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15.03. – Internationaler Tag gegen Polizeigewalt

Heute wenden wir uns bei FOAMio einem schwierigen Thema zu, denn heute ist der Internationale Tag gegen Polizeigewalt. Der Internationale Tag gegen Polizeigewalt findet seit 1997 jährlich am 15. März statt und wurde durch das Collective Opposed to Police Brutality aus Montreal und die Black Flag Group aus der Schweiz ausgerufen.

Bevor wir uns genauer mit dem Themenbereich Polizeigewalt bzw. Polizeibrutalität beschäftigen ein paar einleitende Worte: Polizeigewalt ist ein schon lange bestehendes Problem und stellt bei Betrachtung der Zahlen keinen Einzelfall mehr dar, aber gleichzeitig gilt es zu betonen, dass die große Menge an Polizist*innen ihren Dienst im Rahmen der geltenden Gesetze und Vorschriften vollzieht ohne dabei übermäßige Gewalt einzusetzen. Dieser Beitrag soll also auf gar keinen Fall eine Vorverurteilung aller in Deutschland tätigen Polizist*innen sein, aber trotzdem sind die Fallzahlen so hoch, dass man die Augen vor diesem Thema nicht verschließen sollte. Gleichzeitig ist es aber wichtig zu betonen, dass wir bei FOAMio mit diesem Beitrag eine allgemeine Vorverurteilung ggü. den Kolleg*innen der Polizei aussprechen wollen. Für uns ist die Zusammenarbeit mit den Landespolizeien und auch der Bundespolizei ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit und wir würden unseren Dienst nicht ohne die Unterstützung der Polizeikolleg*innen nicht versehen, nicht nur, weil wir dadurch besser geschützt vor Übergriffen sind, sondern einfach weil die gemeinsame Arbeit in einem guten und vertrauensvollen Umfeld stattfindet und das Gros der Kolleginnen und Kollegen der Polizeien einen wichtigen, guten und korrekten Job machen!

Um die nachfolgenden Zahlen zum Problem der Polizeigewalt in Relation setzen zu können ist es initial auch noch wichtig sich die Zahl der Polizeibediensteten in Deutschland genauer zu betrachten. Im Jahr 2022 waren bei den 16 Landespolizeien ca. 278.000 Polizist*innen beschäftigt. Hinzu kommen noch die ca. 54.000 Beschäftigten bei der Bundespolizei, die etwa 8.100 Beschäftigten beim Bundeskriminalamt sowie die 210 Beschäftigten bei der Polizei beim Deutschen Bundestag. Insgesamt gibt es also etwa 340.000 Beschäftigte bei allen Polizeibehörden in Deutschland.

BereichVollzeitäquivalente (in 1.000)1Anzahl je 100.000 Einwohner*innen
Bund (Bundes­polizei & Bundes­kriminal­amt)59,571 (davon 61 Beamt*innen)
Baden-Württemberg30,6273 (davon 241 Beamt*innen)
Bayern40,6305 (davon 267 Beamt*innen)
Berlin3,7704 (davon 576 Beamt*innen)
Brandenburg8,9346 (davon 311 Beamt*innen)
Bremen3,7536 (davon 474 Beamt*innen)
Hamburg10,7569 (davon 482 Beamt*innen)
Hessen17,6276 (davon 228 Beamt*innen)
Mecklenburg-Vorpommern6,2382 (davon 341 Beamt*innen)
Niedersachsen24,3300 (davon 256 Beamt*innen)
Nordrhein-Westfalen53,8298 (davon 253 Beamt*innen)
Rheinland-Pfalz12,9310 (davon 263 Beamt*innen)
Saarland3,1316 (davon 314 Beamt*innen)
Sachsen14,9366 (davon 314 Beamt*innen)
Sachsen-Anhalt8,1370 (davon 336 Beamt*innen)
Schleswig-Holstein8,9302 (davon 269 Beamt*innen)
Thüringen7,2338 (davon 301 Beamt*innen)
1: Anzahl der gearbeiteten Stunden, geteilt durch die übliche Arbeitszeit eines Vollzeit-Erwerbstätigen,
beispielsweise 40 Stunden (z.B. zwei 50%-Teil­zeit­beschäftigte bilden ein Voll­zeit­äquivalent)
Quelle: https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Oeffentlicher-Dienst/Tabellen/beschaeftigten-polizei.html?nn=212936

