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„Notfall- und Informationskoffer – Kinderschutz in der Arztpraxis und Notaufnahme“ des IQN

veröffentlichende Fachgesellschaft: Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 07.03.2023
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://www.aekno.de/fileadmin/user_upload/aekno/downloads/2023/Kindernotfallkoffer.pdf

gewichtige Anhaltspunkte beim Kind, die auf eine Kindeswohlgefährdung hinweisen

  • Berichte des Kindes über kindeswohlgefährdende Ereignisse oder Umstände
  • bei Verletzungen
    • geschilderte Anamnese ist nicht mit Verletzungen vereinbar
    • ungewöhnliche Verletzungen, z.B.:
      • sehr ausgeprägte Verletzungen (gleich welcher Art)
      • ungewöhnliches Aussehen (bspw. musterartige Ausprägung, wie z.B. auch Bissverletzungen)
      • ungewöhnliche („geschützte“) Lokalisation der Verletzungen (u.a. Lippen, Zähne, Mundinnenraum, Augenlider, Ohrmuschel, Gesäß, Genital etc.)
      • nicht versorgte (alte) Verletzungen
      • ungeklärte Verletzungen bei nicht-mobilen Kindern
      • Verletzung „unpassend“ für das Alter des Kindes; gesunde Neugeborene/Säuglinge haben keine Hämatome. Auch kleine, medizinisch nicht relevante Hämatome deuten auf einen unangemessenen Umgang mit dem Kind hin.
      • Vorsicht: Bei schweren inneren Verletzungen (z.B. Frakturen) können äußere Verletzungen fehlen! Das Schütteln eines Säuglings ist lebensgefährlich – und ebenfalls äußerlich nicht erkennbar.
  • auffällige Untersuchungsbefunde oder andere Hinweise auf eine Vernachlässigung der Gesundheitsfürsorge; fehlende/unzureichende Behandlung von Krankheiten
  • mangelnder Pflegezustand des Kindes
  • mangelnder Ernährungszustand des Kindes oder extreme Adipositas
  • unangemessene Kleidung

gewichtige Anhaltspunkte das Verhalten des Kindes betreffend

  • distanzloses Verhalten
  • aggressives Verhalten
  • (wiederholt) auffällige Verhaltensweisen des Kindes, die nicht durch eine Grunderkrankung erklärbar sind
  • Sprachentwicklungsstörungen
  • jede nicht anderweitig erklärbare Verhaltensänderung

Anhaltspunkte, die Sorgeberechtigten bzw. das elterliche Verhalten betreffend

  • Äußerungen über häusliche Überforderung/Probleme
  • psychische Auffälligkeiten/Erkrankungen
  • Hinweise auf elterliche Problematik (z.B. Aggression, Gewaltpotential, Delinquenz, fehlende Bildung, Partnerschaftskonflikte)
  • Familien in psychosozialen Belastungssituationen
  • Drogenkonsum und anderes Suchtverhalten der Eltern (z. B. Spiel-, Sex- & Kaufsucht)
  • Unfähigkeit der Eltern Signale eines Neugeborenen/Säuglings/Kindes richtig zu interpretieren und angemessen darauf zu reagieren
  • mangelnde Kooperation/Therapie-Compliance seitens der Eltern
    • fehlendes Umsetzen von Empfehlungen, mangelnde Versorgung insbesondere chronisch kranker Kinder seitens der Eltern
    • Unterlassen der (regelmäßigen) medikamentösen Versorgung des Kindes, Unterlassen der U-Untersuchungen des Kindes
    • Mangelnde Einhaltung der (Nachsorge-)Termine bei/nach Erkrankung/Verletzung, (mehrfach) unentschuldigtes Versäumen von Behandlungsterminen; auffällig häufige Absage von Behandlungsterminen
  • „Ärztehopping“ die Kinder betreffend
  • depressive, suizidale Gedanken bei der Mutter/dem Vater
  • gesundheitliche Einschränkungen, die die Versorgung eines Kindes beeinträchtigen
  • medikamentöse Behandlungen, die die Versorgung und Beaufsichtigung eines Kindes beeinträchtigen

(unfallbedingte) Hämatome bei Kindern mit körperlichen Einschränkungen

signifikante Unterschiede bei Kindern mit körperlicher Behinderung ab 4 Jahre

LokalisationKinder ohne Behinderung (%)Kinder mit Behinderung (%)
Unterschenkel50,112,0
Oberschenkel12,232,0
Füße4,330,0
Hände3,514,0
Arme3,024,0
Rücken4,318,0
Abdomen/Becken1,710,0

Lokalisation von Hämatomen bei Kindern mit körperlicher Behinderung ab 4 Jahre

  • typische unfallbedingte Hämatome
    • Oberschenkel
    • Füße
    • Hände
    • Arme
    • Rücken
    • Abdomen/Becken
    • Unterschenkel
  • Hotspots als Hinweise (nicht-akzidentelle Verletzungen)
    • Ohren
    • Hals
    • Gesäß
    • Genitalien
    • Oberkörper
    • Unterschenkel

Anamnese

  • Mimik & Verhalten des Kindes
    • Sucht das Kind „Schutz“ bei den Eltern?
    • Kuschelt das Kind?
    • Blickkontakt – Blick-Art (offen/neugierig/„frozen attention“/ängstlich)
    • normales/abweichendes Nähe- und Distanzverhalten
    • Pflegezustand/Zahnzustand/Ernährungszustand
    • altersentsprechende Entwicklung
  • Interaktion & Verhalten der Eltern
    • liebevoll/sicher
    • liebevoll/unsicher
    • grenzenlos
    • ungehalten/genervt
    • aggressiv
    • Überforderung
  • familiäre Konstellation
    • Beziehungsstatus (zusammen/alleinerziehend, verheiratet, gemeinsames/alleiniges Sorgerecht etc.)
    • neue Lebenspartner*in bei einem/beiden Elternteilen
    • Patchwork-Familie
    • Regelungen zum Umgangsrecht
  • Belastungen/Ressourcen
    • Wohnsituation
    • Arbeit/Arbeitslosigkeit
    • Pflegeleistung in der Familie (z.B. Großeltern)
    • psychische Erkrankungen/Belastungen
    • weitere Kinder
    • Hilfe/Unterstützung durch Andere (Familie, Freunde etc.)

Gesprächsführung

mit den (möglicherweise) gefährdeten Kindern/Jugendlichen

  • Einbeziehen des Kindes
  • direktes Ansprechen und Fragen an das Kind (Beurteilung von Reaktion von Kind und Eltern)
  • offene Fragen stellen
  • Suggestion und Manipulation des Kindes müssen unterlassen werden
  • Wertschätzung für sie selbst, für ihre ambivalenten Bedürfnisse und Gefühle, für ihre Eltern/den Schädiger/die Schädigerin
  • ggf. Körperschemazeichnung nutzen
  • Sicherheit vermitteln (Gespräch ermöglichen, aber nicht bedrängen; Schilderungen aushalten; Schutzgedanken vermitteln)
  • kein Geheimhaltungsversprechen, aber Information des Kindes, wer etwas erfährt
  • kein Trennen von Eltern und Kind erzwingen

mit den Sorgeberechtigten

  • wertschätzende, authentische Haltung
  • eigene Sorge um Kind benennen
  • nach Sorgen der Eltern fragen
  • benennen, dass Veränderung (z. B. von Überforderung) möglich ist
  • Zeit nehmen
  • Gewalt muss benannt werden (Erkennen ohne Benennen und Bewerten)
  • Besonnenheit vor Tempo (Ausnahme: vitale Gefährdung)
  • Ziel im Auge behalten (Kinderschutz, Schutz vor Gewalt, Kind im Mittelpunkt, Eltern gewinnen, Hilfe von außen)
  • möglichst sachliche Gesprächsführung und Berufung auf Fakten
  • keine eigenen Emotionen einfließen lassen
  • Verdacht muss nicht initial ausgesprochen werden, aber das Befunde klinisch abgeklärt werden müssen
  • bei Sorgen und Belastungen von Erwachsenen (z. B. psychische und Suchterkrankungen)

Vorgehen bei Verdacht auf Kindesmisshandlung und Hinweise zum weiteren Vorgehen

Akutfall

  • Einholen des Einverständnisses der Sorgeberechtigten für jede (körperliche) Untersuchungen
    • alters-/entwicklungsabhängig das Kind/den Jugendlichen einbinden
  • bei V.a. akuten sexuellen Missbrauch soll eine körperliche Untersuchung mit Spurensicherung in der Klinik erfolgen

weniger zeitkritische Fälle

  • Hinzuziehen weiteren Fachpersonals
  • exakte Dokumentation der Anamnese, Zitate wörtlich wiedergeben
  • Kontaktaufnahme mit Kinderklinik zur ambulanten Vorstellung (Kinderschutzambulanz) oder Beratung des weiteren Vorgehens
  • Fotodokumentation, wenn möglich (Lineal + Farbkarte + Name des Patienten), am selben Tag
    • CAVE: Einwilligung vorher einholen!!!
  • bei V.a. länger zurückliegendem Vorfall sexuellen Missbrauch: allgemeine körperliche Untersuchung
    • Klärung von Verdachtsfällen durch Risikoeinschätzung
  • körperliche Untersuchung nur bei Kooperation des Kindes
    • Zwangsmaßnahmen sind – außer bei blutenden Verletzungen – kontraindiziert
  • zeitliche Dimensionen bzgl. Verdacht auf sexuellen Missbrauch
Zeit nach Übergriff:
<24 Stunden
Zeit nach Übergriff:
24 h – 7 Tage
Zeit nach Übergriff:
> 7 Tage
GanzkörperuntersuchungSollSollSoll
ausführliche AnamneseSollSollSoll
anogenitale bzw. kindergynäkologische
Untersuchung unter Zuhilfenahme des Videokolposkops
SollSolltekann
Untersuchung auf sexuell übertragbare ErregerSollSollteSollte
Schwangerschaftstest
(Mädchen im gebärfähigen Alter)
SollSollteSollte
Spurensuche (DNA, Samen, Sperma)SollSollteSollte (nur Kleidung, Bettwäsche etc.)
Feststellung psychischer Status> 24 hSollteSollte

Krankenhauseinweisung

  • Krankenhauseinweisung bei V.a. schwerwiegende Verletzungen oder eine andere akute Gefährdungssituation
    • im besten Fall Einweisung durch Rettungsdienst
    • falls dies nicht möglich ist, Anmeldung durch Arzt/RD im KH, um Sicherheitsmechanismen zu etablieren, dass das Kind in der Klinik angekommen ist
  • Krankenhauseinweisung bei Indikationen, die eine längere Interaktionsbeobachtung erfordern (z.B. V.a. Vernachlässigung)
  • je jünger, desto eher stationäre Einweisung zur Gewährleistung der Sicherheit des Kindes

rechtliche Regelungen

Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG)

  • Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung

Werden
1. Ärztinnen oder Ärzten, Zahnärztinnen oder Zahnärzten Hebammen oder
Entbindungspflegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die
Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte
Ausbildung erfordert,
2. Berufspsychologinnen oder -psychologen mit staatlich anerkannter
wissenschaftlicher Abschlussprüfung,
3. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberaterinnen oder -beratern sowie
4. Beraterinnen oder Beratern für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer
Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist,
5. Mitgliedern oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und
8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes,
6. staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen oder -arbeitern oder staatlich
anerkannten Sozialpädagoginnen oder -pädagogen oder
7. Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten
Schulen
in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Erziehungsberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.

§ 4 Abs. 1 – KKKG

Die Personen nach Absatz 1 haben zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung dem
Träger der öffentlichen Jugendhilfe gegenüber Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren.

§ 4 Abs. 2 – KKKG

Scheidet eine Abwendung der Gefährdung nach Absatz 1 aus oder ist ein Vorgehen nach Absatz 1 erfolglos und halten die in Absatz 1 genannten Personen ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen abzuwenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die Personen nach Satz 1 befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen. Die Sätze 1 und 2 gelten für die in Absatz 1 Nummer 1 genannten Personen mit der Maßgabe, dass diese unverzüglich das Jugendamt informieren sollen, wenn nach deren Einschätzung eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen das Tätigwerden des Jugendamtes erfordert.

§ 4 Abs. 3 – KKKG

Entbindung von der (ärztlichen) Schweigepflicht

  • Personensorgeberechtigten fragen, ob man mit Kinderarzt*ärztinnen oder anderen medizinischen Heilberufen über die Befunde sprechen darf und umgekehrt
  • Einverständnis über wechselseitige Entbindung von ärztlicher Schweigepflicht per Unterschrift von den Personensorgeberechtigten bestätigen lassen
    • es reicht im Fall der Fälle auch eine mündliche Einverständniserklärung seitens der Personensorgeberechtigten

Sonstiges

Faktoren, die abhalten, die Diagnose Kindeswohlgefährdung zu stellen

  • Sympathie für Eltern/Mitleid mit den Eltern
  • Identifikation/Sympathie mit den Eltern
  • „leichte“ Verletzungen/„dezentere“ Fälle
  • fehlende weitere Hinweise auf eine Gefährdung des Kindes

Faktoren, die dazu führen, die Diagnose Kindeswohlgefährdung zu stellen

  • Antipathie den Eltern gegenüber
  • Pflege-/körperstatus der Eltern/des Kindes (ungepflegtes Aussehen, Zahnstatus etc.)
  • sozialer Status der Eltern
  • Auftreten der Eltern den klinischen Mitarbeiter*innen gegenüber

Dokumentation von geschilderten Ereignissen

  • detailliert und leserlich, jederzeit nachvollziehbar
  • wörtliche Rede markieren und klar erkennbar benennen, wer die Aussage getroffen hat
  • dringend zwischen objektiv nachvollziehbaren (Indikativ) und anamnestisch geschilderten Sachverhalten (Konjunktiv) unterscheiden
  • Kontext, in welchem die Aussagen entstanden sind
  • Verzicht auf Interpretationen und Zusammenfassungen des geschilderten Erlebten
Published inLeitlinien kompakt

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