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Positionspapier „Rettungsdienst 2030: Strategien für eine nachhaltige präklinische Notfallversorgung“ der DIVI

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 23.12.2024
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1007/s10049-024-01440-0

Grundsätzliches

  • primäre Aufgaben der Notfallrettung werden durch Fachkräftemangel, Einflüsse des demografischen & gesellschaftlichen Wandels sowie abnehmende Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung bei zeitgleich hoher Erwartung erschwert
  • vermeintlicher Unterversorgung der Bevölkerung kann nur durch zielgerichteten Einsatz der Ressourcen und eine Einbeziehung aller beteiligten Berufsgruppen begegnet werden
  • schon vor > 20 Jahren erforderten < 20 % der Notarzteinsätze tatsächlich eine notärztliche Intervention (nur in 11 % der Einsätze schätzen sich selbst notärztliche Kolleg*innen als erforderlich ein, trotz noch immer hohe Notarztnachforderungsquote von bis zu 23 %)
  • durch Laien übermitteltes Meldebild macht es schwierig zu entscheiden, ob die primäre Disposition von Notärzt*innen gerechtfertigt ist oder nicht, auch trotz automatisierter Notrufabfragesysteme

Leider hat „der nächste“ Patient im Rettungsdienst nach wie vor keine Lobby und muss auch im vital bedrohlichen Notfall immer wieder lange Wartezeiten in Kauf nehmen, wenn das eigentlich für ihn zuständige Rettungsmittel mit einem „Low-Code“-Fall belegt ist.

zentrale Rolle der Leitstelle und der gezielten Ressourcensteuerung

  • Leitstelle hat zentrale Rolle bei Steuerung der Reaktionsmöglichkeiten der Notfallversorgung
  • Reaktionsmöglichkeiten der Leitstelle müssen um den Einsatz von (Notfall‑)KTW, Gemeindenotfallsanitäter*innen, KV-Ärzt*innen, sozialpsychiatrischen Diensten, spezialisierter ambulanter Palliativversorgung, Notfallpflegedienst und Vergabe von Terminen in Notfallpraxen sowie zukünftig verstärkt um telemedizinische Systeme o. Ä. erweitert werden
  • System muss durch Ersthelfer-Apps gestärkt werden, v.a. zur Verkürzung des therapiefreien Intervalls
  • gezielte Disposition geeigneter Ressourcen als Reaktion auf Fachkräftemangel zur Entlastung des Systems und zur Verbesserung der Mitarbeitendenzufriedenheit (nicht jede*r Hilfesuchende muss notwendigerweise innerhalb weniger Minuten mit Sonderrechten erreicht werden, nicht jede*r Patient*in muss ins KH und nicht immer ist die Notfallrettung der richtige Ansprechpartner
  • Leitstelle als Gatekeeper im Sinne einer Verteilungs- und Steuerungsfunktion, um das Anliegen der Hilfesuchenden soweit möglich zu objektivieren und adäquate Reaktionsmöglichkeiten bereitzuhalten, dazu sollte folgendes erfolgen:
    • Notrufnummern 112 & 116117 eng vernetzen sowie digitale Übergabe der Datensätze
    • standardisierte Notrufabfrage
    • erforderliche ärztliche Behandlung muss nicht immer in der gleichen Dringlichkeit erfolgen und auch nicht ausschließlich notärztlich sein
    • Evaluierung & Anpassung des Hausbesuchsdienstes der KV anhand transparenter Qualitätskriterien, wenn KV-Dienst nicht verpflichtend durch die Leitstellen disponiert werden kann bzw. die Entscheidung über einen Hausbesuch beim jeweiligen KV-Arzt liegt
    • Substitution fehlender Ressourcen in einem Bereich darf nicht regelhaft zur Belastung anderer Bereiche führen
  • kontinuierliche Verbesserung der Abfrage- und Dispositionsprozesse & gezielte Anpassung an die zu disponierenden Ressourcen durch Rückmeldungen von den initial eingesetzten Einsatzkräften sowie systematische Erhebung & Berücksichtigung der Ergebnisse zum Zeitpunkt des Fallabschlusses
  • gesonderte, einheitliche Ausbildung für Leitstellendisponent*innen zur qualifizierten Durchführung der Aufgaben wie Einschätzung & Disposition sowie zur kontinuierlichen Verbesserung der Ergebnisqualität

