwerden machen)
    • CAVE – Sonderfall Patient*innen mit Wirbelsäulenverletzungen: Information, ob und wie ausgeprägt eine Schädigung des Rückenmarks vorliegt, ist von entscheidender Bedeutung für das weitere therapeutische und operative Vorgehen der nächsten Stunden)

Inhalt des 3. Untersuchungsganges

  • gründliche Untersuchung im Rahmen des 3. Untersuchungsganges zielt darauf ab, ein vollständiges Bild sämtlicher Verletzungsfolgen zu erhalten
  • bereits bekannte Befunde würdigen und auftretende Dynamik dokumentieren
  • neu aufgetretene oder bislang nicht erfasste Befunde ebenfalls dokumentieren
  • Untersuchung erfolgt strukturiert, z. B. von Kopf nach Fuß
  • Eigen- und Fremdanamnese sowie Hilfsmittel wie z. B. Ultraschall kommen ergänzend hinzu
  • wenn sich aus den Ergebnissen des 3. Untersuchungsganges diagnostische oder therapeutische Konsequenzen ergeben, so sollen diese eingeleitet werden

zusätzliche Schritte über die Anamnese und Untersuchung hinaus

  • „Clear the pelvis“: vorhandene Diagnostik bezüglich einer möglicherweise vorliegenden Verletzung des Beckenrings im Tertiary Survey evaluieren
    • Beckengurt bereits präklinisch bei vermuteten Verletzung des Beckenrings –> Primary Survey und anschließende CT-Untersuchung mit liegendem Beckengurt –> mechanisch instabile Beckenverletzung mit hämodynamischer Instabilität –> unmittelbare Intervention mit operativer oder interventioneller Blutstillung, sonst Beckengurt bis zur operativen weiteren Versorgung belassen
    • keine knöcherne Verletzung des Beckenrings in der Traumaspirale –> Beckengurt unter anliegendem Monitoring öffnen und Untersuchung des Beckens, ggf. auch zusätzliche konventionell radiologische Bildgebung, zum sicheren Ausschluss einer ligamentären Open-Book-Verletzung
  • Komplettierung aller relevanten Informationen (Zusammentragen von für die weitere Behandlung relevanter Informationen, z.B. Arbeitsunfall ja/nein?; Gewaltverbrechen ja/nein?; Schwangerschaft sicher ausgeschlossen?; Tetanusschutz vorhanden?; psychische Belastung und psychologische Mitbeurteilung oder Hilfe notwendig?)
  • Einordnung der Befunde
    • erhobenen Befunde müssen mit bereits vorhandenen Befunden abgleichen (z.B. Befunde aus Eigen- und Fremdanamnese und Vorbefunde aus Vorgeschichte)
    • unverzügliche Entscheidung in Zusammenschau mit vorhandener Bildgebung, ob ergänzende Untersuchungen erforderlich sind
    • CAVE: Einordnung der Befunde durch Ärzt*in mit Facharztstandard in einem für die Traumaversorgung relevanten Fach
  • Dokumentation
    • ggf. Nutzung eines speziell hierfür konzipierten Bogens (siehe https://www.divi.de/sektionen/trauma bei Publikationen)
    • Haut- und Weichteilverletzungen großzügig mittels Fotos und ggf. sogar Video dokumentieren (CAVE: bedenken, dass die Foto-Dokumentation für spätere rechtliche Verfahren von Relevanz sein kann)
  • Festlegung des weiteren Prozedere
    • Erhebung weiterer Befunde notwendig? (z.B. Bildgebung, Kompartmentdruckmessung, konsiliarische Mitbeurteilungen durch andere Fachabteilungen)
    • Engeres Überwachungsintervall notwendig? (z.B. 4‑stündliche Messungen des intraabdominellen Drucks)

Übersicht der Inhalte des Tertiary Surveys

A: klinische Untersuchung

BereichInhalte/Körperregionen
AllgemeinzustandWachheit, Orientierung, Sedierungstiefe, Agitation
körperliche UntersuchungKopf, Hals, Thorax, Abdomen, Rücken, Wirbelsäule, Becken, obere und untere Extremitäten
Gefäßstatusperiphere Gefäße (Palpation, ggf. Sonographie)
neurologische UntersuchungHirnnerven, Rückenmark, periphere Motorik und Sensibilität
„Clear the Pelvis“Entscheidung über weiteres Vorgehen bei Beckenverletzung

B: weitere Aufgaben und Dokumentation

BereichInhalte/Körperregionen
Evaluation vorhandener (radiologischer) BefundeVollständigkeit der Bildgebung, ggf. Ergänzungen
Reevaluation weiterer BefundeTetanusschutz, Schwangerschaftstest
Anamnese komplettierenAllergien, Vorerkrankungen, Vormedikation
administrative DatenKontaktdaten, Angehörige, Hausarzt, Hinweise auf Straftat? Arbeitsunfall? Eilbetreuung, Fotodokumentation
Einschätzung der seelischen BelastungSuizidalität, psychische Belastung (ggf. Psychiatrie/Psychosomatik, Psychologie-Konsil)
Prozedere festlegenweitere Diagnostik, Untersuchungsintervalle, therapeutisches Vorgehen (multidisziplinäre Abstimmung)
QR-Code für konsentierten Untersuchungsbogen auf der DIVI-Homepage zur freien Nutzung

Published inLeitlinien kompakt

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