veröffentlichende Fachgesellschaft: National Institute for Health and Care Excellence (NICE)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 19.11.2025
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://www.nice.org.uk/guidance/ng255
„Think Sepsis, say Sepsis“
- bei Personen mit Symptomen/Anzeichen einer möglichen Infektion an eine mögliche Sepsis denken
- berücksichtigen, dass Menschen mit Sepsis unspezifische, nicht lokalisierbare Symptome haben können, z.B. sich unwohl fühlen und kein hohes Fieber haben
- besonderes Augenmerk auf die von der Person selbst und den Angehörigen o.Ä. geäußerten Bedenken legen, z.B. auf Verhaltensänderungen
- bei Personen mit V.a. Sepsis ist besondere Sorgfalt geboten, wenn die Anamnese schwierig zu erheben ist, z.B. bei fremdsprachigen Personen oder bei Personen mit Kommunikationsschwierigkeiten (wie Lernbehinderungen oder Autismus)
- Personen mit V.a. Infektion untersuchen, um Folgendes festzustellen:
- mögliche Infektionsquelle
- Faktoren, die das Sepsisrisiko erhöhen
- jegliche Anzeichen klinischer Besorgnis, wie etwa neu aufgetretene Verhaltens-, Kreislauf- oder Atmungsstörungen
- Nutzung strukturierter Beobachtungsschemata, um Personen im persönlichen Gespräch zu beurteilen und das Risiko bei V.a. Sepsis einzuschätzen
- Verwendung eines Frühwarnsystems zur Beurteilung von Frauen mit V.a. Sepsis, die schwanger sind oder kürzlich schwanger waren
- bei Patient*innen mit folgenden Symptomen neutropenische Sepsis vermuten
- aktuelle systemische Krebsbehandlung oder in den letzten 30 Tagen
- immunsuppressive Therapie
Risikofaktoren
- Schwangere, die in den letzten 6 Wochen entbunden haben oder eine Fehlgeburt hatten, besteht ein hohes Risiko für eine Sepsis, v.a. für folgende Personen
- geschwächtes Immunsystem aufgrund von Krankheit oder Medikamenten
- Diabetes, Schwangerschaftsdiabetes oder andere Begleiterkrankungen
- notwendige invasive Eingriffe (z. B. Kaiserschnitt, Zangengeburt, etc.)
- längerer Blasensprung
- enger Kontakt zu Personen mit Gruppe-A-Streptokokken-Infektion
- anhaltende vaginale Blutungen oder übelriechender vaginaler Ausfluss
- weitere Faktoren, die das Risiko einer Sepsisentwicklung oder einer verzögerten Diagnose erhöhen können
- Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit
- klinische Merkmale wie
- Gebrechlichkeit
- Multimorbidität oder schwere chronische Erkrankungen
- geschwächtes Immunsystem aufgrund von Krankheit oder Medikamenten
- OPs oder invasive Eingriffe in den letzten 6 Wochen
- Dauerkatheter
- wiederholte Antibiotikaeinnahme
- Hautverletzungen
- Kommunikationsschwierigkeiten, z.B. bei Menschen
- mit Lernschwierigkeiten
- mit kognitiver Beeinträchtigung
- soziale, wirtschaftliche oder ökologische Faktoren wie Obdachlosigkeit oder Leben in sozial benachteiligten Gebieten
Diagnostik & Untersuchung
- Erhebung von Temperatur, HF, Puls, AF, RR, AVPU/WASB, SpO2 bei V.a. Sepsis
- bei V.a. Sepsis körperliche Untersuchung bzgl. mamoriertem/aschfahlem Hautkolorit, Haut-/Lippen-/Zungenzyanose, nicht wegdrückbarer petechialer oder purpurischer Hautausschlag, Hautverletzungen (z.B. Schnitte, Verbrennungen oder Hautinfektionen) oder andere Hautausschläge, die auf eine mögliche Infektion hinweisen können
- Abklärung der Miktionshäufigkeit in den letzten 18 h
- Anamnese bzgl. kürzlich aufgetretenem Fieber oder Schüttelfrost
Interpretation der diagnostischen Ergebnisse
- Fieber oder Unterkühlung allein reichen nicht aus, um Sepsis auszuschließen oder zu bestätigen
- berücksichtigen, dass einige Patient*innengruppen mit einer Sepsis möglicherweise keine erhöhte Temperatur entwickeln, z.B.
