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Leitlinie „Umgang mit dem Wunsch nach Suizidassistenz in der hausärztlichen Praxis“ der DEGAM

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 31.05.2024
Ablaufdatum: 31.05.2027
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/053-063

Grundsätzliches

  • Suizidassistenz war in Deutschland für Ärzt*innen nach dem Strafgesetzbuch stets straffrei
  • seit BVerfG-Urteil vom 26.02.2020 zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung Änderung der Berufsordnungen durch alle LÄK nach Beschluss des Deutschen Ärztetages –> Suizidassistenz nicht mehr untersagt
  • Daten aus Beneluxstaaten legen nahe, dass mit gesetzlicher Regelung und der damit verbundenen öffentlichen Diskussion vermehrt Patient*innen mit implizitem oder explizitem Wunsch nach Assistenz zum Suizid ihre Hausärzt*innen konsultieren
  • Studien zur Suizidassistenz zeigen, dass das Patient*innenkollektiv v.a. aus dem klassischen hausärztlichen Setting stammt und deren Wunsch nach Selbsttötung z.B. aus Angst vor Autonomieverlust resultiert

Rechtliches

  • ärztliche Assistenz beim freiverantwortlichen Suizid ist straflos (keine Verpflichtung zur Suizidassistenz)
  • früher verwendete Begriffe wie „aktive“ oder „passive“ Sterbehilfe gelten als obsolet
  • Begriff „Sterbehilfe“ als Überbegriff für
    • indirekte Sterbehilfe = Tod ist unvermeidbare Nebenfolge einer symptomlindernden Medikation, welche dem erklärten oder mutmaßlichen Patient*innenwillen entspricht (straffrei)
    • Therapiezieländerung/Therapiebegrenzung/Behandlungsabbruch = jede aktive oder passive Begrenzung/Beendigung einer lebenserhaltenden/-verlängernden medizinischen Maßnahme im Einklang mit tatsächlichem/mutmaßlichem Patient*innenwillen, die zum Tod führenden Prozess seinen Lauf zulässt (straffrei)
    • Suizidbeihilfe, Suizidassistenz („Beihilfe zur Selbsttötung“, „Assistierter Suizid“) = Ermöglichung und die Nichtverhinderung eines freiverantwortlichen Suizides (straffrei, jedoch bis jetzt kein Gesetz zur Regulierung der Suizidassistenz in Deutschland vorliegend)
    • Tötung auf Verlangen = Tod auf Wunsch oder mutmaßlichem Willen einer Person durch Handeln einer anderen Person herbeigeführt (Fremdtötung, also strafbare Tötung auf Verlangen)

Freiverantwortlichkeit

  • Klärung von Freiverantwortlichkeit bedarf mehrerer Gespräche, welche nachvollziehbar dokumentiert werden sollten, ggf. psychiatrische Expertise einbeziehen (Suizidassistenz bleibt nur straffrei, wenn Suizidwunsch freiverantwortlich ist)
  • Voraussetzung der Freiverantwortlichkeit ist laut BVerfG das Vorliegen einer „frei gebildeten, autonomen Entscheidung“
    • Fähigkeit zur freien und unbeeinflussten Willensbildung
    • Kenntnis aller entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte
    • Ausschluss unzulässiger Einflussnahme oder Druckausübung als die Willensfreiheit ausschließende Elemente
    • Dauerhaftigkeit und innere Freiheit des Entschlusses
    • Ausschluss psychischer Erkrankungen als Grund für den Sterbewunsch und vorübergehender Lebenskrisen
    • umfassende Aufklärung über relevante Umstände und über alternative Handlungsoptionen
  • wenn Freiverantwortlichkeit nicht zweifelsfrei attestierbar, psychiatrische Expertise einbeziehen und folgende drei Ebenen berücksichtigen:
    • Einwilligungs-, Einsichts- & Urteilsfähigkeit (Fähigkeit in ärztliche Eingriffe, Untersuchungen und Verabreichung von Medikamenten rechtswirksam einzuwilligen)
    • Wohlerwogenheit (Prozess der Reflexion und Abwägung verschiedener Handlungsalternativen)
    • Dauerhaftigkeit des Wunsches (Wunsch nach Suizidassistenz soll über einen Zeitraum frei benannt werden)

