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Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ der DGPPN

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 01.01.2021
Ablaufdatum: 31.12.2024
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html

Definitionen

  • Alkoholkonsum während der letzten Stunden und Tage = akut
  • Alkoholkonsum während der letzten Wochen und Monate = chronisch

riskanter Alkoholkonsum

  • Tagesgrenzwerte für einen riskanten Alkoholkonsum wurden – in Anlehnung an die Vorgaben der WHO – bei über 24 g Reinalkohol für Männer und mehr als 12 g Reinalkohol für Frauen festgelegt

Rauschtrinken

  • risikoreiche Konsumform gilt die Einnahme von großen Alkoholmengen innerhalb von kurzer Zeit
  • bei Männern wird als Rauschtrinken (engl. binge drinking) bezeichnet, wenn fünf oder mehr Getränke (Standarddrinks) bei einer Gelegenheit konsumiert werden
  • bei Frauen liegt die entsprechende Konsumgrenze bei vier oder mehr Getränken (Standarddrinks) bei einer Gelegenheit

akute Intoxikation

  • vorübergehendes Zustandsbild nach Aufnahme von Alkohol zu verstehen
  • Störungen des Bewusstseins, der kognitiven Funktionen, der Wahrnehmung, des Affekts, des Verhaltens oder anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen
  • Diagnose soll nur dann als Hauptdiagnose gestellt werden, wenn zum Zeitpunkt der Intoxikation keine längerdauernden Probleme mit Alkohol bestehen

schädlicher Gebrauch

  • nachweisliche Folgeschädigung der psychischen oder physischen Gesundheit der konsumierenden Person
  • wird häufig von anderen kritisiert und hat auch häufig verschiedene negative soziale Folgeerscheinungen
  • Konsummuster sollte entweder seit min. einem Monat bestehen oder in den letzten zwölf Monaten wiederholt aufgetreten sein, aber nicht dauerhaft, sonst Alkoholabhängigkeitssyndrom

Alkoholabhängigskeitssyndrom

  • mindestens drei der folgenden sechs Kriterien müssen während des letzten Jahres gleichzeitig erfüllt gewesen sein:
    • starkes Verlangen oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren
    • Schwierigkeiten, die Einnahme zu kontrollieren (was den Beginn, die Beendigung und die Menge des Konsums betrifft)
    • körperliches Entzugssyndrom, wenn Alkoholkonsum reduziert oder abgesetzt wird, nachgewiesen durch alkoholspezifische Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Alkoholentzugssymptome zu vermindern oder zu vermeiden
    • Toleranzentwicklung gegenüber den Wirkungen von Alkohol
    • fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten der Alkoholeinnahme; es wird viel Zeit verwandt, Alkohol zu bekommen, zu konsumieren oder sich davon zu erholen
    • fortdauernder Alkoholgebrauch trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen, wie z.B. Leberschädigung durch exzessives Trinken, depressive Verstimmungen infolge starken Alkoholkonsums. Es sollte dabei festgestellt werden, dass der Konsument sich tatsächlich über Art und Ausmaß der schädlichen Folgen im Klaren war oder dass zumindest davon auszugehen ist

Alkoholentzugssyndrom

  • Symptomkomplex von unterschiedlicher Zusammensetzung und wechselndem Schweregrad
  • entsteht bei relativem oder absolutem Entzug von Alkohol, der wiederholt und zumeist über einen längeren Zeitraum und in hoher Dosierung konsumiert worden ist
  • soll dann als Hauptdiagnose diagnostiziert werden, wenn es Grund für die gegenwärtige Konsultation ist und wenn das Erscheinungsbild so schwer ist, dass es eine besondere medizinische Behandlung erfordert
  • vor allem durch Zittern, Unruhe, Schwitzen, Schlafstörungen und Kreislaufprobleme geprägt
  • häufige Merkmale sind auch psychische Störungen (z.B. Angst, Depressionen, Schlafstörungen)
  • ggf. auch Krampfanfall und/oder Delir

