veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Neurologie
Klassifikation gemäß AWMF: S2k
Datum der Veröffentlichung: 10.11.2022
Ablaufdatum: 09.11.2025
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-087
Grundsätzliches
- Störung der neuromuskulären Erregungsübertragung
- Unterteilung in
- immunvermittelte Störungen der neuromuskulären Übertragung
- Myasthenia Gravis (MG) als early-onset MG (EOMG) oder late-onset MG (LOMG)
- Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom (LEMS)
- genetisch bedingte kongenitale myasthene Syndrome (CMS)
- immunvermittelte Störungen der neuromuskulären Übertragung
- Inzidenz „klassische“ MG: 0,25 – 3,0 pro 100.000 Einwohner
- Prävalenz „klassische“ MG: 10 – 36 pro 100.000 Einwohner
Pathophysiologie
- Verlust von funktionsfähigen nikotinischen AChR (nAChR) an motorischer Endplatte
- verursacht durch
- direkte funktionale Blockade von AChR
- Antigen-Modulation durch „Crosslinking“ und dadurch bedingte Endozytose der AChR
- komplementvermittelte Membranschäden der Muskelmembran
- bei 70 % EOMG-Patienten Thymusentzündung (Ausgangsort der gestörten Toleranzinduktion ggü. AChR)
auslösende/verschlechternde Medikamente
- Antibiotika
- Botulinumtoxin
- Magnesium
- Checkpoint-Inhibitoren (u. a. Pembrolizumab, Nivolumab, Atezolizumab, Avelumab, Durvalumab, Ipilimumab)
- Glucokortikoide
- Betablocker
- Statine
Symptomatik
Symptome sind oft belastungs- und/oder tageszeitabhängig
- Leitsymptom: belastungsabhängige Muskelschwäche ohne/mit gering ausgeprägte Muskelschmerzen
- initial okuläre Symptomatik durch Affektion der äußeren Augenmuskulatur sowie des Lidheber-Muskels mit Diplopien, asymmetrische (!) Ptosis, „Wimpernzeichen“ (ca. 70 %)
- Fatigue-Symptomatik (im Verlauf ca. 80 %)
- bei generalisierter Form
- Extremitätenmuskulatur eingeschränkt/betroffen (z.B. erschwertes Überkopfarbeiten oder Treppensteigen)
- Kopfhalte- und Rumpfmuskulatur eingeschränkt/betroffen
- bulbäre Muskulatur: Dysphagie, Dysarthrie, Kauschwäche, Rhinolalia aperta (näselnder Klang der Stimme), Facies myopathica (Schwund mimische Muskulatur)
- Atemmuskulatur eingeschränkt/betroffen
- Belastungs-, Ruhedyspnoe
- reduzierte Vitalkapazität
- respiratorische Insuffizienz (myasthene Krise)
myasthene Exazerbation (drohende myasthene Krise)
- Trias aus
- zeitlichem Kriterium (progrediente Verschlechterung über Tage (max. 30 d)
- subjektivem Kriterium (alltagsrelevante Einschränkung bulbo-pharyngealer Funktionen, der Kopfhaltemuskulatur, der Extremitätenkraft; beginnende Atemschwäche mit reduziertem Hustenstoß)
- objektivem Kriterium (Punktberechnung)
- Red Flags
- fieberhafter Infekt in den letzten zwei Wochen mit Antibiose
- „inverse Aspiration“ (Speisen und Getränke gelangen beim Schluckakt in die Nase)
- insuffizienter Schluckakt (Husten oder Räuspern nach dem Schlucken)
- insuffizienter Hustenstoß
- aphone Dysarthrie (typisch im Satzverlauf zunehmende Phonationsschwäche mit „näselnder“ Aussprache)
- dropped head (Kopf fällt nach vorn, fixierte Parese der Kopfstrecker)
- dropped chin (Unterkiefer fällt nach (längerem) Kauen nach unten)
myasthene Krise
- lebensbedrohliche Exazerbation der MG
- respiratorische Insuffizienz
- meist auch schwere Schluckstörungen (CAVE: akute Aspirationsgefahr)
- Ursachen meist Infektionen & Medikamenteneinnahmefehler/Incompliance
Diagnostik & Anamnese
- Vorgehen nach ABCDE-Schema
- okuläre Untersuchung (Lidschluss, Doppelbilder etc.)
- Halteversuche (Arm-, Bein-, Kopfhalteversuch)
- bulbäre Diagnostik (Rhinolalie, Dysarthrie, verschliffene Artikulation beim Zahlenreihensprechen, Schluckdiagnostik)
- Anamnese nach SAMPLERS
- vorangegangene Infektionserkrankungen, Operationen, Schwangerschaften, Einnahme bestimmter Medikamente, psychosozialen Belastungssituationen
- Vorliegen Thymoms oder anderer Tumorerkrankungen
- behandlungsrelevante Komorbiditäten (psychisch und internistisch) inkl. andere Autoimmunerkrankungen
Therapie (der krisenhaften Verschlechterung, Exazerbation, Krise)
- schnellstmögliche Aufnahme und Behandlung auf einer Überwachungs- oder Intensivstation bei drohender und manifester myasthener Krise
respiratorische Insuffizienz (nicht beatmungspflichtig)
- Lagerung mit erhöhtem Oberkörper
- Rachen freihalten, ggf. Guedel-Tubus
- Sekrete und Speichel absaugen
- Sauerstoffgabe über Maske
- SpO2-Überwachung sowie Herz-Kreislauf-Monitoring
- Anlage pVK-Zugang und Blutentnahme für Notfalllabor (Elektrolyte, v.a. Hypokaliämie; Differenzialblutbild; Gerinnung; Nierenretentionswerte; Schilddrüsenparameter
- medikamentöse Therapie
- initial 1–3 mg Pyridostigmin oder 0,5 mg Neostigmin i.v. (danach 0,25–1,0 mg/h Pyridostigmin oder 0,15–0,3 mg/h Neostigmin über Perfusor)
- Dosisadaptation nach klinischer Beurteilung (CAVE: cholinerge Nebenwirkungen, v.a starke Bronchialsekretion)
- 0,25 – 0,5 mg Atropin s. c. (3 – 6 Gaben pro Tag bei starken cholinergen Nebenwirkungen)
- Thromboseprophylaxe
- initial 1–3 mg Pyridostigmin oder 0,5 mg Neostigmin i.v. (danach 0,25–1,0 mg/h Pyridostigmin oder 0,15–0,3 mg/h Neostigmin über Perfusor)
- Ursachensuche, z.B. Infektion (Antibiose)
respiratorische Globalinsuffizienz (beatmungspflichtig)
- Grundmaßnahmen der nicht-beatmungspflichtigen respiratorischen Insuffizienz
- NIV/BiPAP bei…
- Tachypnoe/Einsatz Atemhilfsmuskulatur
- Hyperkapnie/Hypoxämie trotz Sauerstoffgabe (keine/leichte Dysphagie, freie Atemwege)
- Intubation und invasive Beatmung, falls NIV nicht möglich, z.B. bei…
- Hyperkapnie pCO2 > 45 mmHg
- Vitalkapazität < 20 mL/kg
- hohe Sekretlast
- schwere Dysphagie
- schwere Komorbidität
- Schock, Sepsis, Myokardinfarkt, Agitiertheit
- assistierte Beatmung mit CPAP-Modus (PEEP: 5 mbar; Tidalvolumen: 6 mL/kg; AF: 12–16/min)
- Sedativa mit kurzer Halbwertszeit bevorzugen
- Medikamentenpause erwägen (cholinerge Krise durch zu hohe i.v.-Gabe)
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