Skip to content

Leitlinie „Management of Catatonia“ der BAP

veröffentlichende Fachgesellschaft: British Association for Psychopharmacology (BAP)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 11.04.2023
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1177/02698811231158232

Grundsätzliches

  • schwere neuropsychiatrische Störung mit einem Symptomkomplex aus fokal motorischen & autonomen Aktivitäten, Sprach- & Affektauffälligkeiten sowie weiteren komplexen Verhaltensstörung
  • häufig einhergehend mit autonomen und affektiven Störungen
  • erhöhte Morbidität und ggf. auch erhöhte Mortalität vgl. zu anderen schweren psychischen Erkrankungen
  • Störung kann Aktivitäten selbst betreffen (Stupor, Mutismus, etc.) oder die Beendigung selbiger (Perseveration, Katalepsie und Körperhaltung)

Definitionen

  • Medikamenten-induzierte Katatonie = Katatonie, die durch Verabreichung oder Entzug von verschriebenen Medikamenten ausgelöst wird
  • substanzinduzierte Katatonie = Katatonie, die durch Verabreichung oder Entzug von psychotropen Substanzen ausgelöst wird
  • maligne (früher perniziöse) Katatonie = lebensbedrohliche Form der Katatonie, zusätzlich mit ausgeprägten autonomen Störungen (v.a. Fieber; CAVE: lebensbedrohlicher Anstieg von RR, HF und KKT)
  • Katatonie bei kritischen Erkrankungen = Katatonie bei Patienten, die intensivmedizinische Behandlung benötigen (z.B. Intubation, Beatmung oder Vasopressoren)
  • periodische Katatonie = seltene Form der Katatonie mit relativ hoher Erblichkeit mit zyklischem Muster von Akinesie (Stupor) und Hyperkinesie (Erregung)
  • katatone Schizophrenie = historische Unterform der Schizophrenie, bei der psychomotorische Störungen überwiegen; ggf. zusätzlich Halluzinationen, Wahnvorstellungen und Denkstörungen
  • organische katatone Störung = katatones Syndrom aufgrund eines bekannten physiologischen Zustands (CAVE: katatone Schizophrenie, Delirium und Stupor, z.B. dissoziativ; in ICD-11 als „sekundäres Katatonie-Syndrom“ und im DSM-5-TR als „katatonische Störung aufgrund einer anderen medizinischen Erkrankung“ aufgeführt)

Ätiologie

  • katatone Störungen können bei vielen psychiatrischen und medizinischen Krankheitsbildern auftreten
  • bei ca. 20 % der katatonen Patient*innen im normalmedizinischen Bereich und 50 % im akutmedizinischen Bereich haben eine begleitende medizinische Störung, die zum Auftreten der Katatonie beiträgt (Steigerung auf 80 % bei älteren Patient*innen)
  • Gefahr der Verwechslung mit dem neuroleptischen malignen Syndrom (NMS)
  • entzündliche Erkrankungen des Gehirns sind in 28,8 % ursächlich für eine Katatonie
    • Enzephalitis
    • systemische Lupus Erythematodes (SLE)
    • Nervenverletzungen (vaskuläre und degenerative Erkrankungen als häufigste Ursachen)
    • Toxine oder Medikamente (z.B. Benzodiazepin-Entzug)
    • strukturelle Hirnpathologien (z.B. raumfordernde Läsionen)
  • im Vergleich zum Delir, mit zumeist metabolischen und systemischen Ursachen, sind katatone Störungen auf spezifische ZNS-Erkrankungen zurückzuführen
  • Katatonie beruht zu Teilen auf verminderter Aktivierung im kontralateralen motorischen Kortex, vermindertem regionalen zerebrale Blutfluss im rechten fronto-parietalen Kortex sowie verminderter Dichte von GABA-A-Rezeptoren im linken sensomotorischen Kortex und im rechten parietalen Kortex

Symptomatik

  • motorische Symptome
    • Manierismen
    • Stereotypie
    • athetotische Bewegungen
    • Dyskinesien
    • Gegenhalten
    • Katalepsie
    • Flexibilitas cerea
    • Steifheit
    • verminderter Muskelgrundtonus
    • plötzliche Muskeltonusveränderungen
    • Akinesie
  • affektive Symptome
    • zwanghafte Emotionen
    • emotionale Labilität
    • Impulsivität, Aggression, Erregung
    • abgeflachter Affekt, affektive Latenz
    • Angst, Ambivalenz, Unruhe
  • kognitiv-verhaltensbezogene Symptome
    • Grimassieren
    • Verbigeration, Perseveration
    • abnorme Sprache (z.B. Dysprosodie)
    • automatischer Gehorsam
    • Echolalie/Echopraxie
    • zwanghaftes Verhalten
    • Negativismus
    • Rückzug, Mutismus
    • Stupor
    • Verlust der Initiative
    • vegetative Anomalien

