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GenderEMed – Gender Pain Gap

Im August letzten Jahres erregte die Veröffentlichung „Sex bias in pain management decisions“ (PNAS) von Guzikevits, Gordon-Hecker, Rekhtman, Choshen-Hillel et al. größeres Aufsehen in den Medien, da die Studie aus den USA und Israel zeigt, dass es eine signifikante geschlechtsspezifische Verzerrung (Gender Bias) bei der Analgesie in Notaufnahmen gibt. Fazit der Arbeit war, dass Frauen in der Notaufnahme seltener Schmerzmittel erhalten als Männer mit ähnlichen Beschwerden. Das Problem bestand hierbei in verschiedenen Altersgruppen und bei Schmerzgraden sowie unabhängig vom Geschlecht der Ärzt*innen, sodass systemische Ursachen in Form sexistischer Vorurteile als mitursächlich erscheinen. Schaut man sich die Zahlen aus der Arbeit genauer an, so erhielten nur 38 % der Frauen mit Schmerzen eine Analgesie und Männer in 47 % der Fälle. Darüber hinaus dauerte es im Durchschnitt 30 Minuten länger bis Frauen Schmerzmittel in der Notaufnahme erhielten, die Schmerzangaben der Frauen wurden vom medizinischen Personal mit 10 % geringerer Wahrscheinlichkeit erfasst und die Frauen erhielten seltener sowohl opioide (19 % vs. 25 %) als auch Nicht-Opioid-Analgetika (18 % vs. 21 %). Zusätzlich war ein kontrolliertes Experiment Teil der Arbeit, in dem 109 Beschäftigte der University of Missouri Health die Schmerzen von Patientinnen im Vergleich zu denen von Männer als weniger stark einstuften, obwohl die Patient*innenakten bis auf das Geschlecht identisch waren.

Diese Studie ist einer von nicht wenigen Beweisen für den sogenannten „Gender Pain Gap“, also die geschlechtsspezifische Ungleichheit in der Wahrnehmung, Diagnose und Behandlung von Schmerzen. Weiblich gelesene und biologisch weibliche Personen werden auch im Jahr 2025 noch Opfer von Diskriminierung hinsichtlich der Diagnostik und Therapie von Schmerzen im Gesundheitswesen und die Gründe sind multifaktoriell. Und deshalb dreht sich im heutigen „GenderEMed“-Beitrag alles um das Thema Gender Pain Gap.

Zahlen & Fakten

  • Frauen mit Schmerzen erhalten im Vergleich zu Männer signifikant häufiger Beruhigungsmittel anstatt Schmerzmittel
  • Ryan & Desai konnten zeigen, dass Frauen in US-amerikanischen Notaufnahmen im Durchschnitt 65 Minuten auf Schmerzmittel bei akuten Bauchschmerzen warten und Männer nur 49 Minuten
  • 70 % der Betroffenen von chronischen Schmerzen sind Frauen, jedoch werden rund 80 % der Schmerzstudien an männlichen Mäusen oder Männern durchgeführt
  • Frauen empfinden Schmerzen häufiger und intensiver als Männer (siehe geschlechtsspezifische Schmerzwahrnehmung)
  • Prävalenz chronischer Schmerzen von 45 % bei Frauen und 31 % bei Männern
  • Chen et al. konnten in einer Untersuchung zur Analgesie bei akuten Bauchschmerzen zeigen, dass Frauen & Männer ähnliche mittlere Schmerzwerte angaben, aber Frauen 7 % seltener eine Analgesie erhalten und 11 % seltener Opiate erhielten
  • Frauen leiden häufiger unter akuten und postoperativen Schmerzen
  • in einer Umfrage unter mehr als 2.000 Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der medizinischen Fakultäten der Universitäten Münster und Duisburg-Essen konnten nur 30 % der Befragten die Fragen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Schmerzmedizin richtig beantworten

Nurofen Gender Pain Gap Index Report (2024)

  • 1 von 6 Frauen hat täglich starke Schmerzen
  • 56 % der Frauen haben das Gefühl, dass ihre Schmerzen aufgrund ihres Geschlechts ignoriert oder abgetan werden
  • 2/3 (63 %) der Frauen sind der Meinung, dass Schmerzen bei Männern vom medizinischen Fachpersonal oder auch im persönlichen Umfeld ernster genommen werden
  • bei 42 % der Frauen in den Wechseljahren wurden ihre Schmerzen abgetan (1/6 Frauen musste mehr als ein Jahr warten bis menopausenbedingte Schmerzen diagnostiziert wurden)
  • bei einer von zehn Frauen (12 %) wurden die eigenen Schmerzen bereits im Alter von 10 – 15 Jahren zum ersten Mal von ärztlichem Personal abgetan (33 % bei Frauen < 21 Jahren)
  • 35 % der Männer glauben, dass die Kluft in der Schmerzwahrnehmenung bei den Geschlechtern besteht, weil Frauen und Männer eine unterschiedliche Schmerzgrenze haben
  • 35 % der Männer glauben, dass von Männern erwartet wird, dass sie stoisch sind und Schmerzen einfach ertragen

geschlechtsspezifische Schmerzwahrnehmung

Frauen habe eine deutlich niedrigere Schmerzschwelle und auch eine geringere Schmerztoleranz als Männer. Dies hat zur Folge, dass Schmerzen von Frauen früher und intensiver außerdem intensivere Immunantwort und Entzündungsreaktionen erlebt werden. Auch bei den unterschiedlichen Schmerzarten gibt es Unterschiede, so empfinden Frauen z.B. Druckschmerz stärker als Männer, u.a. aufgrund der dünneren Haut.

