Das Problem
Fast jede*r in der Notfall- und Akutmedizin Tätige kennt das Problem bzw. die Sorge, dass durch das konkrete Erfragen von Suizidgedanken- und/oder -plänen die Suizidalität unserer Patient*innen verstärkt wird. Aber was sagt eigentlich die Evidenz zu dieser Frage? Die perfekte Situation, diese Frage an die LebensrettENTE weiterzugeben.
Die Antwort
Die Mehrzahl der Studien deuten daraufhin, dass das Sprechen über Suizid sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen die Suizidgedanken eher verringert als verstärkt und sich die Patienten dadurch sicherer und unterstützter fühlen. Darüber hinaus zeigten die Studien, dass das wiederholte Befragungen sehr wahrscheinlich die langfristige psychische Gesundheit fördert. Es handelt sich hierbei um einen leider noch weitverbreiteten Mythos, der nicht nur in der Gesellschaft vorherrscht, sondern auch bei vielen Beschäftigten im Gesundheitswesen. Kurz und knapp gesagt: Ein Leben wird eher gerettet, wenn man jemanden fragt, ob Selbstmordgedanken vorhanden sind, denn allein die direkte Ansprache von Todeswünschen entlastet suizidale Patient*innen.
Einer der Gründe für diese protektive Funktion ist, dass die meisten suizidalen Patient*innen dem Thema gegenüber zumindest etwas ambivalent eingestellt sind. Die Forschung zeigt hier, dass der Aufbau einer Gesprächsverbindung zu suizialen Menschen diese Ambivalenz im positiven Sinne verändern kann. Ein weiterer Grund ist, dass das offene Ansprechen von Suizidalität auf lange Sicht die Stigmatisierung bzgl. des Thema abbaut, sich Betroffene dadurch weniger isolieren und so Red Flags schneller bzw. besser auffallen.
Die Evidenz bzgl. der Sorge der Suizidalitätsverstärkung
- Bajaj et al. (2008) befragten in einer Studie Allgemeinmediziner*innen und Patient*innen in der Primärversorgung mit Anzeichen einer Depression und konnten dabei feststellen, dass der Großteil der Befragten der Ansicht ist, das Menschen auf Suizidgedanken untersucht werden sollten, jedoch gab eine relevante Minderheit der Patient*innen und Allgemeinmediziner*innen an, dass es ihnen unangenehm sei, solche Fragen zu stellen oder gestellt zu bekommen. Außerdem unterstützte ein 1/4 der Allgemeinmediziner*innen und ein 1/5 der Patient*innen die Annahme, dass ein Screening auf Suizidgedanken bei einer Person Selbstverletzungsgedanken auslösen könnte.
- Feldman et al. (2007) trainierten in einer Studie Schauspieler*innen darauf, die Rolle von Patient*innen mit Symptomen einer schweren Depression einzunehmen und bei Ärzt*innen vorstellug zu werden –> < 27 % der Ärzt*innen erkundigten sich, ob die Patient*innen schon einmal über Selbstmord nachgedacht hatten, und die Studienautor*innen vermuteten, dass sich einige die Ärzt*innen dabei unwohl fühlten, über Suizidgedanken zu sprechen, weil sie befürchteten, dass dies Selbstmordversuche provozieren könnte oder dass sie nicht über ausreichende Sachkenntnis verfügen würden, falls die Patient*innen tatsächlich Selbstmordgedanken hätten
Die Evidenz, dass das Nachfragen hilft
- Gould et al. (2005) befragten 2342 High-School-Schüler*innen initial mit einem Suizidfragebogen und zwei Tage später 1172 der 2342 High-School-Schüler*innen nochmals bzgl. Suizidgedanken und suizidales Verhalten befragt –> Schüler*innen, die nochmals zur Suizidalität befragt wurden, wiesen im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant niedrigere Werte bzgl. des Leidensdruck auf
- Aseltine et al. (2007) berichten das Teilnehmende an einem pädagogischen High-School-Anti-Suizidprogramm 3 Monate nach Abschluss des Programms signifikant reduzierte Rate an selbstberichteten Suizidversuche hatten
- Mathias et al. (2012) untersuchten Jugendliche im Alter von 12 – 17 Jahren, die zuvor stationär psychiatrisch behandelt worden waren, über einen Zeitraum von bis zu 2 Jahren alle 6 Monaten auf Suizidgedanken –> bei Teilnehmenden, die zu Beginn der Studie ein höheres Maß an Suizidalität aufwiesen, war der Rückgang der Suizidgedanken bei der abschließenden Bewertung größer
- Vaiva et al. (2006) rekrutierten Patient*innen mit einem gescheiterten Suizidversuch und bei den Betroffenen aus der Interventionsgruppe, die nach einem Monat telefonisch kontaktiert wurde, war die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Suizidversuchs signifikant geringer als in der Kontrollgruppe, die nicht kontaktiert wurde ( auch nach Zeitraum von 13 Monaten)
- Blades et al. (2018) konnten in ihrer Meta-Analyse zeigen, dass die Frage nach Suizid oder die Konfrontation mit suizidbezogenen Inhalten mit einer Veränderungen des Stressniveaus, Verringerung der Suizidgedanken und einer geringeren Wahrscheinlichkeit eines Suizidversuchs verbunden ist
Ein Lösungsansatz
Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) bietet auf ihrer Webseite Hinweise und Tipps für das Gespräch mit einer suizidgefährdeten Person unter dem Motto „Ein Leitfaden, der hilft, die richtigen Worte zu finden“. Die wichtigsten Punkte aus dem Leitfaden sidn die Nachfolgenden:
- bei Hinweisen auf Suizidalität in einem passenden Moment das Gespräch suchen und nachfragen (ruhiges Setting; ggf. erfahrene Person hinzuziehen; Betroffenen Hilfsangebote aufzeigen)
- zu Gesprächsbeginn erfragen, wie es der Person geht, und den eigenen Eindruck sowie persönliche Sorgen schildern (z.B. „Ich habe den Eindruck, Ihnen geht es nicht gut.“)
- weitere wichtige Anamnesefragen (CAVE: je konkreter Suizidgedanken/-pläne, desto höher ist die Gefährdung)
- „Denken Sie darüber nach, sich das Leben zu nehmen?“
- „Was genau geht Ihnen durch den Kopf?“
- „Müssen Sie sehr oft darüber nachdenken?“
- „Haben Sie Pläne, wie Sie sich das Leben nehmen möchten?“ (fixiertes Datum, getroffene Vorbereitungen)
- „Gibt es andere Personen, denen Sie davon erzählt, dass Sie nicht mehr leben wollen?“
- „Gab es schon früher Versuche, sich das Leben zu nehmen bzw. sich umzubringen?“
- Person nicht alleine lassen und mögliche Suizidmittel sichern/entfernen
- Da sein und zuhören (z.B. „Kann ich Sie irgendwie unterstützen?“, „Das stelle ich mir sehr belastend für Sie vor.“ etc.)
- wichtige Gesprächstipps
- Sorgen ernst nehmen
- Verbundenheit mitteilen
- da sein & geduldig sein
- gemeinsam überlegen, was die Personen selbst tun können
- Angebote machen, aber zu nichts drängen
- Person motivieren, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen
- besprechen, wohin sich Personen wenden können, wenn es ihnen noch schlechter geht
- Dont’s im Gespräch
- moralische Vorhaltungen machen
- Geschildertes nicht ernst nehmen, bagatellisieren
- Kritik äußern oder Vorwürfe machen
- Person oder Gedanken be- oder abwerten
- vorschnelle Änderungsvorschläge
- Provozieren
- Sachen versprechen, die nicht eingehalten werden können
Exkurs – Stufen der Suizidalität (S2k-LL „Notfallpsychiatrie“)
- Stufe 0: glaubhaft keine Suizidalität
- Stufe 1: Lebensüberdrussgedanken bzw. passive Todeswünsche
- Stufe 2: konkrete, aktive Suizidgedanken, ohne bisherige Planungen
- Stufe 3: imperative, aufdrängende Suizidgedanken/konkretePlanungen oder Vorbereitungen für einen Suizidversuch
Quellen
- Aseltine, Robert H., Amy James, