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Leitlinie „Nicht-spezifische Nackenschmerzen“ der DEGAM (Update 2025)

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 18.02.2025
Ablaufdatum: 17.02.2030
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/053-007.html

Grundsätzliches

  • Nackenschmerzen = Schmerzen in einem Gebiet, das nach oben durch die obere Nackenlinie (Linea nuchalis superior), nach unten durch den ersten Brustwirbel und seitlich durch die schultergelenksnahen Ansätze des Kapuzenmuskels (M. trapezius) begrenzt wird
  • 46 % der Menschen in Deutschland geben an, in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal Nackenschmerzen gehabt zu haben
  • Punktprävalenz liegt seit Jahren unverändert bei ca. 5 %
  • Nackenschmerzen sind der dritthäufigste Beratungsanlass in hausärztlichen Praxen in Deutschland
  • Anteil an Erwerbsminderungsrenten aufgrund einer Erkrankung aus dieser Indikationsgruppe lag 2020 bei 13 % (Rang 3 hinter psychischen Erkrankungen und Neubildungen)

Einteilung/Klassifikation

  • Einteilung von Nackenschmerzen nach der Dauer
    • akute Nackenschmerzen (0 – 3 Wochen)
    • subakute Nackenschmerzen (4 – 12 Wochen)
    • chronische Nackenschmerzen (länger als 12 Wochen)
  • Klassifikationssystem der „Task Force on Neck Pain and Its Associated Disorders”
    • Grad I: keine Zeichen oder Symptome für eine bedeutsame strukturelle Pathologie und/oder unbedeutende Auswirkungen auf Aktivitäten des täglichen Lebens
    • Grad II: keine Zeichen oder Symptome für eine bedeutsame strukturelle Pathologie, aber bedeutende Auswirkungen auf Aktivitäten des täglichen Lebens
    • Grad III: keine Zeichen oder Symptome für eine bedeutsame strukturelle Pathologie, aber Vorhandensein von neurologischen Zeichen wie abgeschwächte Reflexe, Schwäche und/ oder sensible Defizite
    • Grad IV: Zeichen oder Symptome für eine bedeutsame strukturelle Pathologie wie Fraktur, Myelopathie, Neoplasie oder eine systemische Erkrankung als Ursache

Diagnostik

  • vorerst keine weiteren diagnostischen Maßnahmen, wenn sich bei Patient*innen mit neu aufgetretenen Nackenschmerzen durch Anamnese und körperliche Untersuchung beim Erstkontakt keine Hinweise auf strukturelle Ursachen finden
  • psychosoziale und arbeitsplatzbezogene Faktoren von Beginn der Nackenschmerzen an und im Behandlungsverlauf berücksichtigen
  • Durchführung einer körperlichen Untersuchung bei Patient*innen mit Nackenschmerzen, um strukturelle Ursachen zu erkennen und die Wahrscheinlichkeit abwendbarer gefährlicher Verläufe abzuschätzen
  • keine bildgebende Diagnostik bei akuten und rezidivierenden Nackenschmerzen ohne relevanten Hinweis auf strukturelle Ursachen in Anamnese und körperlicher Untersuchung
  • Überprüfung der Indikation für bildgebende Diagnostik bei Patient*innen mit anhaltenden aktivitätseinschränkenden oder progredienten Nackenschmerzen (nach 4 – 6 Wochen) trotz leitliniengerechter Therapie
  • keine Röntgenuntersuchungen zur primären Abklärung von strukturellen Ursachen von Nackenschmerzen
  • keine routinemäßige Laboruntersuchung zum Ausschluss entzündlicher oder neoplastischer Ursachen bei akuten Nackenschmerzen soll ohne relevanten Hinweis auf strukturelle Ursachen
  • liegen Warnhinweise („red flags“, z.B. Bandscheibenvorfälle mit radikulärer Symptomatik, HWS-Beschleunigungstrauma, virale Meningoenzephalitis, Polymyalgia rheumatica, Verletzungen der oberen oder subaxialen HWS) vor, je nach Verdachtsdiagnose und Dringlichkeit weitere bildgebende oder Laboruntersuchungen und/oder Überweisungen in spezialfachärztliche Behandlung einleiten

anamnestische Hinweise auf strukturelle Ursachen der Nackenschmerzen

Frage nach…Hinweise auf strukturelle Ursachen der Nackenschmerzen
Schmerzcharakteristika
(Qualität [z.B. stechend, brennend, dumpf], Lokalisation, Schmerzstärke [Numerische Analogskala], Schmerzdauer [Zeit seit Beginn, Dauerschmerz?], Ausstrahlung in den Arm [dermatombezogen/dermatomübergreifend], Besserung durch Ruhe/bestimmte Haltung/sonstiges, nächtlicher Schmerz)
Ausstrahlung in den Arm [dermatombezogen/ dermatomübergreifend], nächtlicher Schmerz
neurologischen Symptomen
motorische Ausfälle [incl. Feinmotorik]/Taubheitsgefühl/Parästhesien (dermatombezogen), Schwindel/Gangunsicherheit/ Ohrgeräusche/Sehstörungen, Blasenentleerungsstörung, Mastdarmfunktionsstörung
motorische Ausfälle [incl. Feinmotorik]/Taubheitsgefühl/Parästhesien (dermatombezogen), Schwindel/Gangunsicherheit/
Ohrgeräusche/Sehstörungen, Blasenentleerungsstörung, Mastdarmfunktionsstörung
Infektsymptomen
(z.B. Fieber, Schüttelfrost), Infekt in der Anamnese
(z.B. Fieber, Schüttelfrost), Infekt in der Anamnese
stattgehabter Intervention
(z.B. Medikamente icl. Injektion, Manipulation)
Medikamente incl. Injektion, Manipulation
auslösendem Ereignis
z.B. Trauma in Vorgeschichte [Unterschied zu evtl. früheren ähnlichen Ereignissen]
adäquates Trauma in Vorgeschichte [Unterschied zu evtl. früheren ähnlichen Ereignissen]
bekannter Systemerkrankung mit
Notwendigkeit Steroidtherapie

Neoplasie, Osteoporose, Autoimmunerkrankung (z.B. rheumatoide Arthritis, M. Bechterew), Erkrankungen, die eine Immunsuppression verursachen
Vorliegen einer der Erkrankungen
Erkrankungen, die mit Immunsuppressiva behandelt werden/wurden (incl. Steroidmedikation)Vorliegen einer der Umstände
B-Symptomatik
(Gewichtsverlust, Nachtschweiß, Leistungsknick)
Vorliegen eines der Symptome

körperliche Untersuchung bei Nackenschmerzen

  • körperliche Untersuchung mindestens aus folgenden Elementen bestehen:
    • Allgemeinzustand und Ernährungszustand, Bewusstseinszustand
    • Inspektion: Aussehen der Haut, Deformitäten, Verletzungszeichen, Haltung, Mobilität
    • Palpation: Dornfortsätze und Querfortsätze, muskuläre Verspannungen, Hauttemperatur
    • Beweglichkeitsprüfung: Ante-, Retroflexion, Rotation und Seitneigung
  • bei Hinweisen auf neurologische Defizite in der Anamnese Basisuntersuchung um folgende Elemente ergänzen:
    • Kraftprüfung nach Janda
    • Feinmotorik der Hände (z. B. Finger-Nase-Versuch, Test für Diadochokinese)
    • Sensibilität
    • Gleichgewicht/Gangbild
    • Seitendifferenz der Reflexe (Bizpessehnenreflex, Brachio-radialis-Reflex, Trizepssehnenreflex)
    • Spurling-Test (Test zur Einschätzung radikulärer Schmerzen: Axialer Druck und eine Beugung des Kopfes zur symptomatischen Seite –> hierdurch Kompression der Foramina intervertebralia)
    • Upper-Limb-Tension-Test (Test der neurologischen Strukturen der oberen Extremität: ULTTs zielen darauf ab, die Symptome des Patienten hervorzurufen –> geschieht, indem Schulter, Ellbogen, Unterarm, Handgelenk und Finger in bestimmten Positionen gehalten werden, um einen bestimmten Nerv zu belasten)
  • folgende Elemente der körperlichen Untersuchung können Hinweise auf strukturelle Ursachen von Nackenschmerzen geben:
    • neurologische Defizite
    • reduzierter Allgemeinzustand und/oder Ernährungszustand
    • Hautrötung, Deformitäten, Verletzungszeichen, ausgeprägte Schonhaltung mit konsekutiv stark eingeschränkter Mobilität
    • erhöhte Hauttemperatur
    • ausgeprägte Einschränkung der Beweglichkeit

Management

  • körperliche Aktivität empfehlenswert
  • keine Ruhigstellung bei nicht-spezifischen Nackenschmerzen
  • Entspannungsverfahren kann empfohlen werden (z.B. progressive Muskelrelaxation)
  • Selbstanwendung von Wärme empfehlenswert
  • Selbstanwendung von Kälte kann empfohlen werden

medikamentöse Therapie

  • NSAR
    • NSAR bei akuten nicht-spezifischen Nackenschmerzen über kurzen Zeitraum empfehlen
    • keine NSAR bei chronischen nicht-spezifischen Nackenschmerzen
    • NSAR sollen nicht parenteral verabreicht werden
    • bei NSAR-Behandlung und gleichzeitig vorliegenden Risiken für gastrointestinale Komplikationen prophylaktisch Protonenpumpenhemmer
    • Dosierungsempfehlungen NSAR
ArzneistoffDarreichungsformempfohlene
Dosierungen
Tageshöchstdosis
(mg/Tag)
IbuprofenFilmtabletten
Retard-Tabletten
400 – 800 mg
800 mg
1200 mg (2400 mg)
2400 mg (2400 mg)
DiclofenacFilmtabletten
Retard-Tabletten
25 – 50 mg
75 – 150 mg
100 mg (150 mg)
100 mg (150 mg)
NaproxenFilmtabletten250 – 1000 mg750 mg (1250 mg)
  • weitere Medikamente
    • Metamizol kann in der niedrigsten wirksamen Dosierung und so kurzzeitig wie möglich empfohlen werden, wenn NSAR kontraindiziert
    • kein Paracetamol zur Behandlung nicht-spezifischer Nackenschmerzen
    • keine Muskelrelaxanzien bei akuten und chronischen nicht-spezifischen Nackenschmerzen
    • kein Cannabis bei nicht-spezifischen Nackenschmerzen
    • keine Opioide akuten sowie chronischen nicht-spezifischen Nackenschmerzen

nicht-medikamentöse Therapie

  • Manipulation/Mobilisation kann angeboten werden
  • keine Akupunktur bei akuten nicht-spezifischen Nackenschmerzen
  • Akupunktur kann zur Behandlung chronischer nicht-spezifischer Nackenschmerzen in Kombination mit aktivierenden Maßnahmen eingesetzt werden
  • keine mechanische Traktion
  • keine Elektro- oder Lasertherapie
  • keine Ultraschalltherapie (inkl. Stoßwelle)
  • keine Bäder, Fango, Rotlicht Kryotherapie oder Kinesiotaping
  • keine Weichteilbehandlungen bei akuten nicht-spezifischem Nackenschmerzen
  • Weichteilbehandlungen können zur Behandlung chronischer nicht-spezifischer Nackenschmerzen in Kombination mit aktivierenden Maßnahmen verordnet werden
  • Bewegungstherapie kann zur Behandlung akuter nichtspezifischer Nackenschmerzen und soll zur Behandlung chronischer nicht-spezifischer Nackenschmerzen verordnet werden
  • Einsatz von Patient*innenedukation
  • kognitive Verhaltenstherapie kann zur Behandlung chronischer nicht-spezifischer Nackenschmerzen im Rahmen von multimodalen Behandlungskonzepten empfohlen werden
Published inLeitlinien kompakt

Ein Kommentar

  1. Thomas Borgmann Thomas Borgmann

    Herzlichen Dank für die super Zusammenfassung. Es spart viel Zeit sich auf diese Weise über Neuerungen zu informieren.
    Spannend finde ich die, meines Wissens nach, neue Aussage zur med. Therapie. Hier wird nun klar zwischen NSAR und Paracetamol unterschieden. Auf welcher Basis beruht diese neue Empfehlung. Wie verlässlich ist die Datenbasis. Für viele unserer Patienten sind NSAR sicher auch nicht die erste Wahl (i.e. RR, KHK, CKD..) und Metamizol hatte erst ende 2024 den letzten Rote Hand Brief. Opiate werden nachvollziehbar ebenfalls nicht empfohlen. Da bleibt nicht mehr viel übrig an medikamentöser, supportiver bzw. symptomatischer Therapie oder?! Die Rolle der additiven Kurzzeit-Steroidtherapie wurde hier nicht erwähnt. Gibt es dazu Daten?

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