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Safety First – Was ist Medical Gaslighting?

„Medical Gaslighting“ stellt ein großes und relevantes Problem in Bezug auf die Sicherheit unserer Patient*innen, da es hier zum Beispiel zu fehlerhaften und/oder verspäteten Diagnosen kommen kann oder die Patient*innen werden zusätzlich psychisch geschädigt. Aber was ist eigentlich „Medical Gaslighting“? Dieser Frage wollen wir im heutigen Beitrag nachgehen.

Was ist Medical Gaslighting?

Um zu erklären, was „Medical Gaslighting“ ist, ist es erst einmal notwendig den Begriff des „Gaslighting“ im Allgemeinen zu definieren. Beim „Gaslighting“ kommt es dazu, dass jemand, der Macht hat, eine andere Person durch Manipulation dazu bringt, an ihrem eigenen Urteilsvermögen oder sogar an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Hierbei kommen Verhaltensweisen zum Einsatz, die die Autorität der anderen Person, ihre eigenen Erfahrungen zu beurteilen, entkräften oder infrage stellen (Person wird gezielt desorientiert, verunsichert und in ihrem Realitäts- und Selbstbewusstsein allmählich beeinträchtigt). Der Begriff selbst entstammt dem Theaterstück „Gas Light“ aus dem Jahr 1938 bzw. die Schwarz-Weiß-Verfilmung des Theaterstücks aus dem Jahr 1944. In diesem Film erfährt die Hauptperson psychischen Missbrauch durch ihren Ehemann.

Eine einzige, konsentierte Definition des Begriffs „Medical Gaslighting“ gibt es nicht, aber kurz und knapp gesagt kommt es beim „Medical Gaslighting“ dazu, dass Patient*innen sich mit tatsächlichen Symptomen vorstellen, aber abgewiesen oder nicht ernst genommen werden. Behandler*innen werten hierbei z.B. Symptome wie Schmerzen, Bewegungseinschränkungen oder neurologischen Beschwerden als übertrieben oder stempeln die Vorstellungsgründe der Patient*innen sogar als eingebildet ab. Das Thema des „Gaslighting“ im medizinischen Kontext ist erst im Jahr 2022 durch Artikel in Psychology Today und The New York Times in den Fokus geraten und so Bewusstsein geschaffen für dieses relevante Problem.

Absolut wichtig ist es aber zu betonen, dass das „Medical Gaslighting“ im Unterschied zum generellen & bewussten „Gaslighting“ i.d.R. unbeabsichtigt erfolgt, sodass der Begriff ein wenig irreführend ist und per se eine manipulierende Absicht unterstellt.

Hinsichtlich dieses viel diskutierten Themas gibt es aber auch immer wieder Kritik, u.a. das der Begriff zu viel Verwendung findet und Misstrauen auch eine soziale Funktion erfüllt oder dass es medizinische Gründe für ausbleibende Untersuchungen und Behandlungen gibt, welche aber besser kommuniziert werden müssen.

Risikofaktoren für Medical Gaslighting

Relevante Risikofaktoren für das Erleben von Medical Gaslighting sind Erkrankungen, die zyklisch auftreten, im Zusammenhang mit hormonellen Prozessen/Veränderungen stehen, einen chronischen Verlauf und bei denen Symptome auftreten, die nicht eindeutig bestimmt werden können bzw. unklar-diffus/unspezifisch oder nur schlecht objektivierbar sind (z.B. Long COVID). Zu den typischen Risikogruppen gehören v.a.:

  • Frauen
  • ältere Menschen
  • Menschen mit Migrationshintergrund
  • Patient*innen mit psychischen Erkrankungen
  • Menschen mit chronischen oder schwer diagnostizierbaren Erkrankungen
  • Patient*innen mit Übergewicht (Weight Bias)
  • Menschen aus der LGBTIQ+-Community

Die meisten Studien zur Betroffenheit von Medical Gaslighting sind Arbeiten, die zeigen konnten, wie sich die Behandlungsunterschiede zwischen Männern und Frauen zeigen. Hierbei kamen u.a. die folgenden Ergebnisse heraus:

