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Leitlinie „Diagnose und Therapie der Bienen- und Wespengiftallergie“ der DGAKI

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 31.07.2023
Ablaufdatum: 30.07.2028
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/061-020

Grundsätzliches

  • Hautflügler (Hymenopteren) umfassen weltweit mehr als 100.000 bekannte Insektenarten
  • Teilgruppe der Hymenopteren sind Stechimmen (Aculeata), wovon die Weibchen einen Giftstachel besitzen, der bei Stich in die menschliche Haut Gift injiziert
  • einige Bestandteile des Hymenopterengifts stellen potente Allergene dar und können nach erfolgter IgE-vermittelter Sensibilisierung verstärkte lokale und systemische allergische Reaktionen verursachen
  • blutsaugende (hämatophage) Insekten sezernieren während Saugaktes kontinuierlich Speichel, der biogene Amine, vasoaktive Peptide sowie gerinnungshemmende Proteine und Verdauungsenzyme enthält
  • häufigste Auslöser klinisch bedeutsamer Stichreaktionen in Mitteleuropa:
    • Honigbienen (Apis mellifera; im Folgenden als Biene bezeichnet)
    • bestimmte Faltenwespen (insbesondere Vespula vulgaris, V. germanica; im Folgenden als Wespe bezeichnet)
    • Dolichovespula spp.
    • Feldwespen (Polistes spp.)
    • Hornissen (Vespa spp.)
    • Hummeln (Bombus spp.)
    • heimische Ameisen (Formicidae spp.)
    • Feuerameisen (Solenopsis invicta), v.a. auf anderen Kontinenten

Epidemiologie

  • Daten abhängig von untersuchter Population mit großer Schwankungsbreite
  • in den USA & Europa etwa 3 % der Allgemeinbevölkerung mit anaphylaktischen Reaktionen nach Hymenopterenstichen
  • Hymenopterenstiche häufigste Ursache für schwere allergische Allgemeinreaktionen im Erwachsenenalter im deutschsprachigem Raum (bei Kindern & Jugendlichen nachrangige Bedeutung)
  • im Mittel ein Viertel (18 ‐ 42 %) allergischen Allgemeinreaktionen im Erwachsenenalter Grad III oder IV (bei Kindern Anteil mittelschwerer bis schwerer Reaktionen mit zw. 10 – 20 %)
  • in Deutschland laut Statistischen Bundesamt zw. 2015 & 2019 jährlich 16 – 29 Todesfälle durch Stiche von Bienen, Wespen oder Hornissen (fast nur Erwachsene & Männer)

Klinik von Stichreaktionen

  • Bienen- und Wespengiftintoxikation
    • bei sehr großer Anzahl von Stichen durch Toxinwirkung schwere Krankheitsbilder mit Symptomen wie Rhabdomyolyse & Hämolyse sowie konsekutiven Organschäden mgl.
    • bei Kleinkindern erhöhte Vulnerabilität
  • ungewöhnliche Stichreaktion, z.B.
    • neurologische oder renale Erkrankungen
    • Vaskulitis
    • thrombozytopenische Purpura
    • Serumkrankheits-artige Krankheitsbilder
  • lokale Reaktionen und unspezifische Allgemeinreaktionen
    • Klassifizierung der Lokalreaktion
      • normale lokale Reaktion: an Stichstelle entstandene meist erythematöse Schwellung mit Durchmesser <10 cm und Rückbildungstendenz innerhalb von 24 Stunden
      • gesteigerte Lokalreaktion (überschießende Lokalreaktion): Durchmesser der Schwellung > 10 cm und Persistenz > 24 h (i.d.R. Abklingen nach ca. 7 d)
    • meist unmittelbarer Schmerz
    • nachfolgend Rötung, Schwellung und Juckreiz
    • Kinder: ggf. nicht-infektiöse systemische Inflammationsreaktion mit/ohne Allgemeinsymptome wie Schüttelfrost, Krankheitsgefühl oder Frösteln und/oder nicht-infektiöse Lymphangitis, typischerweise bereits am 1. – 2. Tag
    • CAVE: Stich im Bereich der Atemwege kann auch bei nur umschriebener lokaler Schwellung Obstruktion verursachen und lebensbedrohliche Situation auslösen
    • CAVE: gelenknahe Stiche und Stiche in gut durchblutete Körperstellen (z.B. im Gesicht) können zu z.T. ausgeprägten Lokalreaktionen führen, die nicht mit systemischen allergischen Reaktionen verwechselt werden dürfen, da keine für Anaphylaxie spezifische Fernsymptome auftreten
  • systemische allergische Reaktion (Anaphylaxie)
    • generalisierte Hautreaktionen (Flush, Urtikaria, Angioödem)
    • mild bis mäßig ausgeprägte respiratorische, kardiovaskuläre oder gastrointestinale Beschwerden
    • ggf. schwere Atemwegsobstruktion bzw. anaphylaktischer Schock (oft mit Bewusstlosigkeit) –> Herzkreislauf-/Atemstillstand
    • CAVE: bei (sehr) schwerer Anaphylaxie im Erwachsenenalter können Symptome einer Hautbeteiligung völlig fehlen
    • Klassifizierung nach Ring & Messmer in Grad 1 (leicht), Grad 2 (mittelschwer), Grad 3 (schwer) & Grad 4 (sehr schwer & reanimationsbedürftig)
GradHautAbdomenRespirationstraktHerz-Kreislauf
I– Juckreiz
– Flush
– Urtikaria
– Angioödem
II– Juckreiz
– Flush
– Urtikaria
– Angioödem
– Nausea
– Krämpfe
– Rhinorrhoe
– Heiserkeit
– Dyspnoe
– Tachykardie
(Anstieg ≥ 20/min)
– Hypotonie
(Abfall ≥ 20 mmHg
systolisch)
– Arrhythmie
III– Juckreiz
– Flush
– Urtikaria
– Angioödem
– Erbrechen
– Defäkation
– Larynxödem
– Bronchospasmus
– Zyanose
– Schock
– Bewusstlosigkeit
IV– Juckreiz
– Flush
– Urtikaria
– Angioödem
– Erbrechen
– Defäkation
AtemstillstandKreislaufstillstand
CAVE: Klassifizierung erfolgt nach schwersten aufgetretenen Symptomen (kein Symptom ist obligat)