Akademisierung von Notfallsanitäter*innen

  • NFS heute bereits umfassend ausgebildet (curriculares Wissen ist weniger breit & tief als das Ärztliche nach einem Medizinstudium, aber Berufsausbildung erfolgt v. a. handlungsorientiert, die gelehrten Skills dienen dem akuten Gefahrenmanagement, der präklinischen Lebensrettung und der Abwehr schwerer gesundheitlicher Schäden)
  • vordefinierte Zustandsbilder können im Rahmen der „2c-Delegation“ durch verantwortliche Ärzt*innen vollumfänglich abgearbeitet, um so notärztliche Ressourcen zu schonen
  • begrenzte Erlaubnis zur Heilkundeausübung für „2a-Maßnahmen“ (§ 2a NotSanG) sorgt mittlerweile auch außerhalb der Delegation für Rechtssicherheit
  • anhaltend hohe Nachfrage nach der Berufsausbildung zum/zur Notfallsanitäter*in hilft derzeit nur unvollständig Mitarbeitende langfristig im Rettungsdienst zu binden, v.a. aufgrund zu vieler Bagatelleinsätze, fehlender Aufstiegsmöglichkeiten, zu weniger Befugnisse sowie dem Aufeinandertreffen des generellen Personalmangels auf steigende Einsatzzahlen
  • akademisch qualifizierte Sanitäter*innen haben sich international bereits als kompetente Bestandteile des Versorgungssystems bewährt (höhere Berufszufriedenheit, höhere Patientensicherheit und reduzierte Sterblichkeit im Vergleich zu Nicht-Akademisierten)
  • modularer Aufbau mit initialer Ausbildung, dann nach dem Erwerb entsprechender Berufserfahrung weiterführendes Studium (evtl. auch durch ein Auswahlverfahren selektiert), da nicht alle Notfallsanitäter*innen eine akademische Laufbahn einschlagen werden
  • „Low-Code“-Einsätze („general/primary response“ [Krise]): bereits funktionierende Projekte und Qualifizierungsangebote wie Gemeindenotfallsanitäter oder Rettungseinsatzfahrzeug zur Reduktion unnötiger RTW-Einsätze und zur bedarfsgerechten Versorgung/Zuweisung ermöglichen –> Qualifizierungen als Inhalt eines Bachelor-Notfallsanitäters an Hochschulen
  • „High-Code“-Einsätze („emergency response“ [Notfall]): keine Aufdehnung des Versorgungsspektrums, sondern vollumfängliche Ausschöpfung der aktuell angedachten Möglichkeiten (derzeit keine validen Daten, warum dies nicht der Fall ist) –> wachsender Anteil der 3‑jährig ausgebildeten Notfallsanitäter, umfassendere Qualifizierung am Patienten und fortführende Trainings –> weiterführendes Masterstudium an medizinischer Fakultät, um invasive diagnostische & therapeutische Maßnahmen/Interventionen zu erlernen
  • studierte Notfallsanitäter*innen werden annehmbar nicht mehr nur den Dienst auf dem RTW verrichten, denkbar wäre auch die alleinige Patient*innenversorgung oder zusätzlich zum RTW sowie Tätigkeiten wie Ausbildung, Qualitätssicherung etc.

Zukunft des Notarztdiensts

  • Rolle von Notärzt*innen muss in einem sich verändernden gesellschaftlichen, gesundheitspolitischen und rettungsdienstlichen Umfeld komplett überdacht und angepasst werden
  • Perspektive Telenotärzt*innen
    • langjährig erfahrene Fach- & Notärzt*innen fungieren als fernmündlicher Berater sowohl für NFS als auch für Notärzt*innen vor Ort, welche Fachlichkeit und klinische Erfahrung einbringen und auf elektronischem Wege auf das gesamte weltweit verfügbare Wissen zugreifen können (CAVE: Möglichkeiten, die Situation in ihrer Gesamtheit zu erfassen, sind damit ebenso begrenzt wie seine Möglichkeiten, den „klinischen Blick“ einzusetzen)
    • in unübersichtlichen und/oder hochdynamischen Situationen (VU, Kindernotfall mit vitaler Bedrohung etc.) stößt das System „Telenotärzt*innen“ an seine (technischen) Grenzen
  • Perspektive Präsenznotärzt*innen
    • zunehmende Etablierung des Systems „Telenotärzt*innen“ lässt Änderung der Dispositionsstrategie und damit auch Struktur des Präsenznotärzt*innensystems erwarten
    • flächendeckendes Notfallsanitäter*innensystem mit ausreichenden Skills zur Stabilisierung der Vitalfunktionen, welches ohne Zeitverzögerung durch telenotärztliche Expertise ergänzt werden kann, wird künftig häufiger Notärzt*innen vor Ort ersetzen und entsprechende Zustandsbilder final abarbeiten –> Tätigkeit der Präsenznotärzt*innen zukünftig bei Fällen, bei denen wirklich flexible, schnell abrufbare notärztliche Handlungskompetenz erforderlich ist, wie z.B.
      • akut lebensbedrohliche ABCD-Probleme mit (potenziell) hoher Dynamik (z. B. Reanimation, Anaphylaxie, Epiglottitis)
      • seltene Zustandsbilder (z. B. hypotherme Patient*innen)
      • MANV/E
      • schwerer Verkehrsunfall/Polytrauma
      • vital bedrohlicher Kindernotfall
      • Geburt
      • repositionspflichtige Fraktur/Luxation (Analgesie, Reposition)
      • lebensbedrohliche Herzrhythmusstörung
      • Intoxikation mit Bewusstlosigkeit und/oder Ateminsuffizienz
      • unklare Situationen, die einen „klinischen Blick“ fordern
    • Präsenznotärzt*innensystem der Zukunft wird erwartbar von weniger, eher zentral gelegenen Standorten aus bedient werden (Zugriffszeit wird sich verlängern, aber die dann am Notfallort eintreffende notärztliche Qualität wird deutlich höher sein)
    • Abschaffung der immer noch vorhandenen Fachkunde Rettungsdienst und bundeseinheitliche Voraussetzungen und Vorgaben für den Erwerb der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin –> Angleichung der heterogenen Forderungen und Voraussetzungen der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin mit curricularen Aufbau und ausreichend breitem Handlungswissen inkl. CRM- und Führungsthemen sowei sicher abrufbaren Skills wie
      • Versorgung kritisch kranker Kinder (II = können)
      • Atemwegsmanagement inkl. Narkosedurchführung (III = beherrschen)
      • Gefäßzugang (peripher, intraossär) (IV = Expert*in)
      • Gelenkreposition (III = beherrschen)
      • Thoraxdrainage (III = beherrschen)
      • Notkoniotomie (III = beherrschen)
      • sonographische Notfalldiagnostik, z.B. eFAST (III = beherrschen)
    • kritisches Hinterfragen des Notarztindikationskatalog (NAIK) zu gegebener Zeit und Abbildung eines Gesamtkatalogs mit allen drei Eskalationsstufen der Notfallrettung mit NFS, TNA & Präsenznotärzt*innen (aktuell überarbeitete NAIK berücksichtigt jedoch nicht die Ausführung heilkundlicher Maßnahmen durch Notfallsanitäter*innen)
    • Erwägung der Auslagerung präsenznotärztlicher Kernkompetenzbereiche an Spezialistensysteme wie „Kindernotärzt*in“, „Medical Intervention Car (MIC)“ oder zusätzlich nachforderbaren „Senior EMS Physician“ (CAVE: Rettungsdienstgesetze der Länder fordern eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung)
    • bei künftig geforderten notärztlichen Kompetenzen handelt es sich v. a. nicht um oberflächlich angelerntes, sog. „träges“ Wissen, sondern um „ärztliche Skripte höherer Ordnung“, die erst im Anschluss an systematischen Wissensaufbau durch Buch oder Unterricht durch Wissenstransfer & -umbau im Rahmen klinischer Berufserfahrung entstehen und als echte Kompetenzen aufrechterhalten werden können
    • „Notarzt-Oberarzt-Funktion“ als fachliches Back-up bzw. „Sparringspartner“, kurzfristig allenfalls über das Telenotarztsystem realisierbar
    • CAVE: TNA nicht als Begründung dafür missbrauchen beim Präsenznotärzt*innendienst weiterhin Expertise einzusparen

