veröffentlichende Fachgesellschaft: European Society for Trauma and Emergency Surgery (ESTES)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 11.04.2025
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1007/s00068-025-02852-4
angemessene und notwendige Empfehlungen
Prähospitalphase
- Stop the Bleeding
- aktive Blutungen immer stoppen, wenn eine Blutstillung in der prähospitalen Umgebung möglich ist
- Anlage Beckenschlinge bei Patient*innen mit klinischen Zeichen einer (instabilen) Beckenringverletzung und hämodynamischer Instabilität
- aktive Extremitätenblutungen nach dem folgendem Stufenschema behandeln
- (1) manuelle Kompression
- (2) Kompressionsverband, wenn möglich, in Kombination mit hämostatischen Mitteln
- (3) Tourniquet
- sofern andere Möglichkeiten der Blutstillung bestehen, kann die manuelle Kompression, auch wenn sie ausreichend ist, zugunsten anderer Verfahren aufgegeben werden (CAVE: bei manueller Kompression kein wiederholtes Überprüfen, ob Blutung sistiert)
- Tourniquet verwenden, wenn lebensbedrohliche Blutungen nicht rechtzeitig durch andere Maßnahmen gestoppt werden können
- wenn Tourniquet zur proximalen Kontrolle einer unzugänglichen, aber komprimierbaren Blutung angelegt wurde, so ist die Indikation im Verlauf neu zu bewerten und alternative Anästze in Betracht zu ziehen, wenn dies hämodynamisch realisierbar ist (CAVE: dokumentierte Dauer der Ischämie durch Tourniquet berücksichtigen)
- Atemwegsmanagement, Beatmung und Notfallanästhesie
- bei polytraumatisierten Patient*innen mit Apnoe oder agonaler Atmung (AF < 6) müssen Notanästhesie, endotracheale Intubation und Beatmung in der Präklinik durchgeführt werden
- hämodynamische Veränderungen bei der Einleitung genau überwachen und ggf. frühzeitig behandeln
- polytraumatisierte Patient*innen vor Narkoseeinleitung präoxygenieren
- regelmäßige Schulung in der Durchführung und Unterstützung von Narkose, ETI sowie alternativen Methoden der Atemwegssicherung
- bei endotrachealen Intubation von Traumapatient*innen muss mit schwierigem Atemweg gerechnet werden
- während Einleitung und ETI von Polytraumatisierten müssen alternative Methoden zur Sicherung der Atemwege zur Verfügung stehen
- nach > 2 Intubationsversuchen müssen alternative Methoden zur Beatmung und/oder Atemwegssicherung erwogen werden
- Überwachung von EKG, RR, SpO2, etCO2 während und nach ETI & Beatmung
- etCO2 zur Lagekontrolle und weiteren Überwachung der Suffizienz
- bei Polytraumatisierten ist eine Normoventilation anzustreben
- regelmäßige arterielle Blutgasanalysen zur Überwachung/Kontrolle der Beatmung
- RSI zur Minimierung des Aspirationsrisikos bei Polytraumapatient*innen
- Umintubation von SGA aus Präklinik mittels Videolaryngoskopie auf ETI in der Klinik
- Koniotomie mittels chirurgischer Technik (wenn Expertise für andere Koniotomietechniken vorhanden, kann diese durchgeführt werden)
- bei Intubation mit Videolaryngoskopie Führungsstab oder „Bougie“ verwenden
- Gerinnungsmanagement und Volumenersatz
- Anlage i.v.-Zugang bei Traumapatient*innen (alternativ i.o.-Zugang, wenn i.v. nicht möglich)
- Gabe von Vasopressoren zur Kreislaufunterstützung titriert erwägen, wenn Volumentherapie keinen adäquater Blutdruck ermöglicht
- tödlicher Trias aus Hypothermie, Azidose und Koagulopathie sollte bereits prähospital therapiert werden (Wärmemanagement mit Normothermie als Ziel; Blutungskontrolle, Volumen- und Gerinnungstherapie zur Therapie des hämorrhagischen Schocks; angemessene Oxygenierung und Beatmung)
- Analgesie
- Analgesie i.v. bei schwerverletzten Patient*innen (bei ansprechbaren Schwerverletzten sollte Analgesie erfragt bzw. in Betracht gezogen werden)
