veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN)
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 09.01.2025
Ablaufdatum: 08.01.2030
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-100
Grundsätzliches
- virale Enzephalitis = potenziell folgenschwere neurologische Erkrankung, die während der akuten Erkrankung mit erheblicher Morbidität einhergeht und oft durch anhaltende neurologische Defizite kompliziert wird
- Inzidenz viraler ZNS-Infektionen in den USA von 10 – 20/100.000
- Inzidenz viraler Enzephalitiden in gemäßigten klimatischen Regionen vermutlich zw. 3,5 – 7,5 Fällen/100.000, wobei die höchste Inzidenz bei jungen und älteren Menschen auftritt
- häufigste Erregern: Enteroviren (Coxsackie A, B & Echoviren), Mumpsvirus, Arboviren (Flavi-, Bunya- & Alpha-Viren), Herpesviren, HIV und lymphozytärer Choriomeningitisvirus (LCMV)
Klassifikation
Syndrom | klinische Symptome | mögliche Erreger |
---|---|---|
aseptische Meningitis | Kopf-/Nackenschmerzen, Fieber, Meningismus, Licht-/Lärmscheu, Abgeschlagenheit, Myalgien | Coxsackievirus, Echovirus, Adenovirus, HSV-2, VZV, Phlebovirus (Toskana-Fieber/Italien), Polioviren, Masern, FSME, Mumps, EBV, Röteln, Enteroviren, u. a. Enterovirus 71, HIV, Parvovirus B19, HHV-6, Dengue-Virus |
Meningoenzephalitis | – wie aseptische Meningitis; – zusätzlich: Vigilanzstörungen, delirante Syndrome, epileptische Anfälle, Aphasie, Apraxie, Hemiparesen, kognitive Störungen – Komplikationen: Status epilepticus, Hirnödem, extrapyramidalmotorische Störungen/Bewegungsstörungen | HSV, VZV, Adenoviren, FSME, Masern, CMV, Rabies, Enteroviren, u. a. Enterovirus 71, Vaccinia, HIV, Lassavirus, japanische Enzephalitis (JBV), West-Nil-Virus, Polioviren, Hantaviren |
Enzephalopathie | – chronisch: demenzieller Abbauprozess – (sub)akut: Kopfschmerzen, Psychosyndrom, Bewusstseinsstörung | HIV, Polyomaviren (JCV), Gelbfieber, Hepatitis C, Lassavirus |
hämorrhagisches Fieber (mit ZNS-Beteiligung) | Fieber, Kopf-, Bauch-, Muskelschmerzen, Erbrechen, Diarrhoe, Schock, Nierenversagen, Meningismus, zerebrale Anfälle, Bewusstseinsstörungen, Zeichen der Koagulopathie | Hantaviren (z.B. Hantaan-, Puumalavirus), Filoviren (Marburg- und Ebolavirus) |
Hirnnervenparesen | Ausfall einzelner Hirnnerven | VZV, HSV, CMV, HIV, FSME, Mumps, Polioviren, Hepatitis-C-Virus |
Augenbeteiligung | z. B. Chorioretinitis mit Sehstörungen und ggf. Augenschmerzen | CMV, HSV, VZV |
Slow-virus-Infektion des ZNS | Wesensänderungen, Myoklonien und Krampfanfälle, choreoathetoide Bewegungsstörungen, hohe Mortalität | Masernvirus, Rubellavirus |
Diagnosekriterien
- Hauptkriterien
- verminderter Bewusstseinsgrad, Persönlichkeitsveränderungen oder psychiatrische Manifestation (Lethargie) > 24 h ohne alternative Ursache
- keine alternative Diagnose
- Nebenkriterien
- Fieber (≥ 38 °C) innerhalb von 72 h vor bzw. nach Erstvorstellung
- epileptische Anfälle, die nicht durch eine vorbestehende Epilepsie erklärbar sind
- neue fokalneurologische Zeichen
- WBC (Liquor) ≥ 5 mm3
- bildgebende Auffälligkeiten, die für eine Enzephalitis sprechen und gegenüber einer Vorbildgebung neu sind bzw. akut erscheinen
- abnormales EEG, das mit einer Enzephalitis vereinbar und nicht durch eine anderweitige Ursache erklärbar ist
- akute Symptomatik klingt auch ohne Therapie nach Tagen bis wenigen Wochen ab
Diagnostik
