veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Klassifikation gemäß AWMF: S2k
Datum der Veröffentlichung: 31.05.2016
Ablaufdatum: 30.05.2021
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-031.html
Definition
- Suizid: von einer Person willentlich und im Bewusstsein der Irreversibilität des Todes selbst herbeigeführte Beendigung des eigenen Lebens
- Suizidversuch: jede selbstinitiierte Verhaltenssequenz eines Individuums beschrieben, welches zum Zeitpunkt des Handlungsbeginns erwartet, dass die getroffenen Maßnahmen zum Tode führen werden
- Suizidgedanken: Gedanken, das eigene Leben durch eigenes Handeln zu beenden
- Suizidplan: Formulierung einer konkreten Methode, mittels derer das Individuum plant, aus dem Leben zu treten
- akuter Suizidalität: Vorliegen einer konkreten Suizidabsicht oder drängenden Suizidgedanken mit unmittelbar drohender Suizidhandlung und zur Verfügung stehender Mittel
- chronischer Suizidalität: kontinuierlich vorhandene Suizidgedanken mit oder ohne Suizidversuch(en)
- Suiziddrohungen: verbale Äußerungen oder Handlungen beschrieben, bei denen suizidales Verhalten angekündigt wird, ohne dass die Intention besteht
- Suizidpakte: Gruppensuizide zwischen den Beteiligten, es erfolgt ein verabredeter Suizid mehrerer Personen zur selben Zeit
Leitsymptome
- Suizidalität ist ein Symptom kein Syndrom
- dimensionales Phänomen; von passiver Todessehnsucht (ohne Suizidideen) über Gedanken an Suizid ohne konkrete Planung zu akuten Suizidgedanken mit konkreter Planung bzw. konkrete Handlungsplanung oder bereits durchgeführte Suizidhandlung (Suizidversuch)
Intentionsstufen
- hoch (Todeserwartung)
- mittel (Ambivalenz)
- niedrig (keine gezielte Intention)
- keine (Abwesenheit einer Suizidabsicht)
Schweregrade von Suizidversuchen
- hoher Schweregrad:
- subjektive Einschätzung der Methode als tödlich
- Mittel objektiv gefährlich
- Entdeckung und Rettung unwahrscheinlich bis unmöglich
- mittlerer Schweregrad:
- subjektive Einschätzung des Mittels als gefährlich, aber nicht tödlich
- Entdeckung und Rettung möglich
- geringer Schweregrad:
- subjektive Einschätzung des Mittels als wenig gefährlich
- Entdeckung und Rettung möglich und wahrscheinlich
weitere Unterscheidungen
- glaubhaft keine Suizidalität (jetzt sowie in der Vorgeschichte, eigen- und fremdanamnestisch, keine Risikozeichen oder -Hinweise)
- Basissuizidalität: Ausmaß suizidaler Gefährdung eines Menschen vor dem Hintergrund seiner Lebens- und Krankheitsgeschichte sowie der aktuellen Situation
- erhöhte Basissuizidalität liegt nach klinischer Erfahrung bei folgenden Kriterien vor
- suizidale Krise u./o. Suizidversuche in der Vorgeschichte
- suizidale Handlungen auch unter Hilfe- und Therapiebedingungen
- Störung der Impuls- und Aggressionskontrolle
- Hilflosigkeits- und Hoffnungslosigkeitseinstellung
- Suizide in der Familie bzw. bei Modellen
- Zugehörigkeit zu einer Risiko-Gruppe z.B. beim Vorliegen einer psychischen Störung, besonders belastende Lebenssituationen
erhöhte Suizidgefahr
- Äußerung konkreter Todes- und Ruhewünsche
- Erkennung oder Äußerung konkreter Suizidideen und -Pläne
- keine glaubwürdige Distanzierung bei direktem Nachfragen nach Suizidalität
- fremdanamnestisch werden suizidale Äußerungen berichtet, werden aber vom Betroffenen verneint
- tiefe Hoffnungslosigkeit, die im Gespräch nicht aufhellbar ist
- mehrere Krankheitsphasen einer psychischen Störung oder chronische psychische Erkrankung
- festgelegte konkrete Zeitpunkte und Rahmenbedingungen, die einen Suizid nahe legen bzw. begründen (z.B. Todestag eines geliebten Menschen)
- subjektiv aussichtslos erscheinende Situation
akute Suizidgefahr
- konkrete Suizidabsicht wird geäußert
- Suizidhandlung geplant und bereits vorbereitet, eventuell auch abgebrochen