Insgesamt scheinen Frauen auch empfänglicher für verschiedenste Schmerzsyndrome, wie Migräne, Spannungs-kopfschmerzen, Reizdarm oder rheumatoide Arthritis, zu sein. Während Männern eher häufiger Cluster-Kopfschmerzen haben.

Evolutionär ergibt dies auch Sinn, denn dadurch haben Frauen u.a. ein bewussteres Gesundheitsverhalten und damit auch eine höhere Lebenserwartung haben. Dies ist von Vorteil für die Zeit der Schwangerschaft, das Stillen und das Aufziehen der Kinder.

neuro-biologische Ursachen

  • bei Frauen findet die Schmerzverarbeitung eher in den Arealen der linken Amygdala statt, also im limbischen System, also dem Ort, an dem Emotionen entstehen, UND bei Männern eher in der rechten Amygdala, also der Region für analytische und kognitive Prozesse
  • Sexualhormone sind auch an der unterschiedlich empfundenen Schmerzwahrnehmung beteiligt (Estradiol eher pronozizeptiv und proinflammatorisch; Östrogen eher pronozizeptiv; Testosteron eher antinozizeptiv und antiinflammatorisch)
  • Strukturen des Gehirns, die an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind, weisen auch Östrogenrezeptoren auf einige Botenstoffe der Schmerzverarbeitung beeinflussen das weibliche Nervensystem anders als das männliche (zB. löst Protein CGRP Migräne nur bei weiblichen Mäusen aus)
  • weibliches Immunsystem reagiert anders auf Schmerzen, was vor allem bei neuropathischen Schmerzen zu anderen Mechanismen führen kann

Warum dieser Gender Pain Gap?

Die Gender Pain Gap ist ein multifaktorielles Problem, jedoch spielen historische Narrative eine große Rolle, v.a. das Narrativ der hysterischen Frau. Unter dem Begriff „Hysterie“ versteht die Psychologie/Psychiatrie vor allem Störungen mit gesteigerter Selbstdarstellung, Theatralik und Dramatisierung. Der Begriff “Hysterie“ leitet sich vom Wort „hystéra“, griechisch für Uterus (Gebärmutter), ab. Schon in der Antike wurde die „Hysterie“ alsStörung beschrieben und auf das „Herumirren“ des Uterus, wenn das Begehren der „Kindererzeugung“ nicht erfüllt wird. Die Lehrebestand bis ins 18. Jahrhundert und erst im 19. Jahrhundert gabes die ersten Arbeiten, die postulierten, dass auch Männer von der Hysterie betroffen sind und die Erkrankung vom Gehirn ausgeht. Trotz diesen wissenschaftlichen Fortschritts „behandelte“ man Frauen mit „Hysterie“ bis ins 20. Jahrhundert mit Klitorektomien, heterosexuellem Sex, Schwangerschaft sowie der Heirat.

Und noch heute halten sich diese Stereotype. So konnten Guzikevits et al. (2024), dass die Annahme, dass Patientinnen ihre Schmerzen in übertriebener Art und Weise darstellen immer noch vorherrscht. Dies wird u.a. mit dem gesellschaftlichen Bild der emotionalen, dramatischen und hysterischen Frau begründet. Eine weitere Annahme, die heute auch noch in den Köpfen vieler Menschen verankert ist, ist der Glaube, dass Frauen Schmerzen körperlich besser tolerieren können als Männer.

Folgen des Gender Pain Gap

Medikamenten-Studien werden auch heutzutage weniger an Frauen durchgeführt, sodass die geschlechtsabhängigen Wirkungen und Nebenwirkungen von Schmerzmitteln nicht berücksichtigt werden. So haben Opioide bei Frauen eine stärkere Schmerzhemmung, aber auch mehr und schwerere Nebenwirkungen. Darüber hinaus ist z.B.bei lipophilen Opioiden der höhere Fettanteil bei Frauen klinisch relevant und sorgt für ein deutlich erhöhtes Bindungspotenzial.

Ein anderes Beispiel ist das Medikament Paracetamol. Hier siehtgut sie geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Pharmakokinetik von Arzneistoffen. Beim Paracetamol ist zwar die analgetischen Wirksamkeit gleich, jedoch haben Frauen einen langsameren Abbau, sodass Frauen nach der Einnahme im Schnitt höhere Plasmaspiegel haben und so z.B. bei längerer Einnahme ein höheres Risiko für eine Intoxikation und irreversiblen Schäden der Leberzellen besteht.

Als weiteres, spannendes Beispiel eignet sich das gute, alte ASS,welches bei Männern das Herzinfarkt-Risiko senkt signifikant, aberbei Frauen nicht. Das umgekehrte Phänomen besteht dann aber beider Schlaganfall-Prävention. Hier senkt ASS das Stroke-Risiko beiFrauen, jedoch nicht bei Männern. Eine genaue und abschließende Erklärung für dieses Phänomen gibt es auch heute noch nicht.

Weitere spannende pharmakologische Phänomene sind z.B.:

  • Männer brauchen eine bis zu 50 % höhere Morphin-Dosis, um einen vergleichbaren schmerzhemmenden Effekt zu erfahren
  • Ibuprofen hat bei Frauen eine geringere analgetische Wirkung

Wie schon erwähnt erfahren Frauen bei Schmerzen oftmals eine schlechtere oder gar keine Analgesie, was auch zu langfristen Problemen führt, v.a. kommt es zur deutlichen Verlängerung desHeilungsprozesses sowie zur Chronifizierung von Schmerzen.

    Quellen

    Published inGenderEMed

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