Um darüber hinaus zu verstehen wieso das Thema der Polizeigewalt in Deutschland so ein relevantes Thema ist, ist es wichtig sich kurz mit dem staatstheoretischen Komplex des Gewaltmonopols zu beschäftigen, um zu erkennen wieso wir an Polizeibedienstete einen meist höheren Anspruch zur Einhaltung haben als an den/die Otto-Normalbürger*in.

Das Gewaltmonopol in Deutschland

Gemäß dem Soziologen Max Weber ist unter dem Begriff „Gewaltmonopol“ die alleinige rechtliche Legitimation zu physischer Gewaltausübung eines Staates im eigenen Herrschaftsbereich zu verstehen. Ziel des Gewaltmonopols ist die Sicherung des inneren Friedens in einem Land, ohne dabei gedanklich den Zweck des Machterhalts oder sogar einer Machtsteigerung zu erfüllen. Das Gewaltmonopol ist hierbei auf die konstituierende Ordnung der Freiheit in demokratischen Staaten zurückzuführen. Das Gewaltmonopol ist in Deutschland in Art. 20 GG niedergeschrieben, um das Funktionieren des Rechtsstaates zu sichern. Art. 20 GG verfolgt dabei den Grundgedanken, dass die Bürger*innen darauf verzichten Gewalt auszuüben, um etwaige eigene Rechte bzw. Ansprüche durchzusetzen, sondern die Gewaltausübung zum Durchsetzen dieses Rechte/Ansprüche auf die staatlichen Organe der Judikative und Exekutive, also Gerichte, Polizei und Verwaltung übertragen, welche selbst zur Einhaltung an die, durch die Legislative verfassten, geltenden Gesetze verpflichtet sind.

Natürlich gibt es aber auch Ausnahmen von diesem Gewaltmonopol. Hierzu zählt das Rechte der Gewaltausübung zur Abwehr gegen aktuelle rechtswidrige Angriffe (Notwehr, Nothilfe) oder zum Schutz vor sonstigen Gefahren (Notstand). Darüber hinaus gibt es noch das Recht der Jedermann-Festnahme gemäß § 127 Abs. 1 StPO, welches alle Bürger*innen dazu berechtigt auf frischer Tat ertappte Straftäter*innen festzunehmen und dabei auch die notwendige Gewalt auszuüben, sowie das private Widerstandsrecht gemäß Art. 20 Abs. 4 GG, welches greift sofern die staatliche Rechtsordnung versagt oder der Staat selbst zur Bedrohung für die Rechte der Bürger*innen wird.

Wie schon erwähnt ist die Polizei durch das staatliche Gewaltmonopol dazu berechtigt in bestimmten Situationen unmittelbaren Zwang in Form körperlicher Gewalt mit und/oder ohne Zuhilfenahme von Hilfsmittel oder Waffen anzuwenden, jedoch in einem engen rechtlichen Rahmen und unter Wahrung der geltenden Grundrechte aller Menschen. Die Anwendung des unmittelbaren Zwangs kann hier im Bereich der Strafverfolgung, aber auch im Rahmen der Abwendung unmittelbar drohender Gefahren notwendig sein. Wie und in welcher Form durch die Polizei unmittelbarer Zwang angewendet werden darf ist hierbei in den Polizeigesetzen der Länder geregelt. Die Zwanganwendung darf nur erfolgen, wenn es kein milderes Mittel zur Abwendung der Gewalt gibt und unterliegt dabei immer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Hierdurch entsteht ein sehr besonderes Verhältnis der Polizei zum Bereich der Gewaltanwendung als primäre Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols, woraus sich im Rahmen der Anwendung unmittelbaren Zwangs ein höherer Anspruch an die Einhaltung der geltenden, die Gewaltanwendung betreffenden Gesetze ergibt.

Polizeigewalt in Deutschland

Der Bereich der Polizeigewalt in Deutschland ist bis jetzt ein wenig erforschter Bereich, was vor allem auch daran liegt, dass der politische Wille fehlt große Studien in Auftrag zu geben, welche diesen Phänomenbereich genauer untersuchen. Hier wird vor allem immer die Einzelfall-Argumentation mit der damit verbundenen Sorge der pauschalen Vorverurteilung aller Polizist*innen in Deutschland als Begründung herangezogen. Bei diesem Argument merkt man schon wie politisiert diese Diskussion ist und wie irrational die Sichtweise einiger Politiker*innen ist. Denn wenn es sich bei den Vorfällen nur um Einzelfälle handeln würde, würde dies ja in den Studien bestätigt werden und man kann die pauschalen Vorwürfe gut zurückweisen. Gleiches gilt für die Diskussion bzgl. der Installation von unabhängigen Polizeibeauftragten.

Aufgrund dieser problematischen Datenlage gibt es aktuell quasi nur Daten aus dem Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol) von Tobias Singelstein et al. von der Goethe-Universität Frankfurt am Main, auf welches wir uns nachfolgend auch beziehen. Bzgl. der Studie ist aber zu betonen, dass diese nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ist, da spezifisch Menschen um Teilnahme an der Studie gebeten worden sind, die illegale Polizeigewalt erlebt haben. Desweiteren ist zu berücksichtigen, dass es keine einheitliche Definition des Begriffs „übermäßige Gewaltanwendung“ gibt. Die Studienautor*innen verstehen darunter Handlungen, die aus Perspektive von Betroffenen, Anwältinnen und Anwälten, der Polizei sowie anderen Befragten „Grenzen des Akzeptablen überschritten haben“. Diese sehr weite Definition wurde gewählt, um auch das Dunkelfeld untersuchen zu können. Die gewählte Definition ist auch der Stein des Anstoßes der Kritik ggü. der Studie, z.B. durch Innenpolitiker*innen und Verantwortliche aus Polizeiverbänden/-gewerkschaften (siehe z.B. KSA vom 17.05.2023).

Zum Befragten-Kollektiv der Studie sind folgende Aussagen zu treffen. 72 % sind Männer, im Durchschnitt sind die Befragten 26 Jahre alt und überdurchschnittlich gebildet und 16 % haben einen Migrationshintergrund (5 % PoC). Grundlage für die Studie war die Befragung von mehr als 3.300 Betroffenen und mehr als 60 qualitative Interviews mit Polizist*innen, Richter*innen, Staatsanwält*innen, Opferberatungsstellen und Rechtsanwält*innen. Ergebnisse der KviAPol-Studie zeigen sich wie folgt:

Wahrscheinlich gibt es jährlich min. 12.000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamt*innen, was fünf Mal mehr als die angezeigten Übergriffe sind (ca. 2.800 Verdachtsfälle illegaler Polizeigewalt gegen rund 4.000 Polizist*innen im Jahr laut amtlicher Statistik). Grundsätzlich kritisierte auch nur ein 1/5 der Befragten den zugrundeliegenden Polizeieinsatz an sich, aber 22 % den Zeitpunkt der Gewalt (i.d.R. der zu schnelle Einsatz der Gewalt), 17 % die Intensität der Gewaltanwendung und 15 % die angenommene individuelle illegitime Motive der Beamt*innen.

Bzgl. den Anlässen für den Kontakt mit der Polizei und einem ggf. nachfolgenden Erleben von Polizeigewalt konnten Singelstein et al. folgendes Bild zeichnen. Hierbei ist aber zu betonen, dass vor allem Menschen mit Migrationshintergrund (24 %) sowie PoC (11 %) Polizeigewalt in Einsätzen außerhalb von Großveranstaltungen erlebten. So gaben auch 1/3 der Befragten an, sich während der Maßnahme diskriminiert zu fühlen.

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

In den meisten Fällen erfolgten die Vorfälle draußen in der Öffentlichkeit und in den wenigsten Fällen im privaten Bereich, im ÖPNV oder an den weiteren Örtlichkeiten, welche der nachfolgenden Grafik zu entnehmen sind.

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Die Geschlechtsverteilung bzgl. der Gewaltanwendung durch Polizeibeamt*innen ist vor allem männlich geprägt. In nur wenigen Fällen kommt es zur Gewaltanwendung durch Polizistinnen, diese sind aber in ca. 80 % der Fälle bei solchen Vorfällen ebenfalls anwesend. Auch das gemischte Geschlechterkollektiv kommt in weniger als 1/4 der Fälle vor. Zu betonen ist zusätzlich noch, dass nur in 26 % die Gewalt nur von einem/einer Beamt*in ausging. In etwa einem Drittel der Fälle ging die Gewalt von zwei oder drei Polizist*innen aus. Nur in ca. 16 % der Fälle geschah die Gewalt durch mehr als 10 gewaltausübende Beamt*innen. Zusätzlich ergab die Studie, dass vor allem männliche Polizisten im Alter bis 30 Jahre Gewalt anwendeten. Die gewaltanwendenden Polizist*innen trugen in 79 % der Fälle eine Körperschutzausrüstung, v.a. bei Großveranstaltungen (94 %). Bei Einsätzen außerhalb von Großveranstaltungen wurde laut der Studie in 69 % die Alltagsuniform getragen.

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Hinsichtlich der Formen der Gewaltanwendung zeigt sich, dass es in den meisten Fällen zum Festhalten/hart Anfassen, Schubsen/Stoßen oder Schlägen kommt.

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Bzgl. der Gewaltanwendung in Form von Schlägen wird nochmals wie folgt unterschieden:

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Die physischen Folgen der Gewaltanwendung durch Polizist*innen sind meist dem Bereich der weniger schweren körperlichen Verletzungen zu zuordnen. In der Gesamtheit berichten 71 % der Betroffenen von leichten und mittleren Verletzungen und 19 % der Betroffenen berichteten von schweren physischen Verletzungen (z.B. Knochenbrüche, Kopfwunden, innere Verletzungen). In 31 % der Fälle dauerte der Heilungsprozess mehrere Wochen und in 4 % hatten die Betroffenen bleibende Schäden.

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Jedoch kommt es nicht selten zu eher eher psychischen bzw. sozialen Folgen der Gewaltanwendung durch Polizist*innen, wie die nachfolgende Grafik zeigt.

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Bei der Bewertung der Rechtswidrigkeit durch die Betroffenen in Bezug auf den Anlass der Polizeikontrolle zeigt das nachfolgende Bild. Zu betonen ist hier natürlich, dass es sich hierbei eher um subjektive und um schwer objektivierbare Einschätzungen der Betroffenen handelt. Die einzelnen Punkte sind hierbei wie folgt zu verstehen:

  • kein Einsatzgrund: keine Rechtfertigung der Polizei, überhaupt einzuschreiten
  • banaler Einsatzgrund: zugrundeliegender Einsatz erscheint zu banal, um Gewalt zu rechtfertigen
  • Gewalt war noch nicht notwendig: zu schneller Einsatz von Gewalt, die noch nicht notwendig war (weiteres Warten bzw. Kommunikation durch die Polizei erwartet)
  • Gewalt war nicht mehr notwendig: Ziel der Maßnahme wurde bereits (ohne Gewalt) erreicht
  • Schaffung einer gefährlichen Lage: polizeiliches Vorgehen führte zu Situation, die gefährlich war durch polizeiliches Handeln sowie durch widersprüchliche/unmögliche Anweisungen
  • Gewalt gegen unbeteiligte/nicht gefährliche Personen: Gewaltanwendung gg. Nichtstörer*innen oder Personen, die selbst keine Gewalt ausübten oder dies versuchten
  • Intensität: Gewaltmaß (Gewaltmittel und/oder Intensität) stand außer Verhältnis zum Ziel
  • Überschießen: aus ursprünglich notwendiger Gewalt wurde übermäßige Gewalt, da das Ziel bereits erreicht war (Exzess)
  • illegitime Motive: vorsätzliche Eskalation und innere, ungesetzliche Ziele (Spaß, Macht u. Ä.)
Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Hinsichtlich der Gründe bzw. des eigenen Verhaltens oder des Verhaltens der Polizei lassen sich vor allem die nachfolgenden Punkte ausmachen.

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.
Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Als Gründe für die Eskalation der Polizeigewalt gaben die Befragten z.B. das polizeiliche Einschreiten selbst, vor allem im Rahmen von Demonstrationen oder bei Großveranstaltungen, an sowie bei Einsätzen außerhalb von Großveranstaltungen das Nichtbefolgen von Anweisungen. In der Gesamtschau betrachtet geben 25 % an, dass das polizeiliche Einschreiten ausschlaggebend für die Eskalation war, in 19 % beschrieben die Befragten das Nichtbefolgen von Anweisungen der Moment der Eskalation als Auslöser und in 17 % der Fälle sahen die Befragten den Grund der Eskalation im konkreten Verhalten der gewaltanwendenden Beamt*innen. In 12 % der Fälle war für die Betroffenen kein Auslöser für die Gewalt erkennbar. Zusätzlich zeigte die Untersuchung, dass etwa 1/3 angaben, dass zwischen dem ersten Kontakt mit der Polizei und der Gewalt weniger als 2 Minuten vergingen, 20% sagten sogar, es habe vorher gar keinen Kontakt gegeben.

Die Arten/Kategorien des Eskalationsmoments sind hierbei wie folgt zu verstehen:

  • konkrete Auslöser
    • Nichtbefolgen von Anweisungen: nicht (umgehende) Befolgung dessen, was die Polizei verlangte (z.B. verbaler Protest oder Nachfragen, Weigerungen sowie Versuche, sich der Maßnahme zu entziehen)
    • aktive Handlung der Betroffenen oder Dritter: polizeiliche Gewaltanwendung als Reaktion auf bestimmte aktive Handlungen (z.B. Vermummung, Filmen; darunter kann sowohl verbotenes als auch erlaubtes Verhalten fallen)
    • konkretes Verhalten der Polizeibeamt*innen
  • kontextuelle Bedingungen
    • polizeiliches Einschreiten (z.B. Durchführung von Maßnahmen, während derer Gewalt angewendet wird)
    • Situationsdynamik (Gewaltentstehung durch Dynamik der Situation an sich und nicht durch konkretes individuelles Verhalten)

Gegen etwa ein Drittel (31 %) aller befragten Betroffenen wurde deren Angaben zufolge Anzeige erstattet, wobei zu erwähnen ist, dass sich die Teilstichproben deutlich unterscheiden. In 70% der eingeleiteten Strafverfahren wurden selbiges wegen § 113 und/oder § 114 StGB (»Widerstand gegen« bzw. »Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte«) geführt, wovon dieses in 24 % der Fälle ausschließlich deswegen geführt wurde und beim Rest in Kombination mit anderen Tatbeständen. Auf der anderen Seite zeigt sich dann aber, dass 74% der Befragten die Polizeibeamt*innen nicht identifizieren konnten und deshalb auf eine Anzeige verzichtet hätten.

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Betrachtet man die abschließende Verfolgung der Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt, welche laut der KviAPol-Stichprobe nur in 9,2 % der Fälle erfolgte, so ergeben die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2021 das folgende Bild im Vergleich zur Gesamtheit aller Strafverfahren in Deutschland. In echten Zahlen bedeutet dies, dass 2021 in den 80 Verfahren wegen Körperverletzung im Amt 27 Personen verurteilt, 25 freigesprochen wurden und in 28 Fällen wurde das Verfahren durch das Gericht eingestellt (hier Verurteilungsquote mit 34 % im Vergleich zur durchschnittlichen Verurteilungsquote von 81 %).

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Bei der reinen Betrachtung der Zahlen aus der KviAPol-Studie zeigt sich das nachfolgende Bild, welches vor allem im Vergleich zu den Verfahren gegen die Betroffenen einen klaren und signifikanten Unterschied zeigt.

Quelle: Abdul-Rahman, Laila, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, und Tobias Singelnstein.
Gewalt im Amt. DE: Campus Verlag, 2023. https://doi.org/10.12907/978-3-593-45438-2.

Abschließend seinen noch einige Gründe für die nur seltenen Verurteilungen in Fällen von rechtswidriger polizeilicher Gewalt sind z.B.