Ethik

  • vier mittlere Prinzipien für herausfordernde medizinethische Fragestellungen nach Beauchamp & Childress
    • Respekt vor der Autonomie von Patient*innen
    • Prinzip des Nichtschadens
    • Prinzip der ärztlichen Fürsorge und des Wohltuns
    • Gerechtigkeit
  • bei ärztlicher Suizidassistenz stehen sich v.a. Prinzipien des Nichtschadens und des Wohltuns einerseits mit Prinzip des Respekts vor Patient*innenautonomie gegenüber
  • ethisches Prinzip des Respekts vor Patient*innenautonomie wird auf juristischer Ebene durch die Forderung nach Freiverantwortlichkeit umgesetzt
  • Abwägung der weiteren Prinzipien orientiert sich an Handlungsoptionen und ist für jede Option einzeln anzustellen (Welchen Nutzen/Schaden hätte jede einzelne Option aus Patient*innen-Sicht?)
  • vor Beratung zum assistierten Suizid sollte die eigene Haltung zum Thema reflektiert werden, um Patient*innen unbeeinflusst hiervon beraten zu können

Kommunikation mit Sterbewilligen

  • Gespräche mit Sterbewilligen sollen ergebnisoffen sein (offene Fragen, Offenheit für Gespräche über das Sterben, Sterbe- und Suizidwünsche formulieren, offen ggü. anderen Positionen & Perspektive)
  • Vermeidung von Äußerungen seitens der Ärzt*innen zur Nachvollziehbarkeit, Wertung oder Beurteilung des Wunsches nach Suizidassistenz
  • wenn angefragte Ärzt*innen zur Suizidassistenz bereit sind, dies frühzeitig nach Graduierung von Suizidalität kommunizieren –> alternative Hilfsmöglichkeiten eröffnen und Bereitschaft zu weiteren Gesprächen signalisieren & aufrechterhalten
  • mit Patient:innen soll frühzeitig besprochen werden, ob Zu- & Angehörige einbezogen werden sollen
  • ruhige, offene und wertschätzende Gesprächsatmosphäre (mehrere Folgetermine mit angemessenem Zeitrahmen)

Hilfen für die erste Einschätzung

  • BELLA-Schema
    • Beziehungsaufbau/Gesprächsangebot
    • Erfassen der Situation inkl. Graduierung der Suizidalität
    • Linderung der Symptome
    • Leute einbeziehen
    • Ansatz zur Problembewältigung finden
  • Fragen zur Freiverantwortlichkeit
    • Ist der Sterbewunsch bedingt durch eine akute psychische Erkrankung und Ausdruck krankheitsbedingten Verhaltens?
    • Begründet sich der Sterbewunsch vorrangig auf nicht ausreichend behandelte Symptome einer Erkrankung oder ist anderweitig Ausdruck einer akuten Notlage?
    • Ist der Sterbewunsch Ausdruck einer Nebenwirkung von Medikamenten oder anderen iatrogenen Interventionen?
    • Basiert der Sterbewunsch auf einer Beeinflussung Dritter und ist nicht Ausdruck des freien Willens des Patienten oder der Patientin?
    • Kann der Patient oder die Patientin ihren Wunsch zu Sterben und die Motive hierfür plausibel formulieren?
    • Ist der Sterbewunsch reproduzierbar und nicht nur Ausdruck einer akuten, schweren Lebensmüdigkeit?

schematischer Ablauf Kommunikation Suizidassistenz

Quelle: https://register.awmf.org/assets/guidelines/053-063l_S1_Umgang-mit-dem-Wunsch-nach-Suizidassistenz-Hausarzt-Praxis_2024-08.pdf

Graduierung von Suizidalität

  • bei Konfrontation mit Wunsch nach Suizidassistenz im ersten Schritt Graduierung von Suizidalität vornehmen
  • bei Suizidalitätsgraduierung auch Risiko- & protektive Faktoren erfassen
  • CAVE: Äußerung eines Sterbewunsches kann Ausdruck akuter Suizidalität sein (ggf. sofortigem Interventionsbedarf wie Unterbringung oder Einweisung notwendig)
  • Graduierung von Suizidalität gemäß NVL „Unipolare Depression“ (2022)
    • Stufe 1: Lebensüberdruss, Wunsch nach Ruhe oder Pause („passiver Todeswunsch“)
    • Stufe 2: Suizidgedanken ohne konkrete Planungen
    • Stufe 3: konkrete Suizidpläne oder -vorbereitungen (z.B. Abschiedsbrief, Methodenerwerb, Probehandlungen)
    • Stufe 4: suizidale Handlungen