Diagnostik & Anamnese

  • vollständige körperliche Untersuchung
    • Volumen/Ernährungszustand
    • Temperatur
    • kardiovaskuläre Untersuchung (insbesondere, wenn EKT in Betracht gezogen wird)
    • respiratorischer Status (v.a. bei Opioideinnahme oder vor Gabe von Benzodiazepinen)
    • neurologische Untersuchung
    • Anzeichen einer tiefen Venenthrombose
    • Druckgeschwüre an potenziellen Druckstellen
  • detaillierte allgemeine, neurologische und psychiatrische Anamnese
    • Expositionen (z. B. HIV oder Syphilis)
    • sexuelle Vorgeschichte
    • Drogenkonsum i.v.
  • Abklärung von Einnahme oder den Entzug von Medikamenten
    • psychotrope Substanzen wie Serotonergika (einschließlich Lithium), D-2-Antagonisten (einschließlich Antiemetika), Absetzen von Clozapin, Benzodiazepinen oder Alkohol
    • Immun-Checkpoint-Inhibitoren
    • Freizeitdrogen wie Cannabis/Cannabinoide oder Stimulanzien
  • ausführliche medizinische, neurologische und psychiatrische Familienanamnese
    • psychiatrische Erkrankungen wie Katatonie oder NMS, psychotische Störung, neurologische Entwicklungsstörung oder frühere Elektrokrampftherapien (EKT)
    • neurologische Erkrankungen wie Anfallsleiden, bek. ZNS-Erkrankungen (Raumforderungen, neurodegenerative Erkrankungen), Enzephalitis (v.a. Autoimmunerkrankungen), Lupus oder andere Vaskulitiden
  • Katatonie immer als Differenzialdiagnose in Betracht ziehen, wenn Patient*innen ein erheblich verändertes Aktivitätsniveau oder abnormes Verhalten zeigen
  • CAVE: fluktuierende Natur der Katatonie kann die Fehlinterpretation einer absichtlichen fehlenden Compliance verstärken
  • CAVE: katatone Patient*innen bekommen oftmals alles mit, können sich aber nicht äußern

Challenge-Tests, am Beispiel eines Lorazepam-Test bei Katatonie

  1. Beurteilung katatonischer Symptome anhand Screening-Tools wie Bush-Francis Catatonia Rating Scale (BFCRS; siehe psychiatrisches Nachschlagewerk)
  2. Gabe von Lorazepam (1 – 2 mg i.v., 1 – 2 mg i.m. oder 2 mg oral)
  3. Beurteilung katatonischer Symptome z.B. anhand von BFCRS nach
    • 5 min nach i.v.-Gabe
    • 15 min nach i.m.-Gabe
    • 30 min nach oraler Gabe
  4. 50 %ige Reduktion der Punkte bei z.B. BFCRS als positive Reaktion
  5. bei ausbleibender positiver Reaktion ggf. weitere Gabe erwägen, gefolgt von erneuter Bewertung

Differentialdiagnosen

  • neurologische Bewegungsstörungen wie Stiff-Person-Syndrom, progressive Enzephalomyelitis mit Steifheit & Myoklonien, Parkinsonismus, Dystonie, Akathisie, NMS
  • Sprachstörungen wie Aphasie, Anarthrie, selektiver Mutismus
  • Krampfanfälle
  • Locked-in-Syndrom
  • Enzephalopathie und Bewusstseinsstörungen wie Delir, Koma und andere vegetative Zustände
  • Abulia oder akinetischer Mutismus
  • psychiatrische Störungen wie Manie, funktionelle neurologische Störung, Autismus-Spektrum-Störung

Therapie

  • bei periodischer Katatonie prophylaktische Behandlung mit Lithium erwägen
  • bei maligner (perniziöser) Katatonie
    • Absetzen aller Dopaminantagonisten
    • Versuch des Durchbrechens mit 8 mg/d Lorazepam oral, i.m. oder i.v. (ggf. Steigerung auf 24 mg/d)
    • bei teilweisem/fehlendem Ansprechen auf Lorazepam bilaterale EKT innerhalb von 48 – 72 h ein- oder zweimal täglich für bis zu 5 Tage bis zum Abklingen (nachfolgend dreimal wöchentlich bis zur nachhaltigen Besserung; i.d.R. 5 – 20 Behandlungen)
  • bei neuroleptischen malignem Syndrom (NMS)
    • Absetzen aller Dopaminantagonisten
    • Absetzen aller Anticholinergika
    • Management gemäß ABCDE-Schema
    • bei Bedarf Volumentherapie (CAVE: Hyperkaliämie, Nierenversagen und Rhabdomyolyse)
    • bei leichtem NMS (leichte Rigidität, Katatonie oder Verwirrtheit; Temp.: < 38 °C; HF: < 100/min): Versuch des Durchbrechens mit Lorazepam
    • bei mittelschwerem NMS (mäßige Rigidität, Katatonie oder Verwirrtheit; Temp.: 38 – 40 °C; HF: 100 – 120/min): Versuch des Durchbrechens mit Bromocriptin oder Amantadin; EKT erwägen
    • bei schwerem NMS (schwere Rigidität, Katatonie oder Verwirrtheit; Temp.: > 40 °C; HF: > 120/min): Versuch des Durchbrechens mit Bromocriptin oder Amantadin; EKT erwägen
    • bilaterale EKT dreimal wöchentlich oder in schweren Fällen ein- oder zweimal täglich zu erwägen, bis das NMS abklingt
    • Wiedereinnahme von Antipsychotika um mindestens 2 Wochen nach Abklingen verzögern (CAVE: Risiko erneutes Auftreten)
  • bei Antipsychotika-induzierte Katatonie
    • Absetzen aller Antipsychotika
    • Versuch des Durchbrechens mit Lorazepam, wenn nach Absetzen des Antipsychotikums keine Besserung eintritt
  • Katatonie bei Kindern und Jugendlichen
    • Katatonie kann schon im Alter von 5 Jahren auftreten
    • Diagnostik ist identisch mit der von Erwachsenen; Nutzung der Pediatric Catatonia Rating Scale (PCRS)
    • Therapie ist gleich wie die von Erwachsenen (Lorazepam-Challenge-Test, Lorazepam in ggf. gesteigerten Dosen und bilaterale EKT
  • Katatonie bei älteren Menschen
    • First-Line-Therapie besteht aus Benzodiazepinen, oft in niedrigeren Dosen als bei jüngeren Erwachsenen, und EKT
Published inIm Notfall PsychiatrieLeitlinien kompakt

Be First to Comment

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert