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Leitlinie „Management of major bleeding for anticoagulated patients in the Emergency Department“

veröffentlichende Fachgesellschaft:
Datum der Veröffentlichung: 01.10.2023
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1097/mej.0000000000001049

Grundsätzliches

  • Zahl der Patient*innen mit lebensbedrohlichen Blutungen in der Notaufnahme, welche orale Antikoagulanzien wie Warfarin, Faktor-IIa- und Faktor-Xa-Inhibitoren einnehmen, nimmt zu
  • schnelle und kontrollierte Blutstillung ist von entscheidender Bedeutung, um das Leben der Patient*innen zu retten
  • Blutungen sind die häufigste Todesursache nach einem Trauma
  • häufige und bedeutende Ursachen für größere Blutungen bei antikoagulierten Patient*innen in der Notaufnahme sind traumatische Blutungen, gastrointestinale Blutungen, intrakranielle Blutungen und Epistaxis (CAVE: Visualisierung und Kontrolle der Blutungsquelle ist oft sehr schwierig, außer bei einigen traumabedingten Blutungen und Epistaxis)
  • bei Patient*innen, welche Vitamin-K-Antagonisten (VKA) einnehmen, kann durch Verabreichung von Vitamin K und Vierfach-Prothrombinkonzentrat (4F-PCCs; enthalten sind Faktor II bzw. Prothrombin, Faktor VII bzw. Prokonvertin, Faktor IX bzw. antihämophiler Faktor B und Faktor X bzw. Stuart-Prower-Faktor) die Blutung in Echtzeit gestoppt werden
  • bei Einnahme Direkter oraler Antikoagulantien (DOAK) sind spezifische Antidote erforderlich, um gerinnungshemmende Wirkung umzukehren
    • Antidot für Dabigatran: Idarucizamab
    • Antidot für Faktor-Xa-Inhibitor (Apixaban oder Rivaroxaban): Andexanet alfa

Therapie

  • sofortige, intensivmedizinische Versorgung von Patient*innen im Schock im Schockraum
  • primäre Beurteilung gemäß cABCDE-Schema
    • offensichtliche Blutungsquellen sofort stillen und Kreislauf stabilisieren
  • Basismaßnahmen
    • körperliche Untersuchung, Anamnese (inkl. Dokumentation & Fremdanamnese)
    • Überwachung
    • pVK-Anlage & Basislabor (BGA, Blutbild, Gerinnung [aPTT, PT, Fibrinogen])
    • Notfall-Ultraschall
    • regelmäßige Reevaluation
  • weiteres Vorgehen
    • Blutungskontrolle (entweder endoskopisch sowie als vaskulärer oder chirurgischer Eingriff)
    • Koagulation mittels Andexanet alfa, Idarucizumab oder 4F-PCCs (CAVE: Vermeidung und Behandlung von Hypothermie, Hypokalzämie, Azidose)
  • Antidot-Therapie der Dauerkoagulationstherapie nur nach vorheriger Abwägung zwischen Nutzen der Blutungsminderung gegen steigendes prothrombotische Risiko durch Gabe
    • Abklärung bzgl. eingenommenen Wirkstoff und Dosierung sowie Einnahmezeitpunkt der letzten Dosis, Halbwertszeit und Ausscheidungsweise des Medikaments
    • bei Vitamin-K-Antagonisten sind Halbwertszeiten lang und liegen zwischen 2 Tagen (Warfarin) und 7 Tagen (Phenprocoumon/Marcumar), daher Bestimmung INR-Wert als Indikator für Höhe der Antikoagulation durch VKAs
    • HWZ der DOAKs wesentlich kürzer (8 – 12 h) und alle Gerinnungsfaktoren vollständig carboxyliert und funktionsfähig (Ausnahme: Faktor II oder Faktor X), daher Gabe von Antidot nur, wenn Zeitraum seit letzter Einnahme kurz ist, Medikament eine lange HWZ hat oder Ausscheidung aufgrund von Niereninsuffizienz gestört ist

Erstversorgung bei schweren traumatischen Blutungen in der Notaufnahme

  • kurze Transportzeiten in das nächste geeignete Krankenhaus ist nach wie vor entscheidend für das Überleben
  • Erkennung und Erstbehandlung schwerer traumatischer Blutungen sind präklinisch entscheidend und können lebensrettend sein
  • lebensbedrohliche äußere Blutungen mit lokalem Kompressionsverband oder Tourniquet behandeln, ggf. zusätzlich lokale Hämostyptika
  • bei Beckentrauma Anlage einer Beckenschlinge
  • permissive Hypotension mittels Gabe von isotonischen Kristalloiden mit Ziel-RR von 80 – 90 mmHg systolisch (CAVE: nur bei Ausschluss einer Hirnverletzung)
  • falls vorhanden, ggf. präklinisch auch Bluttransfusionen und endovaskuläre Ballon-Okklusion der Aorta (Resuscitative endovascular balloon occlusion of the aorta; REBOA)
  • Blutungsdiagnostik mittels PoC-Sonografie sowie BGA mit Hämoglobin (Hb), Laktat und Base Excess (anfänglich niedriger Hb-Wert, erhöhtes Serumlaktat und Basendefizit sind Hinweise für schwere Blutungen in Verbindung mit Koagulopathie und Schock)
  • frühst mögliches Ganzkörper-Kontrastmittel-CT ist Goldstandard zur Erkennung von Blutungen
  • bei kritischen Patienten mit offensichtlicher Blutungsquelle sofort lebensrettende Maßnahmen wie Operation oder angiografische Embolisation
  • bei Verdacht auf schwere Blutungen innerhalb von 3 h 1 g Tranexamsäure (TXA) i.v., gefolgt von 1 g TXA innerhalb der nächsten 8 h (CAVE: fehlender Wirksamkeits-Nachweis bei intrakranieller Blutung sowie keine Empfehlung für Gabe bei akuten gastrointestinalen Blutungen)
  • Durchführung Nierenfunktionsprüfung

Umkehr der Wirkung von Vitamin-K-Antagonisten

  1. primäre Gabe von 10 mg Vitamin K i.v. (CAVE: Wirkung setzt langsam, i.d.R. erst nach 2 h, und verzögert bei eingeschränkte Leberfunktion ein)
  2. Gabe von Vier-Faktoren-Prothrombinkomplex-Konzentrat mit gewichts- & INR-abhängiger Dosierung von initial 25 I.E./kgKG (CAVE: Wirkeintritt nach ca. 30 min und Wirkdauer von 6 – 8 h); sofern nach Gabe INR weiter > 1,5, zusätzliche Gabe von 4F-PCC bis max. 50 I.E./kgKG
  3. ggf. zusätzlich Gefrorenes Frischplasma, kurz GFP (CAVE: relativ langsamer Wirkeintritt, oft unvollständige Umkehrung des Antikoagulans sowie Erschwerung bei Volumenüberladung)

Umkehr der Wirkung von DOAKs

  • Antidot für Dabigatran: 5 g Idarucizamab i.v. (schnelle Wirkung und vollständige Umkehr der Antikoagulation); ggf. bei anhaltender Blutung zweite Gabe von 5 g Idarucizamab i.v.
  • Antidot für Faktor-Xa-Inhibitor: Andexanet alfa (schneller Wirkeintritt innerhalb von 2 min nach Bolus-Gabe) mit abhängiger Dosierung vom Zeitpunkt der letzten Einnahme:
    • 400 mg Andexanet alfa i.v. innerhalb von 15 min, gefolgt von 2-stündiger Infusion von 4 mg/min
    • 800 mg Andexanet alfa i.v. innerhalb von 30 min, gefolgt von 2-stündiger Infusion von 8 mg/min
    • CAVE: Zulassung für lebensbedrohliche Blutungen, jedoch nicht für Notoperationen, sowie offiziell keine Zulassung als Antidot für Edoxaban (Off-Label-Use)
  • sofern Idarazucimab oder Andexanet alfa nicht verfügbar, ggf. Gabe von 25 – 50 I.E./kgKG 4F-PCC erwägen (CAVE: Off-Label-Use)

Behandlung spontaner intrakranieller Blutungen

  • Blutdruckkontrolle mit RRsys-Ziel von < 140 mmHg
  • Zeit ist entscheidender Faktor, weshalb aktive Nachfrage nach Einnahme von Antikoagulanzien von entscheidender Bedeutung ist
  • Transport in Klinik mit Neurologie und/oder Neurochirurgie
  • Laboruntersuchungen zur Beurteilung der anhaltenden gerinnungshemmenden Wirkung
  • cCT-Diagnostik
  • wichtigste Behandlungsziel bei VKA-assoziierter intrakranieller Blutung: INR-Wert < 1,3 zur Verhinderung einer sekundären Hämatomausdehnung
  • bei Dabigatran-assoziierter intrakranieller Blutung: Gabe von Idarucizumab (rasche Umkehrung, jedoch fehlende Daten zur klinischen Wirksamkeit aufgrund fehlender Vergleichsgruppe)
  • bei Anti-Xa-Wirkstoffen: 4F-PCCs oder Andexanet alfa (CAVE: für Andexanet alfa bisher fehlende Zulassung in Deutschland, aber Zulassung durch FDA in den USA)

Behandlung von schweren gastrointestinalen Blutungen

  • akute, schwere gastrointestinale Blutung ist potenziell lebensbedrohlicher Zustand mit einer Sterblichkeit von bis zu 15 %
  • Blutungen im oberen Gastrointestinaltrakt haben höhere Sterblichkeit als Blutungen im unteren Gastrointestinaltrakt
  • bei Patient*innen, die sich mit Hämatemesis, Melaena und kaffeesatzartigem Erbrechen vorstellen, sofortige Initialtherapie gemäß ABCDE-Schema
  • bei Patient*innen mit anhaltender Hämatemesis oder mit V.a. Varizenblutung sofortige Sicherung der Atemwege zur Verhinderung einer Aspiration, vorzugsweise mit Sengstaken-Blakemore-Tubus (auch zur Tamponade von Varizen geeignet)
  • frühzeitige Korrektur der Hypovolämie mit intravenösem Kristalloid nach einer „restriktiven“ Transfusionsstrategie zur Gewährleistung einer ausreichenden Gewebeperfusion
  • Hb-Zielwert von 7 – 9 g/dL
  • Nutzung des Schockindex zur Identifizierung instabiler Patienten für schnellere Intervention (< 1 stabil, > 1 instabil)
  • Gabe von Blutprodukten gemäß Massentransfusion-Protokoll
  • direkte computertomographische Angiografie (CTA) bei Patient*innen, welche nicht hämodynamisch stabilisierbar sind, gefolgt von Behandlung der Blutungsquelle entweder endoskopisch oder durch interventionelle Radiologie
  • bei oberer GI-Blutung sofortige Endoskopie, wenn bei CTA keine Blutungsquelle festgestellt wird (Gabe von Protonenpumpenhemmern vor Endoskopie)
  • bei stabilen Patienten Nutzung des Oakland-Score, um zu entscheiden, welche Patient*innen stationär aufgenommen und endoskopiert werden müssen
  • bei akuter GI-Blutung mit V.a. Zirrhose/Varizenblutung Gabe von Terlipressin i.v. sowie Ceftriaxon als Prophylaxe i.v. (CAVE: für Dosierung Abstimmung mit Gastroenterologie)
  • für Umkehr von Vitamin-K-Antagonisten o.g. Protokoll befolgen (inkl. 10 mg Vitamin K i.v., GFP sowie 25 – 50 I.E./kgKG 4F-PCC)
  • für Umkehr von DOAKs: Andexanet alpha bei Faktor-Xa-Inhibitor
Published inLeitlinien kompakt

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