veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN)
Klassifikation gemäß AWMF: S2k
Datum der Veröffentlichung: 12.11.2024
Ablaufdatum: 11.11.2029
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-087
Grundsätzliches
- Myasthenia Gravis (MG) und andere myasthene Syndrome beruhen auf Störung der neuromuskulären Erregungsübertragung
- außer bei der chronischen MG sind Autoimmunprozesse verantwortlich, bei denen es durch Bildung von Auto-Antikörpern (Auto-Ak) gegen prä- oder postsynaptische Strukturen der neuromuskulären Endplatte zum Leitsymptom der belastungsabhängigen Muskelschwäche kommt
- Inzidenz der „klassischen“ MG zwischen 0,25 – 3,0 pro 100.000 Einwohner*innen
- Prävalenzschatzung der „klassischen“ MG zwischen 10 – 36 pro 100.000 Einwohner*innen
- Inzidenz & Prävalenz der early-onset MG (EOMG) bei Frauen ca. drei- bis viermal häufiger
- Inzidenz & Prävalenz der late-onset MG (LOMG) etwas häufiger bei Männern
Pathophysiologie
- Verlust von funktionsfähigen nikotinischen AChR (nAChR) an motorischer Endplatte
- verursacht durch
- direkte funktionale Blockade von AChR
- Antigen-Modulation durch „Crosslinking“ und dadurch bedingte Endozytose der AChR
- komplementvermittelte Membranschäden der Muskelmembran
- bei 70 % EOMG-Patient*innen kommt es zur Thymusentzündung (Ausgangsort der gestörten Toleranzinduktion ggü. AChR)
auslösende/zustandsverschlechternde Medikamente
- Antibiotika (Telithromycin sowie weitere Makrolide wie z.B. Erythromycin, Azithromycin, Clarithromycin; Fluorchinolone wie z.B. Ciprofloxacin, Levofloxacin, Norfloxacin; Aminoglykoside wie z.B. Gentamicin, Neomycin, Tobramycin)
- Botulinumtoxin
- Chinin
- Magnesium
- Checkpoint-Inhibitoren (u. a. Pembrolizumab, Nivolumab, Atezolizumab, Avelumab, Durvalumab, Ipilimumab)
- D-Penicillamin
- Glukokortikoide
- Betablocker
- Statine
- Deferoxamin
- jodhaltige Kontrastmittel
Symptomatik
Symptome sind oft belastungs- und/oder tageszeitabhängig
- Leitsymptom: belastungsabhängige Muskelschwäche ohne/mit gering ausgeprägte Muskelschmerzen
- initial okuläre Symptomatik durch Affektion der äußeren Augenmuskulatur sowie des Lidheber-Muskels mit Diplopien, asymmetrische (!) Ptosis, „Wimpernzeichen“ (ca. 70 %)
- ausgeprägte, häufig auch im Langzeitverlauf schwer therapierbare Fatigue-Symptomatik (im Verlauf ca. 80 %)
- bei generalisierter Form
- Extremitätenmuskulatur eingeschränkt/betroffen (zumeist proximale Betonun; z.B. erschwertes Überkopfarbeiten oder Treppensteigen)
- Kopfhalte- und Rumpfmuskulatur eingeschränkt/betroffen
- bulbäre Muskulatur: Dysphagie, Dysarthrie, Kauschwäche, Rhinolalia aperta (näselnder Klang der Stimme), Facies myopathica (Schwund mimische Muskulatur)
- Atemmuskulatur eingeschränkt/betroffen
- Belastungs-, Ruhedyspnoe
- reduzierte Vitalkapazität
- respiratorische Insuffizienz (myasthene Krise)
myasthene Exazerbation (drohende myasthene Krise)
- Trias aus
- zeitlichem Kriterium (progrediente Verschlechterung über Tage (max. 30 d)
- subjektivem Kriterium (alltagsrelevante Einschränkung bulbo-pharyngealer Funktionen, der Kopfhaltemuskulatur, der Extremitätenkraft; beginnende Atemschwäche mit reduziertem Hustenstoß)
- objektivem Kriterium (Punktberechnung)
- Red Flags
- fieberhafter Infekt in den letzten zwei Wochen mit Antibiose
- „inverse Aspiration“ (Speisen und Getränke gelangen beim Schluckakt in die Nase)
- insuffizienter Schluckakt (Husten oder Räuspern nach dem Schlucken)
- insuffizienter Hustenstoß
- aphone Dysarthrie (typisch im Satzverlauf zunehmende Phonationsschwäche mit „näselnder“ Aussprache)
- dropped head (Kopf fällt nach vorn, fixierte Parese der Kopfstrecker)
- dropped chin (Unterkiefer fällt nach (längerem) Kauen nach unten)
myasthene Krise
- lebensbedrohliche Exazerbation der MG
- respiratorische Insuffizienz
- meist auch schwere Schluckstörungen (CAVE: akute Aspirationsgefahr)
- Ursachen meist Infektionen & Medikamenteneinnahmefehler/Incompliance
Diagnostik & Anamnese
- Vorgehen nach ABCDE-Schema
- okuläre Untersuchung (Affektion der äußeren Augenmuskulatur sowie des Lidheber-Muskels mit Diplopien, asymmetrische (!) Ptosis bei Seitwärtsblick, signe de cils/„Wimpernzeichen“)
- Halteversuche (Arm-, Bein-, Kopfhalteversuch)
- bulbäre Diagnostik (Rhinolalie, Dysarthrie, verschliffene Artikulation beim Zahlenreihensprechen, Schluckdiagnostik)
- Anamnese nach SAMPLERS
- vorangegangene Infektionserkrankungen, Operationen, Schwangerschaften, Einnahme bestimmter Medikamente, psychosozialen Belastungssituationen
- Vorliegen Thymom oder anderer Tumorerkrankungen
- behandlungsrelevante Komorbiditäten (psychisch und internistisch) inkl. andere Autoimmunerkrankungen
- vegetative Anamnese
Therapie (der krisenhaften Verschlechterung, Exazerbation, Krise)
- schnellstmögliche Aufnahme und Behandlung auf einer Überwachungs- oder Intensivstation bei drohender und manifester myasthener Krise
- Plasmapherese und intravenöse Immunglobuline sind bei der Behandlung myasthener Exazerbationen als gleichwertig anzusehen
- intravenöse Immunglobuline (IVIG) als initiale Kurzzeitbehandlung zur Verkürzung der Beatmungspflichtigkeit bei myasthenen Krisen
- Gesamtdosis von 2 g/kg KG, verteilt auf 0,4 g/kg KG pro Tag, an fünf aufeinanderfolgenden Tagen (alternativ 1 g/kg KG pro Tag an zwei Tagen; ggf. auch niedrigere Gesamtdosis von 1 g/kg KG ausreichend)
respiratorische Insuffizienz (nicht beatmungspflichtig)
- Lagerung mit erhöhtem Oberkörper
- Rachen freihalten, ggf. Guedel-Tubus
- Sekrete und Speichel absaugen
- Sauerstoffgabe über Maske
- SpO2-Überwachung sowie Herz-Kreislauf-Monitoring
- Anlage pVK-Zugang und Blutentnahme für Notfalllabor (Elektrolyte, v.a. Hypokaliämie; Differenzialblutbild; Gerinnung; Nierenretentionswerte; Schilddrüsenparameter
- medikamentöse Therapie
- initial 1 – 3 mg Pyridostigmin oder 0,5 mg Neostigmin i.v. (danach 0,25 – 1,0 mg/h Pyridostigmin oder 0,15 – 0,3 mg/h Neostigmin über Perfusor)
- Dosisadaptation nach klinischer Beurteilung (CAVE: cholinerge Nebenwirkungen, v.a starke Bronchialsekretion)
- 0,25 – 0,5 mg Atropin s. c. (3 – 6 Gaben pro Tag bei starken cholinergen Nebenwirkungen)
- Thromboseprophylaxe
- initial 1 – 3 mg Pyridostigmin oder 0,5 mg Neostigmin i.v. (danach 0,25 – 1,0 mg/h Pyridostigmin oder 0,15 – 0,3 mg/h Neostigmin über Perfusor)
- Ursachensuche, z.B. Infektion (Antibiose)
respiratorische Globalinsuffizienz (beatmungspflichtig)
- allgemeine Maßnahmen der nicht-beatmungspflichtigen respiratorischen Insuffizienz
- NIV/BiPAP bei…
- Tachypnoe/Einsatz Atemhilfsmuskulatur
- Hyperkapnie/Hypoxämie trotz Sauerstoffgabe (keine/leichte Dysphagie, freie Atemwege)
- Intubation und invasive Beatmung, falls NIV nicht möglich, z.B. bei…
- Hyperkapnie pCO2 > 45 mmHg
- Vitalkapazität < 20 mL/kg
- hohe Sekretlast
- schwere Dysphagie
- schwere Komorbidität
- Schock, Sepsis, Myokardinfarkt, Agitiertheit
- Tracheotomie bei längerer Beatmungspflichtigkeit
- assistierte Beatmung mit CPAP-Modus (PEEP: 5 mbar; Tidalvolumen: 6 mL/kg; AF: 12–16/min)
- Sedativa mit kurzer Halbwertszeit bevorzugen
- bei invasiver Beatmung hoch dosierte GKS-Therapie (+/– AZA, CSA), Langzeit-Immuntherapien erwägen
- Medikamentenpause erwägen (cholinerge Krise durch zu hohe i.v.-Gabe)
- Extubation bei VC > 20 ml/kg, Ventilation (PaCO2 < 45 mmHg), Oxygenierung (FiO2/PaO2 ≥ 200), SBS pH ≥ 7,30, GCS ≥ 12, keine Erschöpfung
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