- Menschen mit chronischen Krankheiten, Behinderungen oder komplexen Pflegebedürfnissen
- Menschen, die wegen Krebs behandelt werden
- Menschen, die schwer an Sepsis erkrankt sind
- Menschen mit einer Rückenmarksverletzung
- berücksichtigen, dass ein Temperaturanstieg eine physiologische Reaktion sein kann, z.B. nach OP oder Trauma
- Herzfrequenz bei V.a. Sepsis im Kontext interpretieren, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:
- Ruheherzfrequenz kann bei jungen Menschen und fitten Erwachsenen niedriger sein
- „normale“ Herzfrequenz in der Schwangerschaft ist um 10 – 15 Schläge pro Minute höher als normal
- Herzfrequenzreaktion kann durch Medikamente wie Betablocker beeinflusst sein
- Blutdruckwerte, sofern bekannt, im Kontext zu vorherigen Blutdruckwerte interpretieren (CAVE: normaler Blutdruck bei jungen Menschen schließt Sepsis nicht aus)
- Bewusstsein & Kognition
- kognitiven Zustand im Kontext der normalen Funktionsfähigkeit interpretieren und Veränderungen als bedeutsam werten
- CAVE: Veränderungen der Kognition können subtil sein
- berücksichtigen, dass eine erschwerte SpO2-Messung bei V.a. Sepsis auf eine verminderte periphere Durchblutung aufgrund eines Schocks hindeuten kann
Risikobewertung
| hohes Risiko | moderates bis hohes Risiko | |
|---|---|---|
| Anamnese | – objektive Hinweise auf neu aufgetretene Bewusstseinsstörungen | – (Fremd)Anamnese über neu aufgetretene Verhaltens- oder Bewusstseinsveränderungen – Vorgeschichte einer akuten Verschlechterung der Funktionsfähigkeit – geschwächtes Immunsystem (Krankheit oder Medikamente, inkl. oraler Steroide) – Trauma, Operation oder invasive Eingriffe in den letzten 6 Wochen |
| Atmung | – Tachypnoe (AF > 25/min) – erhöhter O2-Bedarf (FiO2 > 40 %) zur Aufrechterhaltung einer Sättigung > 92 % bzw. > 88 % bei bekannter chronischer hyperkapnischer respiratorischer Insuffizienz) | – erhöhte AF (21 – 24/min) |
| Blutdruck | RRsys < 90 mmHg ODER RRsys > 40 mmHg unter Normalwert | RRsys zw. 91 – 100 mmHg |
| Kreislauf | – Puls > 130/min – keine Miktion in den letzten 18 h (bei Patient*innen mit Katheter < 0,5 mL/kg Urin/h) | – Puls zw. 100 – 130/min – keine Miktion in den letzten 12 – 18 h (bei Patient*innen mit Katheter 0,5 – 1 mL/kg Urin/h) |
| Temperatur | tympanal < 36°C | |
| Hautkolorit | – marmorierte oder aschfahle Haut – Haut-, Lippen- oder Zungenzyanose – nicht wegdrückbarer petechialer oder purpurischer Hautausschlag | Anzeichen einer möglichen Infektion, inkl. Rötung, Schwellung oder Wundsekretion an der Operationsstelle oder Wundheilungsstörungen |
Management
- bei Einlieferung/Vorstellung Suche nach Infektionsquelle (Urinanalyse, Thorax-Röntgen, Bildgebung von Abdomen & Becken)
- vor Antibiotika-Gabe mikrobiologische und Blutproben entnehmen
- Laboruntersuchung (BGA, BZ, Laktat, großes Blutbild, CRP, Harnstoff, Elektrolyte, Kreatinin, Leberwerte, Gerinnungswerte)
- unverzügliche Gabe eines Breitspektrum-Antibiotikums (innerhalb 1 h nach Diagnose) entsprechend den bestehenden lokalen Leitlinien zur antimikrobiellen Therapie
- unverzüglicher Flüssigkeitsbolus i.v. von 10 mL/kg über weniger als 10 min bei Personen mit V.a. Sepsis, die schwanger sind oder vor Kurzem schwanger waren, ein hohes Risikokriterium erfüllen und entweder einen Laktatwert > 4 mmol/L oder einen RRsys < 90 mmHg (Verwendung von glukosefreien Kristalloidlösungen mit Natriumgehalt von 130 – 154 mmol/L)
- Gabe eines Flüssigkeitsbolus i.v. bei Personen mit V.a. Sepsis, die schwanger sind oder vor Kurzem schwanger waren, ein hohes Risikokriterium erfüllen und entweder einen Laktatwert zw. 2 – 4 mmol/L erwägen
- regelmäßiges Monitoring (mind. alle 30 min)
- zweiten Flüssigkeitsbolus erwägen, wenn keine Besserung eintritt
- O2-Gabe (Ziel-SpO2 von 94 – 98 % bei Personen ab 18 Jahren bzw. 88 – 92 % bei Personen mit dem Risiko für eine hyperkapnische respiratorische Insuffizienz); bei Patient*innen < 18 Jahren O2-Gabe bei SpO2 < 92 %


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