veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 31.08.2019
Ablaufdatum: 30.08.2024
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-027.html
Definition
- als traumatisch werden solche Ereignisse bezeichnet, die eine außergewöhnliche Belastung oder extreme Bedrohung darstellen, die den tatsächlichen oder drohenden Tod oder eine ernsthafte Verletzung umfasst; dies schließt auch Bedrohung anderer Personen mit ein
- kritische Ereignisse sind geringer in ihrem Belastungsausmaß; kommen häufiger vor, wiegen für den Betroffenen weniger schwer und sind eher zu erwarten
- im deutschsprachigen Raum haben 28 % der Frauen und 21 % der Männer in ihrem Leben mindestens ein traumatisches Ereignis erlebt
Symptomatik und Verlauf
akute Folgen von psychischer Traumatisierung
- Symptome einer Akuten Belastungsreaktion oder einer Akuten Stressreaktion sind:
- sich aufdrängende, belastende Gedanken
- Erinnerungen an das Geschehen (Intrusionen in Form von bildhaften Erinnerungen oder anderen sensorischen Fragmenten, Alpträumen (mit Themen, die für das Trauma typisch oder mit diesem verknüpft sind), Flashbacks in Form von Reaktionen bei denen die Person fühlt oder handelt, als ob das oder die Ereignisse sich gerade wieder ereignen) oder Erinnerungslücken (z.B. partielle Amnesien)
- Übererregungssymptome wie Schlafstörungen
- Schreckhaftigkeit
- vermehrte Reizbarkeit
- Wutausbrüche
- gesteigerte Aggressivität
- Verzweiflung
- Einengung der psychomotorischen Reaktionsfähigkeit bis zum dissoziativen Stupor
- Konzentrationsstörungen
- Leistungsabfall
- Verwirrtheit
- erhöhte Herzfrequenz in Ruhe
- psychotisches Erleben
- verändertes Erleben der Selbst-, Realitäts- und Zeitwahrnehmung (Dissoziation, Derealisation, Depersonalisation und weitere dissoziative Symptome)
- Rückzugs- und Vermeidungsverhalten
- veränderte affektive Reaktionen und/oder emotionale Taubheit bzw. anhaltende Unfähigkeit, positive Gefühle (z.B. Glück, Zufriedenheit, Zuneigung) zu empfinden
- depressive Reaktionen
- Probleme im Sozialkontakt,
- moralische Verletzung (moral injury)
- Schamerleben
- Schulderleben, insbesondere auch Überlebensschuld
- Substanzmissbrauch (z.B. Alkohol und Benzodiazepine)
- Rückzugs- und Vermeidungsverhalten (Vermeidung traumaassoziierter Stimuli)
- veränderte affektive Reaktionen (inadäquates Lachen/Weinen, nicht kontrollierbare Angstzustände, intensive Stimmungsschwankungen, aggressives Verhalten) und/ oder emotionale Taubheit (Gefühlsabflachung, Teilnahmslosigkeit, „auffällige Unauffälligkeit“)
- psychotisches Erleben
- psychosoziale Funktionseinschränkungen
- somatoforme Symptome unspezifischer Art (Erschöpfung, Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation und Intensität, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen; Übelkeit, Blähungen, Schwerfälligkeit, Brennen im Kopf)
Symptomatik bei älteren Kindern und Jugendlichen
- gleich denen von Erwachsenen
- Vermeidung von Gedanken und Gefühlen
- Derealisationserleben
- Intrusionen
- Vermeidung von Aktivitäten, die an das Trauma erinnern
- starker Stress bei auftretenden Erinnerungen an das Trauma
Symptomatik bei Kleinkindern
- erhöhte Trennungsangst
- regressives Verhalten (wie Daumenlutschen, Bettnässen, Rückfall in Babysprache)
- Verzögerung im Erlernen neuer Fertigkeiten
Symptomatik bei Vorschulkindern
- Fehlerklärungen („Das Unglück ist passiert, weil ich frech war“)
- magisches Denken („Monster tauchen auf, um mich zu entführen“)
- Katastrophisierungen
- erhöhte Fantasietätigkeit
Symptomatik bei Schulkindern und Jugendlichen
- Ängste vor Ausgrenzung durch die Peergroup
- Beeinträchtigungen der altersgemäßen Bemühung um Autonomie
- Störungen des Sozialverhaltens, z.B. aggressives oder dissoziales Verhalten
Screening und Diagnostik
- bei psychosozialer Ersteinschätzung psychischen Befund, äußere Sicherheit, Risikofaktoren und verfügbare Ressourcen erheben; körperliche Verletzungen, aktuelle Behandlung (z.B. Sedierung, Schmerzmedikation) und Zustände (z.B. Intoxikation) berücksichtigen
- Selbst- und Fremdgefährdung unbedingt beurteilten
- Kinder und Jugendliche können die gleichen Symptome wie Erwachsene aufweisen; es können jedoch alters- und entwicklungsabhängig andere/weitere Symptome (z.B. Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten, Verlust bereits erworbener Fertigkeiten) auftreten
- spezielle psychotraumatologische Diagnostik nach Abschluss früher Versorgung anbieten
- zu den Risikofaktoren zählen:
- hohe wahrgenommene Bedrohung
- Selbstaufgabe
- katastrophisierende Bewertung des Ereignisses
- fehlende soziale Unterstützung
- körperliche Verletzungen und anhaltende Schmerzen
- eigene Schuldzuweisung und Scham
- vorbestehende psychische Belastungen und frühere Traumatisierungen
- zu den Schutzfaktoren gehören:
- soziale Unterstützung
- Schutz vor zusätzlichen Belastungen
- hohe Selbstwirksamkeitserwartung
- hohes Kohärenzgefühl
Fragen bzgl. des psychischen Befundes
- Fähigkeit zur Beziehungsaufnahme: Ist der Betroffene zur Kommunikation mit dem Untersucher in der Lage? Ist ein hilfreicher Kontakt herstellbar?