  • niedrige Anzeigebereitschaft der Betroffenen
  • Sorge von Polizist*innen Kolleg*innen zu belasten und fehlende Neutralität im Zeugenstand
  • Problem bei Staatsanwaltschaft bzgl. unvoreingenommener Herangehensweise aufgrund alltäglicher enger Zusammenarbeit mit der Polizei
  • mangelnde Ausstattung der Justiz
  • in vielen Fällen schwierige objektive Beweislage („Aussage gegen Aussage“)
  • schwierige Indentifikation tatverdächtiger Polizist*innen, z.B. wegen fehlender Aufnahme, oder fehlender Kennzeichnung der Polizist*innen

Das Bündnis „Death in Custody“ hat es sich seit dem Jahr 2019 zur Aufgabe gemacht (Verdachts-)Fälle von Polizeigewalt gegen People of Color zu dokumentieren. Alle dokumentierten Fälle finden sich auf der folgenden Karte.

Erklärungsansätze für Polizeigewalt

Polizeigewalt bzw. Gewalt ggü. Anderen im Allgemeinen ist mit nichts zu rechtfertigen unter Berücksichtigung der Grundsätze der Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols. Jedoch werden in den wenigen Studien bzw. Arbeiten zum Phänomenbereich der Polizeigewalt einige Erklärungsansätze genannt. Zu den Hauptfaktoren zählen demnach mangelhafte Kommunikation, Stress, Überforderung, Personalknappheit, diskriminierendes Verhalten und inadäquate Einsatzplanungen sowie Sorge vor Eskalation als Gründe für Polizeigewalt bzw. -brutalität. Ein weiterer Grund ist zudem der fehlende Respekt ggü. den Polizist*innen als Menschen und auch als Staatsdiener, welcher ggf. auch in Gewalt ggü. Polizeibediensteten endet.

Zum Phänomenbereich der Gewalt ggü. Polizistinnen und Polizisten gibt es jedoch erheblich mehr Zahlen und Daten als zum Bereich der Polizeigewalt/-brutalität. Beim Deliktsbereich der Gewalt ggü. Polizist*innen muss jedoch zwischen den zwei nachfolgenden rechtlichen Entitäten unterschieden werden:

  • § 113 StGB – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte: „Wer einem Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt Widerstand leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
  • § 114 StGB – Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte: „Wer einen Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei einer Diensthandlung tätlich angreift, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“

Laut dem jährlich vom Bundeskriminalamt herausgegebenen „Bundeslagebild Gewalt gegen Polizeivollzugbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte“ aus dem Jahr 2022 zeigten sich die nachfolgenden Zahlen:

  • 42.777 Fälle von Gewalt gegen PVB (Anstieg um + 7,9 % ggü. 2021)
  • 96.2088 PVB wurden Opfer von gegen sie gerichteten Gewalttaten (Anstieg um + 8,6 % gegenüber 2021)
    • davon 78,4 % männlich und 49,5 % zwischen 25 und 35 Jahren alt
  • 86,5 % der PVB, die Opfer von Gewalttaten wurden, waren betroffen von Widerstand und tätlichem Angriff
  • Tatverdächtige meistens männlich (84,1 %), deutsch (69,9 %), > 25 Jahre alt (71,8 %) und i.d.R. allein handelnd (95,4 %), oft polizeilich bekannt (74,3 %) und mehr als jede*r Zweite stand unter Alkoholeinfluss (50,5 %)

Bzgl. dieser Zahlen ist jedoch zu betonen, dass es im Sinne des § 114 StGB nicht zu einer körperlichen Verletzung kommen muss und die Tathandlung muss auch nicht auf die Verhinderung oder Erschwerung der Diensthandlung abzielen. Grundsätzlich ist auch eine allgemeine Feindseligkeit gegen den Staat oder das Tathandeln aus persönlichen Motiven gegen die Amtsträger*innen oder aus anderen Beweggründen. Desweiteren muss berücksichtigt werden, dass durch rechtliche Änderungen in den Deliktsbereichen der §§ 113, 114 & 115 StGB sowie § 241 StGB im Jahr 2017/2018 aktuell noch schwer zu sagen ist, ob sich ein tatsächlicher Anstieg von Gewalt ggü. Polizist*innen aus den steigenden Fallzahlen ableiten lässt.