Motive für die Bitte um Suizidassistenz

  • Motive und Intentionen hinter der Bitte nach Suizidassistenz erfragen & dokumentieren (z.B. fehlende Lebensperspektive bei schwerer Erkrankung in 29,1 %, Angst vor Pflegebedürftigkeit in 23,9 % und Lebensmüdigkeit ohne Vorliegen einer schweren Erkrankung in 20,5 %)
  • bei somatischen/psychischen Ursachen für Sterbewunsch ermitteln, ob es kurative oder palliative Behandlungsoptionen gibt
  • CAVE: hinter Anfrage nach Suizidassistenz können andere Bedürfnisse als die tatsächliche Unterstützung beim Suizid verborgen sein (Bitte um Suizidassistenz ist nicht mit Handlungsauftrag gleichzusetzen)
  • bei adäquater Symptomkontrolle (häufig auch Therapie einer bis dahin möglicherweise nicht diagnostizierten Depression), nehmen viele Personen Abstand von ihrem Wunsch, ihr Leben zu beenden
  • laut dem BVerG-Urteil von 2020 steht es keinem Dritten zu, den Wunsch, das eigene Leben zu beenden, zu beurteilen –> ärztliche Beurteilung bedarf lediglich der Beantwortung der folgenden Fragen
    • Besteht akute Suizidalität und/oder Indikation zur sofortigen stationären Behandlung?
    • Liegt dem Wunsch nach Suizidassistenz eine behandlungsbedürftige Erkrankung zugrunde?
    • Beruht Suizidwunsch auf Leiden, welche mit anderen Mitteln oder Maßnahmen gelindert werden können? (CAVE: Patient*in nicht verpflichtet, diese auszuprobieren, jedoch sollte Information darüber erfolgen und bei Bedarf Zugang erhalten bleiben)
    • Ist Wunsches nach Suizidassistenz bei Bestehenbleiben freiverantwortlich zustande gekommen?

Einteilung der Gründe, die für den Wunsch nach Suizidassistenz

  • somatische Gründe (z. B. Schmerzen, Luftnot, Übelkeit/Erbrechen, ulzerierende Wunden, Inkontinenz),
  • psychische Gründe (z. B. innere Unruhe, Unbehagen, Traurigkeit, Angst – etwa vor Pflegebedürftigkeit oder Abhängigkeit),
  • soziale Gründe (z. B. Einsamkeit, Verlust der sozialen Rolle, finanzielle Schwierigkeiten, Gefühl der Vernachlässigung),
  • existenzielle oder spirituelle Gründe (z. B. Verlust der Würde, Gefühl der Handlungsunfähigkeit, Hoffnungslosigkeit, Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens)

Optionen der Suizidassistenz

  • medikamentöse Optionen
    • keine Verordnung von Betäubungsmittel nach Anlage III BtMG zum assistierten Suizid
    • Applikation/Einnahme des Medikamentes ist beim assistierten Suizid durch den Sterbewilligen selbst vorzunehmen
    • Applikationsweg für das Suizidmittel ist nicht unerheblich (entscheidend ist, ob sich die Sterbewilligen das Suizidmittel selbst zuführen oder dies durch Assistent*innen geschieht)
    • vorher besprechen, dass es zwar begrenzte Erfahrungen mit verschiedenen Mitteln gibt, jedoch keine systematische Forschung vorliegt –> daher Verlauf und unerwünschte Wirkungen des assistierten Suizides nicht vorhersagbar
    • mit Patient*innen und Angehörigen Prozedere vereinbaren, sollte der beabsichtigte Tod unter der Medikation nicht eintreten
  • nichtmedikamentöse Optionen
    • Behandlungsabbruch bei Sterbewunsch wegen fehlender Lebensperspektive im Rahmen einer schweren, unter Umständen progredienten somatischen Erkrankung oder in palliativer Situation –> Aufklärung über zu erwartende Verschlechterung von Symptomen sowie über Möglichkeiten der Linderung –> Einbeziehung von Hospizdiensten und Spezialisierter Ambulanter Palliativversorgung prüfen
    • freiwilliger Verzicht auf Flüssigkeit & Nahrung ist Entscheidung von Patient*innen, die bewusst auf Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit verzichten, um Todeseintritt zu beschleunigen oder herbeizuführen

Nachbereitung einer Suizidassistenz

  • Nachbereitung richtet sich gleichermaßen an das Praxisteam und an die Hinterbliebenen
  • Ressourcen zur Nachbereitung sind Teambesprechungen, Qualitätszirkel, Ambulante Ethikberatung, Angebote von Hospizdiensten und Trauerbegleitern
  • Angehörige sollten frühzeitig über das notwendige Procedere nach dem Eintreten des Todes sowie über die obligate Hinzuziehung der Polizei informiert werden
  • Unterstützungsangebote wie Trauerbegleitung für Hinterbliebenen (z.B. ambulante Hospizdienste) vermitteln, um sie in der Bewältigung ihrer Trauer & Emotionen zu unterstützen
Published inLeitlinien kompakt

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