- Berücksichtigung der folgenden anamnestischen Fakten
- Umgebungsfälle von Viruserkrankungen (Mumps, Varizellen, Polio)
- Zeckenstiche (FSME), Insektenstiche (andere Arbovirus-Erkrankungen) oder Tierbisse (Rabies)
- Zugehörigkeit zu AIDS-Risikogruppen
- Behandlung mit Blut- oder Blutprodukten, Organtransplantation (HIV, CMV, Parvovirus B19)
- krankheitsbedingte oder therapeutische Immunsuppression (CMV, JCV, VZV, HHV-6, EBV, HSV-1 u. -2), beispielsweise EV-71 unter Therapie mit anti-CD20-Antikörpern
- Auslandsaufenthalte (weltweit verbreitet: Rabies-, Dengue-Virus; Italien: Toskana-Virus; Mittelmeerbereich: West-Nil-Virus; Südostasien: Japanische Enzephalitis und Nipah-Virusinfektionen; Nord- und Mittelamerika: West-Nil-Virus, verschiedene Alpha-Virus-Enzephalitiden; Zentral- und Westafrika: Lassavirus)
- Blutuntersuchungen, Liquorpunktion, direkter Nachweis viraler DNA oder RNA mittels PCR bzw. Multiplex-PCR bzw. RT-PCR aus nicht zentrifugiertem Liquor exakte Identifizierung des Erregers gelingt bei ca. 40 % der Pat. mit Enzephalitisverdacht
- „possible“ Autoimmunenzephalitis vorliegend bei Zutreffen aller drei folgenden Diagnosekriterien
- Kurzzeitgedächtnisstörungen, psychiatrische Symptome oder Bewusstseinsveränderungen mit subakutem Beginn (< 3 Monate)
- mindestens einer der folgenden Befunde:
- neue fokale ZNS-Symptome
- Liquorpleozytose (> 5 Zellen/mm3)
- epileptische Anfälle, die nicht durch eine vorbekannte Epilepsie erklärbar sind
- MRT-Befunde, die für eine Enzephalitis sprechen
- begründeter Ausschluss alternativer Ursachen
- Bildgebung
- Methode der Wahl: MRT (CT nur ersatzweise, z. B. bei Kontraindikationen für ein MRT oder zum Ausschluss von Komplikationen oder relevanten Differenzialdiagnosen)
- MRT dient der Differenzialdiagnose (Frage nach raumfordernden oder anderen entzündlichen Prozessen wie Abszessen oder autoimmunologischen Enzephalitiden) und der Erfassung krankheitstypischer Verteilungsmuster des entzündlichen Prozesses
- diagnostisches Stufenschema bei entzündlichen ZNS-Erkrankungen

Therapie
allgemeine Therapieprinzipien
- Aciclovir-Gabe bei V.a. Enzephalitis durch Viren der Herpesgruppe (bes. HSV, VZV) ohne zeitlichen Verzug (andere Virusenzephalitiden nach Erregernachweis spezfisch behandeln)
- zusätzlich Antibiotika-Gabe, wenn bakterielle ZNS-Erkrankung differenzialdiagnostisch nicht sicher auszuschließen (z. B. Cephalosporine der Gruppe 3 plus Ampicillin; Cave: Listerien-Meningoenzephalitis)
- passive Immunisierung mit Hyperimmunseren ist bei FSME nicht indiziert (nur auf andere ungewöhnliche Erreger beschränkt, z.B. bei Rabiesverdacht unmittelbar nach Exposition)
- empfohlene allgemeine Therapiemaßnahmen bei allen schwer verlaufenden Enzephalitiden
- Hirnödembehandlung: Osmotherapeutika (therapeutischer Effekt der Entlastungstrepanation bisher nicht gesichert)
- antikonvulsive Therapie beim Auftreten von epileptischen Anfällen oder Status epilepticus
- Analgetika und Sedativa nach Bedarf (bei Gabe von Neuroleptika wie Haloperidol, Melperon, Olanzapin Senkung der Krampfschwelle bedenken)
- intensivmedizinische Maßnahmen, inkl. Thromboseprophylaxe
- symptomatische Behandlung vegetativer Entgleisungen, von Temperatur- & Atemstörungen, Salzverlustsyndrom oder Diabetes insipidus
- spezielle Therapie spezifischer Erreger ist der Leitlinie zu entnehmen
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