- ausgeprägter Leidensdruck („seelischer Schmerz“), der nicht mehr ertragbar erscheint (und damit hoher suizidaler Handlungsdruck gegeben ist)
- Autoaggressivität (selbst-aggressives Verhalten); Kind/der Jugendliche nicht mehr steuerungsfähig und damit nicht absprachefähig ist
- Gründe für ein Weiterleben bzw. gegen Suizidversuch können nicht benannt werden
nicht zu Suizidalität zählend
- Automutilation und nichtsuizidale selbstverletzende Verhaltensweisen
- Nahrungsrestriktion bei Anorexia nervosa ohne Intention zu sterben
- chronischer Substanzmissbrauch und Drogenkonsum ohne Intention zu sterben
- Risikoverhalten im Jugendalter (inkl. Mutproben) und riskanter Lebensstil (z.B. Extremsportarten) ohne Intention zu sterben
- Unfälle ohne Intention zu sterben
- sexuell motivierte Strangulationen ohne Intention zu sterben
- Selbsttötungen in nichtsuizidaler Absicht im Rahmen von akuten Psychosen bei Realitätsverkennung (z.B. Sprung aus dem Fenster in der Annahme, man könne fliegen) oder unter akuter Drogenintoxikation
- Suiziddrohungen, ausschließlich um z.B. Strafmaßnahmen oder Abschiebung zu entgehen
Warnzeichen für Suizidalität im Jugendalter
- plötzliche Verhaltensänderung
- Apathie
- Rückzug
- Änderungen im Essverhalten
- unübliche Beschäftigung mit Sterben oder Tod
- Verschenken persönlicher Gegenstände
- Symptome einer Depression, traurige Grundstimmung
- Stimmungsschwankungen, erhöhte emotionale Labilität
- (deutliche) Hoffnungslosigkeit
- deutliche Schuldgefühle und Selbstvorwürfe
- Gefühl der Wertlosigkeit
- Äußerung „altruistischer“ Suizid- bzw. Opferideen
- Agitiertheit bzw. Antriebssteigerung
- ausgeprägte Schlafstörungen
- kürzliches Verlusterlebnis
- eingeschränkte Problemlöse-Ressourcen
- dichotomes („Schwarz-Weiß“) Denken
- Vorliegen einer psychosozialen Krise
störungsspezifische Diagnostik
- in welche Situationen sollte an Suizidalität gedacht werden?
- beim Vorliegen psychischer Störungen
- bei unklaren Verletzungsmustern, Unfällen mit nicht durchgehend nachvollziehbarem Unfallhergang und Intoxikationen
- beim Vorliegen unerklärlicher Complianceprobleme bei schwerwiegenden körperlichen Erkrankungen (z.B. keine Insulininjektionen bei Diabetes mellitus)
- beim Vorliegen von Risikofaktoren
- bei Verdacht auf Suizidalität und insbesondere Suizidversuchen in der Vorgeschichte
- bei Verhaltensänderungen des Jugendlichen und dem Vorliegen von Warnzeichen
- bei Hinweisen aus dem sozialen Umfeld auf Suizidäußerungen oder -andeutungen des Jugendlichen gegenüber Dritten
- bei Äußerung von Hoffnungslosigkeit, starkem Überforderungserleben, Todeswunsch bzw. schon konkreten Suizidideen
- in folgenden Situationen bei Suizidversuchen bzw. Suiziden im Umfeld des Jugendlichen (aufgrund der Gefahr der Nachahmung)
- assoziierte psychische Störungen und Probleme (Risikofaktoren)
- depressiven und bipolaren Störungen
- Angsterkrankungen und anderen emotionalen Störungen
- Essstörungen
- Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS)
- Störungen des Sozialverhaltens (erhöhte Impulsivität)
- Persönlichkeitsstörungen
- Belastungsreaktionen
- schizoaffektiven oder schizophrenen Psychosen
- sexueller Identitätsstörung
- Anamnese und Verhaltensdiagnostik
- Suizidversuch wichtigster Indikator für Krisenintervention und Akutbehandlung
- ausführliche Anamnese der Suizidhandlung sowie ihrer Begleitumstände, Vorgeschichte, aktueller Risikofaktoren und Vorliegen psychischer Störungen und/oder somatische Erkrankungen sowie aktuelle und chronische Belastungsfaktoren, gefolgt von der weiteren psychiatrischen Anamnese unter besonderer Berücksichtigung der Fremdanamnese
- erfragt werden sollten bei Suizidversuchen
- Ablauf und Art der suizidalen Handlung (erstmaliges Auftreten der Gedanken; Suizidmittelbeschaffung; geplant oder spontan?)
- Was ging der Suizidhandlung voraus (Gründe)?
- Intentionalität der Suizidhandlung (Ernsthaftigkeit des Versuchs, Distanzierung von Handlung
- dem Versuch folgende Bedingungen (Reaktion Bezugspersonen; erwartete Konsequenzen)
- erfragt werden sollten, wenn noch keine Suizidversuch erfolgte
- Exploration der Stimmung und des Affekts
- Intensität der passiven Todessehnsucht
- bei Angabe konkreter Pläne Prüfung ob schon mit Vorbereitungen begonnen wurde und was bis jetzt davon abgehalten hat
- Unterscheidung in
- langfristige Gefährdung eines Patienten (aufgrund bestimmter Risikofaktoren, eine suizidale Handlung zu begehen)
- akute, kurzfristige Gefährdung eines Patienten (aufgrund einer Krisensituation, akut eine suizidale Handlung zu begehen)
- Einschätzung der Suizidalität sollte durch Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut oder einen Arzt oder psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt, erfolgen
- bei V.a. Vorliegen von Suizidalität sollte eine körperlichneurologische Untersuchung inkl. Hautinspektion erfolgen
- bei gefährdeten Patienten soll die Abklärung der Suizidalität wiederholt im Verlauf erfolgen
- bei V.a. Vorliegen psychischer Störungen soll erweiterte Diagnostik erfolgen
Intervention
- Algorithmus zu Behandlungsentscheidungen bei Suizidalität
- rechtliche Grundlagen
- Unterbringung gemäß jeweiligem Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) der Bundesländer oder Unterbringungsgesetzen
- bei Kindern & Jugendlichen zwei vorzuziehende Alternativen:
- Eltern kooperativ und sehen dringende Behandlungsbedürftigkeit ihres suizidalen Kindes, welches nicht mit Unterbringung einverstanden ist → Antrag gemäß § 1631b BGB beim Familiengericht stellen; in Akutsituation auch direkt aus Klinik möglich
- bei guter Kooperation mit Jugendhilfe und rund um die Uhr besetzter Stelle für Inobhutnahmen, auch Inobhutnahme in Klinik nach § 42 KJHG bei akuter Selbstgefährdung, auch gegen den Willen des Patienten, möglich
- fachfremde Interventionen
- • nach Einweisung aufgrund von Suizidversuch muss in erstversorgender somatischer Klinik (Kinderklinik, Kinderchirurgie, Innere, Chirurgie…) bzw. Praxis neben der fachärztlichen medizinischen Erstversorgung, aktiv Sorge dafür getragen werden, dass der Patient sich nicht weiteren Schaden zufügen kann (nicht alleine lassen!)
- vor Verlegung müssen alle somatischen Untersuchungen, variieren nach Suizidmethode, durchgeführt werden (wie z.B. Detoxikation bei Intoxikation und intensiv-medizinische Überwachungspflichtigkeit oder bereits durchgeführte und unauffällige Doppler-Untersuchung der Karotiden bei Beinahe/-Erhängen oder Spätkomplikationen durch Nekrosen bzw. IntimaEinblutung und Aneurysmabildung)
- Pharmakotherapie
- in Ergänzung zu Überwachung und Betreuung/Gespräch ggf. vorübergehend zur Entlastung sedierende Medikation notwendig
- entweder Benzodiazepine (z.B. Lorazepam) oder niedrigpotente Neuroleptika (z.B. Pipamperon, Levomepromazin, Chlorprothixen, Melperon)
- vorher Kontraindikationen überprüfen!!!
- Überwachung und Dokumention von Vitalparametern
- unbedingt zu vermeidende, häufig vorkommende Fehler
- Moralisieren, Vorwürfe machen, feindliche, ablehnende Haltung
- Bagatellisierungstendenzen nicht erkennen oder sogar übernehmen
- durch übersteigertes emotionales Engagement suizidales Verhalten ungewollt verstärken
- unreflektierte, vorschnelle Lösungsvorschläge machen
- nach gescheitertem Suizidversuch Hinweise geben für effektivere Tötungsmethoden
- von der Methode voreilig auf Intention/Todesabsicht schließen
- zuviel Zeit vergehen lassen zwischen Suizidversuch und nötigem Konsil in der akutversorgenden Klinik
- Verkennung von suizidalen Handlungen bei Unfällen, Medikamentenüberdosierungen und Drogenintoxikationen!
- in Trugschluss verfallen, das jemand, der vorher einen Suizid ankündigt, diesen nicht durchführen würde
- Haltung vertreten, dass Suizidalität bei Kindern/Jugendlichen freie Willensentscheidung darstellt, die es zu tolerieren/ akzeptieren gilt
- akut suizidale Jugendliche unbeaufsichtigt lassen oder nicht umgehend eine Einweisung mit adäquat begleitetem Transport veranlassen
- Suizidversuch voreilig als demonstrativ bewerten und dementsprechend handeln
- mangelhafte Erhebung einer ausführlichen Suizidanamnese
- nicht zu besprechen, an wen sich der Patient bei wieder auftretenden Suizidgedanken wenden kann („Notfallplan“)
- Eltern (Betreuer) nach Suizidversuch nicht ausführlich zu beraten
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