Therapie

  • Kurzinterventionen zur Reduktion von problematischem Alkoholkonsum sollen im Rahmen der medizinischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung umgesetzt werden. (Unter Kurzinterventionen werden gewöhnlich Interventionen verstanden, die eine Dauer bis 60 Minuten bei bis zu fünf Sitzungen nicht überschreiten.)
  • Kurzinterventionen zur Reduktion des Alkoholkonsums sollen bei riskant Alkohol Konsumierenden angeboten werden
  • bei PatientInnen mit einem Risiko für die Entwicklung von Entzugssymptomen oder einem individuellen Risiko für Entzugskomplikationen wie Krampfanfällen bzw. deliranten Symptomen soll eine Entzugsbehandlung durchgeführt werden
  • stationäre Behandlung in Form einer körperlichen Entgiftung oder qualifizierten Entzugsbehandlung soll angeboten werden
  • bei einem Risiko eines alkoholbedingten Entzugsanfalles und/ oder Entzugsdelirs und/oder
  • bei Vorliegen von gesundheitlichen bzw. psychosozialen Rahmenbedingungen, unter denen Alkoholabstinenz im ambulanten Setting nicht erreichbar erscheint
  • stationäre Behandlung in Form einer körperlichen Entgiftung oder qualifizierten Entzugsbehandlung sollte angeboten werden bei alkoholabhängigen Personen und Personen mit schädlichem Gebrauch, wenn mindestens eins der folgenden Kriterien erfüllt ist:
    • (zu erwartende) schwere Entzugssymptome
    • schwere und multiple somatische oder psychische Begleit- oder Folgeerkrankungen
    • Suizidalität
    • fehlende soziale Unterstützung
    • Misserfolg bei ambulanter Entgiftung
    • Schwangerschaft
  • Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit, die sich keinem Alkoholentzug unterziehen wollen, sollten informiert werden über
    • Risiken der nicht überwachten plötzlichen Trinkmengenreduktion oder eines Trinkstopps, (z.B. Entzugskomplikationen und deren Behandlungsmöglichkeiten)
    • alternative Hilfeangebot
  • bei PatientInnen mit alkoholassoziierten somatischen Folgeerkrankungen diagnostische Abklärung möglicher weiterer alkoholassoziierter Folgeerkrankungen durchführen
  • PatientInnen mit komorbiden psychischen Erkrankungen und alkoholbezogenen Störungen stationäre Behandlung für beide Störungsbilder anbieten
  • PatientInnen mit alkoholbezogenen Störungen und Schizophrenie leitliniengerecht medikamentös antipsychotisch behandel
    • präferentiell sollten Präparate mit möglichst wenig anticholinergen und extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen in dieser PatientInnengruppe zur Anwendung kommen

medikamentöse Therapie

  • leichte Alkoholentzugssyndrome können pharmakologisch behandelt werden; schwere und mittelschwere Alkoholentzugssyndrome sollen pharmakologisch behandelt werden
  • Benzodiazepine reduzieren effektiv die Schwere und Häufigkeit von Alkoholentzugssymptomen sowie die Häufigkeit schwerer Entzugskomplikationen wie Delirien und Entzugskrampfanfälle
    • Benzodiazepine zur Behandlung des akuten Alkoholentzugssyndroms zeitlich limitiert einsetzen
  • für die Behandlung deliranter Syndrome mit Halluzinationen, Wahn oder Agitation sollten Benzodiazepine mit Antipsychotika (insbesondere Butyrophenone, wie Haloperidol) kombiniert werden
  • Antipsychotika wie Haloperidol werden beim akuten Alkoholdelir mit Wahn- oder Halluzinationen empfohlen, sollen aber aufgrund der fehlenden eigenen Wirkung auf vegetative Entzugssymptome mit z.B. Benzodiazepinen oder Clomethiazol kombiniert werden
  • Antikonvulsiva können zur Therapie leicht- bis mittelgradiger Alkoholentzugssyndrome eingesetzt werden
  • Beta-Blocker und Clonidin eignen sich nicht zu einer Monotherapie des Alkoholentzugssyndroms, können aber in Ergänzung zu Benzodiazepinen oder Clomethiazol zur Behandlung von vegetativen Alkoholentzugssymptomen eingesetzt werden
  • bei Notwendigkeit einer pharmakotherapeutischen Entzugsbehandlung in der Schwangerschaft sollten im Alkoholentzug bevorzugt Benzodiazepine innerhalb eines stationären und interdisziplinären Settings eingesetzt werden
  • Benzodiazepine können zur Behandlung akuter Entzugssymptome bei Schwangeren eingesetzt werden
  • bei älteren PatientInnen oder bei PatientInnen mit schlechtem Allgemeinzustand, eingeschränkter Lungen-, oder Nierenfunktion wird je nach Entzugsschwere der Einsatz von Benzodiazepinen mit mittellanger Halbwertszeit sowie eine niedrigere Dosierung und eine symptomorientierte Gabe zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms empfohlen
    • in diesen Fällen können bei Entzugssyndromen auch Antiepileptika als Monotherapie oder symptomorientiert in Kombination z.B. mit Tiapridex oder Clonidin eingesetzt werden
  • bei Lebererkrankungen mit Einschränkung der Leberfunktion werden Benzodiazepine mit kürzerer Halbwertszeit und geringer Verstoffwechslung in der Leber (z.B. Oxazepam, Lorazepam) empfohlen
  • bei eingeschränkter Leberfunktion können zur Anfallsbehandlung oder Prophylaxe aufgrund der renalen Ausscheidung und fehlenden Hepatotoxizität, Gabapentin oder Levetirazetam eingesetzt werden
  • bei Verdacht auf Mischintoxikation oder multiplem Substanzmissbrauch vor Einleitung einer spezifischen Pharmakotherapie des Alkoholentzugssyndroms und/oder Erregungszuständen stationäre Verlaufsbeobachtung, gegebenenfalls ergänzt um ein handelsübliches Screening nach Benzodiazepinen, Opiaten und weiteren Drogen im Urin erfolgen
Published inIm Notfall PsychiatrieLeitlinien kompakt

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