- Sind gravierende Störungen zentraler psychischer Funktionen vorhanden? Liegen Störungen des Bewusstseins (z.B. Dissoziation), der Orientierung, der Wahrnehmung, der psychovegetativen Reaktionen (z.B. nicht nachlassende starke Erregung), der Psychomotorik (z.B. Stupor), des Affektes (schwerer depressiver Zustand, fehlende emotionale Auslenkbarkeit) und Auffälligkeiten in der Sprache vor?
- Besteht akute Eigen- oder/ und Fremdgefährdung?
- Besteht ein erhöhtes Risiko für selbstschädigendes Verhalten oder Substanzmissbrauch?
- Sind im Verlauf des ersten Untersuchungsgesprächs oder bei Wiedervorstellung nachlassende vegetative Erregung, Dissoziationsneigung und emotionale Entlastung erkennbar?
- Wird die Distanzierungsfähigkeit bzgl. des Traumageschehens im Verlauf des ersten Gesprächs oder bei Wiedervorstellung erkennbar?
äußere Sicherheit und Ressourcen
- Vorliegen realer Sicherheit, vor allem bei Gewalt und Beziehungstraumatisierung: Sind polizeiliche Schutzmaßnahmen oder institutionelle Maßnahmen (z.B. bei Gefährdung des Kindeswohls, häuslicher Gewalt) zu erwägen?
- Abschätzung persönlicher Ressourcen und solcher des sozialen Umfeldes: orientierende Informationen über die aktuellen Lebensbedingungen; Hinweise auf psychosoziale Belastungen und Störungen in der Vorgeschichte, Vorbehandlungen, zeitnahe Erreichbarkeit wichtiger Bezugspersonen oder unterstützender Personen?
- Identifikation von weiteren Problembereichen und Versorgungsnotwendigkeiten (z.B. Beratung in sozialen und/oder juristischen Angelegenheiten, Trauerbegleitung)
- Berücksichtigung alters- und zielgruppenspezifischer Versorgungsnotwendigkeiten (z.B. Kinder, Geflüchtete, Behinderte)
Therapie
- nach traumatischen Ereignissen in den ersten Stunden bis Tagen psychologische, psychosoziale und psychotherapeutische Maßnahmen anbieten; gilt insbesondere für ein Erleben eines schweren Unfalls, einer akut lebensbedrohenden Erkrankung, körperlicher und/oder sexueller Gewalt, einer Entführung oder Geiselnahme, eines Terroranschlags, eines Kriegsereignisses, von Folter oder einer Naturkatastrophe
- in ersten Schritt sollen Sicherheit und Schutz der Betroffenen sichergestellt werden, dies gilt insbesondere bei körperlicher oder sexueller Gewalt mit anhaltender Bedrohung durch den oder die Täter
- Betroffene sollten leicht verständliche Informationen über übliche Reaktionen auf traumatische Erlebnisse erhalten; diese sollten typische posttraumatische Reaktionen sowie Verlauf und Behandlung bzw. Versorgung beinhalten
psychologische Frühintervention
- Grundhaltungen professioneller Helfer und qualifizierter Fachkräfte für die Frühinterventionen sollen Akzeptanz, Wertschätzung und emotionale Einfühlung sein
- erste Interventionen sollen den Prinzipien Beruhigen und Entlasten, Steigern von Kontrolle und Selbstwirksamkeit, Fördern von Kontakt und sozialer Anbindung sowie Stärkung von Hoffnung und Zukunftsorientierung folgen
- sofern eine Einwilligung des Betroffenen gegeben wird, können nahestehende Personen (z.B. Lebenspartner, Freunde) einbezogen werden
- Betroffene soweit es die Situation zulässt, über die Diagnose aufklären
- es muss Einvernehmen hinsichtlich der zu erreichenden Ziele und der anzuwendenden Behandlungsmaßnahmen hergestellt werden (partizipative Entscheidungsfindung)
- Betroffene so weit wie möglich die Kontrolle über die Situation und die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen erhalten; auch Hinweise zu den Maßnahmen, Risiken und Nebenwirkungen, Prognose, Verfügbarkeit von Therapie und Kosten sollten nach Möglichkeit gegeben werden
Prinzipien der psychosozialen Notfallversorgung
Prinzipien | Beispiele |
---|---|
Sicherheit, soweit es realmöglich ist, fördern | – an sicheren Ort bringen – Fokus der Wahrnehmung auf Sicherheit und Bewältigung lenken – Ereignis bezogenen Medienkonsum und das Gespräch über traumaassoziierte Inhalte begrenzen – angemessene Berichterstattung initiieren |