- NRS zur Objektivierung und Dokumentation von Schmerzen sowie zur Erfolgskontrolle der Analgesie verwenden (NRS ist nicht bei allen Patient*innen anwendbar, alternativ Patient*innen nach ihrem subjektiven Schmerzniveau fragen
- Ziel-NRS nach Analgesie sollte bei NRS ≤ 4 liegen
- zusätzlich zur pharmakologischen Therapie Einsatz physikalischer Maßnahmen (z.B. Lagerung, Schienung)
- Gabe von Analgetika nach entsprechender Aufklärung und Schulung unter ständiger Überwachung (z.B. EKG, Blutdruck, AF, HF, SpO2 und ggf. Kapnographie; CAVE: für Komplikationen sollte Notfallausrüstung zur Verfügung stehen)
- Thoraxverletzungen
- klinische Untersuchung des Thorax und der Atemfunktion ist obligat
- vorläufige Diagnose eines Pneumothorax und/oder Hämothorax sollte gestellt werden, wenn Atemgeräusche einseitig fehlen oder abnehmen (nach Kontrolle der korrekten Platzierung des Tubus) oder wenn sonografische Anzeichen vorhanden sind
- sofortige Dekomprimierung eines klinisch vermuteten Spannungspneumothorax
- offenen Pneumothorax mit geeignetem Ventilverband versorgen
- traumatische Hirnverletzungen
- wiederholte Untersuchungen und Dokumentation von Bewusstseinszustand, Pupillenfunktion und GCS
- keine Gabe von Glukokortikoiden
- ausgeschlagene Zähne und Zahnfragmente sammeln und in einer feuchten Lösung aufbewahren und mit den Patient*innen mitführen
- Wirbelsäule
- gezielte körperliche Untersuchung, die die Wirbelsäule und die damit verbundenen Funktionen umfasst
- bei Bewusstlosen von Wirbelsäulenverletzung ausgehen bis zum Gegenbeweis
- bei schneller und vorsichtiger Rettung HWS vor eigentlicher technischer Rettung ruhigstellen (Ausnahme: sofortige Rettung, z.B. bei Feuer oder Explosionsgefahr)
- Transport sollte so schonend und schmerzfrei wie möglich sein
- Extremitätenverletzungen
- stark blutende, lebensbedrohliche Extremitätenverletzungen müssen vorrangig behandelt werden
- Behandlung von Extremitätenverletzungen muss weitere Schäden vermeiden und darf die Gesamtrettungszeit nicht verzögern, wenn andere lebensbedrohliche Verletzungen vorliegen
- Transport und Zielkrankenhaus
- bei penetrierenden Thorax- oder Bauchverletzungen schnellstmöglicher Transport in nächstgelegenes Traumazentrum
- Zur Vermeidung von Überleitungsproblemen bei der Registrierung und/oder Verlegung von Schwerverletzten müssen geeignete und standardisierte Kommunikationsmethoden eingesetzt werden
- MANV
- jedes Krankenhaus sollte eine Krankenhausalarm- und -einsatzplanung erstellt, umgesetzt und regelmäßig evaluiert haben
- Vorbereitung auf das Szenario eines (Terror) MANV sollte durch regelmäßige Übungen erfolgen
Notaufnahme
- Trauma-Team und Aktivierung
- Vorhaltung eines speziellen Team („Trauma-Team“) für die Versorgung von Polytrauma-Patient*innen, welches nach klaren Plänen arbeitet und/oder eine spezielle Ausbildung absolviert hat
- interprofessionelles Trauma-Team muss aus mind. 2 Pflegekräften und mind. 2 Ärzt*innen bestehen, die über Fachwissen in den Bereichen Notfallmedizin und -chirurgie verfügen
- Traumazentren müssen jederzeit erweiterte Traumateams entsprechend der Versorgungsstufe des Krankenhauses vorhalten
- Trauma-Team sollte bei folgenden pathologischen Befunden oder Verletzungen nach einem Trauma aktiviert werden:
A/B—Problem
– Atemnot (SpO2 < 90%)/erforderliche Atemwegssicherung
– Atemfrequenz < 10 oder > 29
C-Problem
– RRsys < 90 mmHg
– Herzfrequenz > 120/min
– Schock-Index > 0,9
– eFAST positiv
D-Problem
– GCS ≤ 12
E-Problem
– Hypothermie < 35,0 °C
- instabiler Thorax
- instabiles Becken
- penetrierende Verletzung der Rumpf-Hals-Region
- Amputationsverletzung proximal der Hände/Füße
- sensomotorisches Defizit nach Wirbelsäulenverletzung
- prähospitale Interventionen (erforderliche Atemwegssicherung, Thoraxdekompression, Katecholamingabe, Perikardiozentese oder Tourniquet-Anlage)
- Reanimation (Wiederbelebung)
- bei Bewusstlosigkeit und fehlender/unregelmäßiger Atmung sofortige Einleitung von CPR
- bei Therapie einer Trauma-Reanimation muss betont werden, dass sich die Pathophysiologie von der eines nicht-traumatischen Herzstillstands unterscheidet und die Vorgehensweise daher grundlegend anders ist
- Trauma-Reanimation sollte sich auf die sofortige und gleichzeitige Behandlung potenziell reversibler Ursachen konzentrieren und hat Vorrang vor der Thoraxkompression
- während CPR müssen traumaspezifische, reversible Ursachen des Herzstillstands gemäß ABCDE (z.B. äußere Blutungen, Atemwegsobstruktion, Spannungspneumothorax, Herzbeuteltamponade und Hypovolämie) diagnostiziert, ausgeschlossen und/oder behandelt werden
- bei Trauma-Reanimation sollte sequenzielles Vorgehen verfolgt werden mit
- (1) Blutstillung (bei massiven äußeren Blutungen)
- (2) Atemwegssicherung
- (3) beidseitige Thoraxdekompression durch chirurgische Minithorakotomie
- (4) nicht-invasive externe Stabilisierung des Beckens
- (5) Gabe von Blutprodukten
- (6) unter bestimmten Umständen zusätzlich Notfallthorakotomie zur Beseitigung einer Perikardtamponade und/oder proximale Aortenklemmung oder REBOA
- Notfallthorakotomie im Krankenhaus sollte bei folgenden Indikationen (prähospitale Reanimation < 10 min, Herz-Kreislauf-Stillstand im Schockraum) im Rahmen eines beobachteten Herz-Kreislauf-Stillstands durchgeführt werden
- vor Beendigung der Wiederbelebungsmaßnahmen müssen alle potenziell reversiblen Ursachen des traumatischen Herzstillstands ausgeschlossen oder behandelt werden
- wenn die CPR nach Ausschluss aller möglichen traumaspezifischen, reversiblen Ursachen für den Herzstillstand frustran verläuft, muss die kardiopulmonale Reanimation beendet werden
- bei eindeutigen Todeszeichen oder Verletzungen, die mit dem Leben unvereinbar sind, darf keine kardiopulmonale Wiederbelebung eingeleitet werden
- Gerinnungsmanagement und Volumentherapie
- traumabedingte Koagulopathie ist ein eigenständiges Krankheitsbild mit deutlichen Auswirkungen auf das Überleben, daher muss spätestens in der Notaufnahme mit der Gerinnungsbeurteilung und -therapie begonnen werden
- zu den grundlegenden Laboruntersuchungen bei schweren Traumata mit Blutungen gehören die frühzeitige und wiederholte Messung der Blutgase (BGA), PT, aPTT, Fibrinogen und Thrombozytenzahl sowie die Bestimmung der Blutgruppe
- bei der Behandlung von schwer Verletzter mit aktiver Blutung in der Notaufnahme ist zusätzlich zu anderen diagnostischen Untersuchungen und der Therapie der traumabedingten Koagulopathie eine frühzeitige viskoelastische Untersuchung durchzuführen
- Ausmaß des Schocks sowie die Behandlung des Schocks durch wiederholte Messungen des Base Excess und/oder des Laktatspiegels überwachen bzw. kontrollieren
- Steuerung der Gerinnungsdiagnostik und -therapie durch viskoelastische Testverfahren
- bei stark blutenden Patient*innen schnellstmögliche Gabe von Tranexamsäure (auch schon prähospital)
- Entscheidung über Art und den Beginn der Thromboseprophylaxe innerhalb von 24 h nach Blutstillung
- Anlage eines ZVK sollte ultraschallgesteuert erfolgen, sofern unmittelbar verfügbar
- Bildgebung
- wenn unklar ist, ob relevante Beckenverletzungen vorliegen und ein CT nicht sofort möglich ist, können Röntgenaufnahmen des Beckens gemacht werden
- im Rahmen der Diagnostik bei schwer verletzten Patienten muss zeitnah ein Ganzkörper-CT (Kopf bis inkl. Becken, cCT ohne Kontrastmittel) mit traumaspezifischen Protokoll erfolgen, wenn keine unmittelbare Notwendigkeit für Interventionen/OP und/oder Reanimation besteht und der RRsys > 60 mmHg ist