Anamnese & Diagnostik

  • Anamnese
    • Anzahl der Stiche
    • Symptome & Ablauf der Stichreaktion
    • Situation, in der der Patient gestochen wurde
    • individuelle Risikofaktoren für schwere Anaphylaxie
      • erhöhter Bienen- oder Wespenexposition mit dem Risiko häufigerer Stiche (z.B. Imker, Berufe wie Obst- oder Bäckereiverkäufer, Waldarbeiter, Gärtner etc.)
      • Vorliegen von Patienten-spezifischen Risikofaktoren für sehr schwere Reaktionen
    • Angaben zur Art des Insektes
BieneWespe
eher „friedlich“ (außer am Bienenstock)eher „aggressiv“, Stich kann auch im
„Vorbei-Flug“ erfolgen
Flugzeit vor allem Frühjahr bis Spätsommer (auch an warmen Wintertagen!)Flugzeit vor allem Sommer
bis Spätherbst
Stachel bleibt nach Stich
meist in der Haut zurück
Stachel bleibt meist nicht in der Haut
zurück. Ausnahmen durch Abscherung, falls das Insekt z.B. eingeklemmt wurde
Vorkommen vor allem in der Nähe von
Bienenstöcken, Blüten und Klee
Vorkommen vor allem in der Nähe
von Speisen oder Abfall
  • körperliche Untersuchung
    • typische Symptome: Juckreiz an Handflächen, Fußsohlen, Kopfhaut und im Genitalbereich
    • aufsteigendes Wärmegefühl
    • Druck auf den Ohren
    • Flush, generalisierte Urtikaria oder Angioödem fernab der Stichstelle
  • Diagnostik
    • RR-, HF- & SpO2-Monitoring
    • bei Anaphylaxie (Schweregrad > II) Bestimmung der bST (basale Serumtryptase)
    • bei V.a. dringend behandlungsbedürftige Hymenopterengiftallergie und wenn IgE-Nachweisverfahren gegen Giftkomponenten und Gesamtgift sowie Hauttests nicht weiterführend –> Durchführung zellulärer Tests
    • Bestimmung von spezifischen IgG-Antikörpern gegen Hymenopterengifte zur Abschätzung der Behandlungsbedürftigkeit einer Hymenopterengiftallergie

Akuttherapie

  • bei Lokalreaktion
    • kühlende, feuchte Umschläge, für ca. 20 min belassen und im Abstand von mehreren Stunden ein-/zweimal wiederholen
    • ggf. Ruhigstellung und Hochlagerung bei Stichen an Armen und Beinen
    • CAVE: keine Evidenz für äußerliche Anwendung von Glukokortikoiden oder Einnahme eines Antihistaminikums sowie dafür beworbene frei verkäufliche Hyperthermie-Geräte
  • bei gesteigerter Lokalreaktion (v.a. relevanter funktioneller Einschränkungen an Händen & Füßen)
    • frühzeitige und kurzfristige systemische Glukokortikoidtherapie (0,5 – 1 mg Prednisolonäquivalent/kgKG p.o.)
    • frühzeitige und kurzfristige orale Gabe nicht-sedierender H1-Rezeptor-blockierenden Antihistaminika
    • keine Indikation für Antibiotika bei nicht-infektiöser Lymphangitis oder Lymphadenopathie
  • bei Stich im Bereich der oberen Atemwege
    • prophylaktische antiallergische Systemtherapie (H1-blockierenden Antihistaminikum und systemisches Glukokortikoid)
Published inLeitlinien kompakt

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