Beruhigen und Entlasten | – aktiv Probleme am Einsatzort angehen – Information über Angehörige und Freunde direkt geben – Medien zur Informationsvermittlung über mögliche alters angemessene Reaktionen und Bewältigungsschritte nutzen |
Selbstwirksamkeit und Kontrolle der Einzelpersonen bzw. in der Gruppe fördern | – in Entscheidungen einbinden – nicht-betroffene Personen und deren psychosoziale und materielle Unterstützung nutzen – gemeinsame Aktivitäten in der Gemeinde initiieren und fördern – Kindern und Jugendlichen altersangemessene Aufgaben geben |
Kontakt und Anbindung fördern | – Kontakt zu nahestehenden Personen wiederherstellen – Kinder ihren Eltern bzw. anderen nahe stehenden Personen zuführen – Gruppen von Betroffenen bilden lassen |
Hoffnung und Zukunftsorientierung stärken | – Unterstützung bei der Organisation des Alltags – psychosoziale Beratungsstellen kontaktieren – rechtliche Vertretungen organisieren – Politiker, Leitende und gesellschaftlich anerkannte Personen einbinden |
Formen des Debriefings
- unter „Debriefing“ werden unterschiedliche Formen einer Nachbesprechung für Einsatzkräfte u.a. der Rettungs- und Katastrophenschutzdienste, Feuerwehren, der Polizei und anderen Behörden mit Sicherheitsauftrag sowie der Bundeswehr verstanden
- besonders bekannt ist das Critical Incident Stress Management (CISM) geworden, das aus verschiedenen Einzel- und Gruppengesprächen besteht und nach belastenden, potentiell traumatischen Einsätzen angewendet werden kann
- zentrales Element dieser Maßnahmen ist die kognitive und emotionale Bearbeitung des traumatischen Ereignisses zu einem möglichst frühen Zeitpunkt
- Ziele: akute Symptomreduktion und Verhinderung einer Chronifizierung von Traumafolgestörungen
- Debriefing wird im Sinne einer Einsatznachbesprechung ohne Ziel einer Prävention eingesetzt
- Einsatznachbesprechungen fokussieren das kognitive Debriefing ohne dass auf emotionale Inhalte eingegangen wird
- bei Einsatzkräften können sich unspezifische Effekte im Aufbau sozialer Unterstützung im Team sowie in der Ermutigung zu mehr Hilfesuchverhalten zeigen
Besonderheiten des Kindes- und Jugendalters
- Frühinterventionen für Kinder und Jugendliche mit einem erhöhten Risiko sollen dem Alter und dem Entwicklungsstatus angepasst sein und die Eltern bzw. die Bezugspersonen einbeziehen
- Kinder und Jugendliche dürfen sich nicht selbst überlassen bleiben, besonders wenn eine größere Zahl betroffen ist (z.B. bei traumatischen Ereignissen in der Schule)
- ruhiges Auftreten der Helfer ist entscheidend, da Kinder und Jugendliche auf Hektik besonders verunsichert reagieren
- sollten durch die Beobachtung von Rettungsmaßnahmen nicht weiter traumatisiert werden, weswegen sie evtl. vom Ort des Geschehens wegzuführen sind
- Versorgung mit Essen, Trinken, warmer Decke, evtl. situationsangemessener Körperkontakt (z.B. Hand auf der Schulter) sowie bei jüngeren Kindern Ablenkung (z.B. Versorgung mit Stift und Zeichenpapier) sind situationsangemessen abzuwägen
- ggf. altersgerecht darüber informieren, was geschehen ist, ob ein Arzt oder ein Krankenwagen kommen wird, wann eine Zusammenführung mit den Eltern erfolgen wird
- Fragen der Betroffenen altersgemäß und wahrheitsgetreu beantworten
- falsche Beschwichtigungen und Bagatellisierungen („das ist nicht so schlimm“) sind zu vermeiden
- Kinder und Jugendliche sollen über das Erlebte sprechen können, entweder mit Bezugspersonen oder Helfern, was mit positiven Auswirkungen verknüpft ist
Grundsätze der Intervention und akutes Vorgehen vor Ort
- Unverzüglichkeit
- Kontakt- und Beziehungsaufnahme
- Vermittlung von Sicherheit
- Orientierung und Information
- Vermittlung weitergehender Hilfsangebote
- Schutz der Persönlichkeitsrechte vor Medien
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