Ein weiter Grund für Polizeigewalt, der aus mehreren Faktoren besteht, ist die z.B. von Prof. Norbert Pütter thematisierte „Polizistenkultur“ oder „Cop Culture“. Diese entsteht, wenn die folgenden drei Punkte zusammenkommen:

  • Bild der gegen das „gesellschaftliche Chaos“ kämpfenden Polizisten
  • Zusammengehörigkeitsgefühl durch die Gefährlichkeit des Berufs
  • Handlungsoption Gewalt

Laut Pütter könne diese „Cop Culture“ die polizeilichen „Übergriffe als Folge des Verhaltens von Personen, welche die von den PolizistInnen zu verteidigende Ordnung zu bedrohen scheinen“ erklären. Zusätzlich bietet die „Polizistenkultur“ auch einen Erklärungseansat für die oft auch noch bestehende „Mauer des Schweigens“, welche nachfolgend noch kurz Thema ist.

Zusatzproblem: fehlendes Whistleblowing bei der Polizei

Zum bestehenden Problem der ungerechtfertigen oder überbordenden Gewaltanwendung durch die Polizei kommt darüber hinaus noch das Problem des fehlenden Whistleblowing bei der Polizei, also dem Melden von Missständen in den eigenen Reihen, sodass ein großes Dunkelfeld hinsichtlich der Polizeigewalt wahrscheinlich ist. Dieser Bereich bzw. die fehlende Bereitschaft zur Meldung von Missständen bei der Polizei ist vor allem geprägt durch Angst und viele Sorgen. Passend hierzu hat die Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) erst vor einigen Tagen eine Studie zum Hinweisgeberschutz in der Polizei veröffentlicht. Weitere Informationen findet man auch in der dazu passenden GFF-Pressemitteilung zur Studie. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie „Polizeibeamte und Hinweisschutz“ sind:

  • 99 % der befragten Polizist*innen stimmen zu, dass sie als Polizeibeamt*innen eine besondere Verantwortung hätten, sich im Beruf rechtmäßig und verfassungskonform zu verhalten
  • 62 % der befragten Polizist*innen sehen vertrauliche Meldewege und Ansprechstellen für Fehlverhalten außerhalb des Dienstwegs als notwendig an
  • Ursachen für das Unterlassen einer Meldung bei Fehlverhalten
    • 55 % der befragten Polizist*innen haben Angst vor negativen Reaktionen von Kolleg*innen
    • 48 % der befragten Polizist*innen haben Angst vor der Konfrontation mit gemeldeten Kolleg*in
    • 42 % der befragten Polizist*innen haben Sorge um die eigene berufliche Laufbahn
    • 47 % der befragten Polizist*innen gaben Loyalität ggü. Kolleg*innen/Polizei als Grund an
    • 30 % der befragten Polizist*innen gaben unzureichendes Verständnis von Vorgesetzten als Grund an
    • 25 % der befragten Polizist*innen gaben das die ausbleibende konsequente Bearbeitung der gemeldeten Missstände als Grund an
  • 20 % der befragten Polizist*innen haben im Dienst bereits Fehlverhalten wie Straftaten oder verfassungsfeindliche Äußerungen mitbekommen
  • 50 % der befragten Polizist*innen bekamen bereit mit, dass Kolleg*innen Fehlverhalten im Dienst gemeldet haben
  • 23 % der befragten Polizist*innen haben selbst schon Fehlverhalten z.B. an Vorgesetzte oder Polizeibeauftragte gemeldet
  • 17 % der befragten Polizist*innen haben bereits Fehlverhalten im Dienst bemerkt, aber nicht gemeldet
  • 76 % der befragten Polizist*innen stimmen zu, dass es im Polizeidienst auf Sekunden ankomme und es da schon einmal zu Fehlverhalten kommen könne, welches viel zu oft aufgebauscht werde

Mehr zu diesem Themenbereich findet Ihr auf der GFF-Projektwebseite „Mach Meldung“!

Quellen

Published inWelttag...

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