- MRT ggf. bei spezifischen Fragestellungen (z.B. morphologisches Korrelat bei Querschnittssymptomatik) in der weiteren Primärdiagnostik indiziert (CAVE: für MRT im Rahmen der Erstdiagnostik von schwerverletzter/polytraumatisierten Patient*innen müssen umfangreiche Voraussetzungen erfüllt sein; entsprechende Vorgaben sollten in SOPs standortspezifisch vorhanden sein)
- interventionelle Kontrolle von Blutungen oder Gefäßverletzungen
- endovaskuläre Behandlung von Gefäßverletzungen bei hämodynamisch stabilisierten Patient*innen in Erwägung ziehen, sofern Expertise und Equipment vorhanden sind
- Thoraxverletzungen
- klinische Untersuchung des Thorax ist obligat
- Auskultation muss zusammen mit körperlicher Untersuchung erfolgen
- kontinuierliche Überwachung mit 4-Kanal-EKG zur Kontrolle der Vitalfunktionen/von Myokardschäden
- bei V.a. stumpfe Herzverletzung 12-Kanal-EKG in Verbindung mit HS-Troponin-Serumspiegel-Bestimmung durchführen
- klinisch relevanter oder fortschreitender Pneumothorax bei beatmeten Patient*innen muss primär durch Thoraxdrainage dekomprimiert werden
- eFAST-Sonographie bei hämodynamisch instabilen Patient*innen mit Thoraxtrauma, um Perikardtamponade auszuschließen
- Thorakotomie kann sowohl bei stabilen als auch bei instabilen Patient*innen mit initial hohem Blutverlust oder anhaltendem Blutverlust über die Thoraxdrainage durchgeführt werden
- alternativ zur Thorakotomie kann bei kardio-pulmonal stabilen Patient*innen eine VATS (Video-assistierte Thorakoskopie) durchgeführt werden
- Abdomen
- Abdomenuntersuchung ist obligat, auch wenn eine unauffällige Untersuchung eine relevante intraabdominale Verletzung nicht ausschließt, selbst bei nicht-bewusstlosen Patient*innen
- Multislice-Computertomographie (MS-CT) hat hohe Sensitivität und höchste Spezifität für den Nachweis intra-abdominaler Verletzungen und muss daher nach Abdominaltrauma erfolgen
- Becken
- Ausschluss akut lebensbedrohlicher Beckenverletzung bei KH-Einlieferung
- bei V.a. knöchernde Verletzungen des Beckens sollten Röntgen des Beckens oder CT erfolgen
- bei mechanisch instabilem Beckenring und hämodynamischer Instabilität muss notfallmäßige mechanische Stabilisierung des Beckens durchgeführt werden
- traumatische Hirnverletzung
- wiederholte Untersuchungen und Dokumentation von Bewusstseinszustand, Pupillenfunktion und GCS
- normale Sauerstoff-, Kohlendioxid- und Blutdruckwerte anstreben (CAVE: Absinken der SpO2 < 90 % vermeiden)
- bewusstlose Patienten (GCS ≤ 8) müssen intubiert und angemessen beatmet werden (Steuerung mittels Kapnometrie und BGA)
- bei Erwachsenen normalen arterieller Druck mit RRsys ≥ 110 mmHg anstreben
- cCT bei Polytrauma mit V.a. SHT
- bei neurologischer Verschlechterung Kontroll-CT durchführen
- Bei der Behandlung eines Schädel-Hirn-Traumas muss die Gabe von Glukokortikoiden vermieden werden.
- HWS
- Bei der Behandlung von Halsverletzungen muss die Sicherung der Atemwege Vorrang haben
unsicher eingestufte Empfehlungen
Prähospitalphase
- bei blutenden Stichverletzungen, bei denen der Fremdkörper bereits entfernt wurde und die mindestens eine Länge von 3 cm haben, sollte direkte Wundtamponade mit einem Hämostatikum auf Chitosanbasis erfolgen
- bei Unsicherheiten in der Beurteilung der korrekten Tubuslage durch die Kapnographie (z. B. bei schwerem Schock, Hypothermie, HLW oder Geräteversagen) sollte die Tubuslage sofort durch Videolaryngoskopie oder alternativ durch Bronchoskopie überprüft werden
- Fentanyl, Ketamin und Morphin haben vergleichbare Wirksamkeit und sollten zur Analgesie bei spontan atmenden Schwerverletzten eingesetzt werden
Notaufnahme
- REBOA kann zur vorübergehenden proximalen Blutstillung im Rahmen einer Trauma-Reanimation etabliert werden
- zusätzliche Gabe von Fibrinogen bei lebensbedrohlichen Blutungen und/oder Schock (initial 3 – 6 g oder 30 – 60 mg/kg)
- Becken muss physisch untersucht werden
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