  • Frauen warten im Vergleich zu Männern länger auf eine richtige Diagnose
  • Symptome von Frauen werden schneller als psychosomatisch abgetan und ignoriert (also bedingt durch Stress oder Angst)
  • Frauen erhalten bei vergleichbaren Schmerzen weniger Schmerzmittel als Männern bei Entlassung aus der Notaufnahme
  • Frauen zeigen bei einem Herzinfarkt andere Symptome als Männer (z.B. eher Übelkeit, Rückenschmerzen oder Müdigkeit als Brustschmerzen)

Ursachen für Medical Gaslighting

  • Wissenslücken und mangelndes Bewusstsein für die Verschiedenheit der Symptome von Krankheitsbildern, v.a. bei komplexen Erkrankungen
  • immer noch bestehender Mangel an klaren Leitlinien und Forschung
  • mangelndes Bewusstsein dafür, dass Menschen aus dem Gesundheitswesen vorgefasste Meinungen zu spezifischen klinischen Erscheinungsbildern oder unterschwellige bzw. unbewusste Voreingenommenheiten gegenüber bestimmten Patient*innengruppen haben
  • mangelndes Bewusstsein für das Phänomen der Somatisierung bei psychischen Problemen
  • Arroganz ggü. Patient*innen (Gefühl als über mehr klinisches Wissen und entsprechende Entscheidungsgewalt zu verfügen, verbunden mit medizinischem Paternalismus)
  • Abtun von chronischen Schmerzen bei älteren Erwachsenen als „natürliche Alterserscheinung“
  • Zeitmangel in einem sehr durchökonomisierten Gesundheitssystem
  • fehlende Ausbildung der zwischenmenschlichen Kommunikation in Studium oder Ausbildung

Formen von Medical Gaslighting

  • Herunterspielen von Symptomen (z.B. Symptome seinen nur bedingt „durch Stress“ oder „nur Einbildung“)
  • Ignorieren von Bedenken (z.B. Ärzt*innen nehmen Patient*innen nicht ernst, stellen keine Folgefragen und führen keine weitere Diagnostik durch)
  • externe Faktoren verantwortlich machen (z.B. Symptome seien bedingt durch Gewicht, Hormone oder psychische Probleme)
  • ‍Weigerung, Symptome zu besprechen (z.B. Patient*innen erhalten keine Möglichkeit für sinnvolles Gespräch über die eigenen Symptome)
  • Beharren auf einer Behandlungsoption (z.B. fehlende Erörterung möglicher Optionen, keine gemeinsame Entscheidungsfindung aller Beteiligten)

Folgen von Medical Gaslighting

  • verzögerte oder falsche Diagnosestellung mit Fortschreiten der bestehenden Erkrankung und größerem Leidensdruck
  • emotionale Probleme wie verstärkte Depressionen, Angstzustände, vermindertes Selbstvertrauen, Schuldgefühle und Selbstvorwürfe
  • Vertrauensverlust ins Gesundheitssystem durch die wiederholte Erfahrung und die entstehende Frustration & Erschöpfung („medizinischer Burnout“)
  • zunehmender Zweifel an die eigene Wahrnehmung und Realität

Tipps gegen das Phänomen des Medical Gaslighting

  • selbstbewusstes und vorbereitetes Auftreten der Patient*innen akzeptieren & respektieren (Setzen von Grenzen durch Patient*innen sowie Hartnäckigkeit zulassen)
  • Patient*innen unterstützen, ein Selbstbewusstsein bzw. eine Selbstwahrnehmung für Körper und Symptome entwickeln (Vertrauensbildung durch Stärkung der Wahrnehmung von Kompetenz und Wärme)
  • Patient*innen bitten, die Häufigkeit von Symptomen dokumentieren
  • Symptome der Patient*innen nicht herunterspielen oder relativieren (Patient*innen Glauben schenken)
  • Patient*innen nicht unterbrechen
  • Begleitung und Fürsprache der Patient*innen durch Partner*innen, Familienangehörige oder Freund*innen zulassen
  • mit Patient*innen auf Augenhöhe kommunizieren
  • sich der eigenen Fehlbarkeit und Wissenslücken sowie des eigenen mangelnden Bewusstseins bewusst sein (Erkennen der Grenzen des Verlassens auf Heuristiken und Stereotypen)
  • am Ende der Behandlung alle wichtigen Aussagen zusammenfassen, um zu überprüfen, ob alles richtig verstanden wurde
  • Machtdynamik im Ärzt*innen-Patient*innen-Verhältnis berücksichtigen

Quellen

Published inSafety First – Fehlerkultur in der Notfallmedizin

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