Curricula ärztlicher Weiterbildung und die Gesetzgebung suggerieren nach wie vor unbeirrt, zwei Jahre ärztlicher Berufserfahrung und ein 80-stündiger Vorbereitungskurs reichen aus, um sich als „Notarzt“ an die Spitze der rettungsdienstlichen Eskalationsstrategie zu setzen!

effiziente Struktur, interprofessionelle Zusammenarbeit und standardisierte, digitale Dokumentation als Schlüssel für die Zukunft des Rettungsdiensts

  • klare Zuordnung von Kompetenzen und Aufgaben als Grundlage eines effektiven und effizienten Systems, um das Gesamtsystem zukunftsfähig zu machen, sodass die einzelnen Komponenten sinnvoll disponiert werden, reibungslos ineinandergreifen und sich ergänzen
  • klare Definition für welche Situationen und Maßnahmen Notärzt*innen in Präsenz oder als Telenotarzt hinzugezogen werden müssen für eine sinnvolle und zielgerichtete Ressourcennutzung
  • umfassende Freigaben für NFS, die von ihr/ihm erlernten Tätigkeiten auch zur Anwendung bringen
  • Notfallmedizin ist interprofessionelle Teamarbeit und nur in Kenntnis & Akzeptanz der gegenseitigen Kompetenzen werden gut ausgebildete Notärzt*innen gemeinsam mit dem Rettungsfachpersonal den entscheidenden Zugewinn für das Behandlungsergebnis der Patient*innen erzielen
  • gemeinsame Fort- und Weiterbildungen als wichtiger Baustein für die interprofessionelle Teamarbeit (CAVE: Fortbildungspflicht für beide Berufsgruppen UND zumindest anteilig gemeinsame Trainings und Übungsszenarien)
  • zentrale Rolle für Qualitätsmanagement & Qualitätssicherung (bundesweit einheitliche Qualitätsindikatoren für Überprüfung der Einsatz von Notärzt*innen und des Rettungsfachpersonals SOWIE Ausbau der Digitalisierung und Lösung der Schnittstellenproblematiken)
  • Förderung der Zusammenarbeit im täglichen Arbeitsalltag durch gemeinsame Teambriefings zum Dienstbeginn
  • positive Beeinflussung der Patient*innensicherheit im Einsatz durch Kenntnis & Anwendung gemeinsamer Checklisten
  • standardisierte Rückmeldung der Krankenhäuser an die Präklinik zum weiteren Verlauf, um den Lerneffekt aus Einsätzen zu erhöhen (aktuell Datenschutz als ursächliches Problem)
  • erheblicher Optimierungsbedarf der Schnittstelle Rettungsdienst & ZNA
    • einheitlich & flächendeckend digitale Dokumentation mit Plausibilitätsprüfung und Echtzeitdatenübertragung
    • Nutzung von Alarmierungs‑/Anmeldesystemen, wie z. B. IVENA oder rescuetrack, aber nicht nur zur Übermittlung der Basisdaten der Disposition (Eintreffzeit, Alter, Geschlecht, Diagnosegruppe)
    • Rückbau der Fragmentierung der Kommunikations- & Informationsstrukturen in der Rettungskette
    • Einführung einer standardisierten, digitalen Dokumentation im interoperablen Sinne einer sog. digitalen Rettungskette
      • einheitlicher Dokumentationsstandard für alle Sektoren der Notfallversorgung zur ressourcenschonenden effektiven Datennutzung im Kontext der Notfallversorgung für die Qualitätssicherung & -verbesserung sowie für die Erhöhung der Patient*innensicherheit
      • Interoperabilität der Daten bei der Nutzung über verschiedene IT-Systeme und Gesundheitseinrichtungen hinweg (z.B. Verwendung einheitlicher Kommunikationsstandards, wie z.B. Health Level 7)
      • einheitlicher, interoperabler Datenstandard, der in den jeweiligen Notfallinformationssystemen während der Akut- & Notfallversorgung routinemäßig erhoben wird (z.B. DIVI-Notfalldatensatz der Sektion Notfalldokumentation der DIVI, der u. a. ein Notfalleinsatz- und ein Notaufnahmeprotokoll umfasst)
      • Nutzung der erhobenen Daten in der Infrastruktur des sog. AKTIN-Notaufnahmeregisters für Qualitätsmanagement, Public Health Surveillance und Versorgungsforschung
Published inLeitlinien kompakt

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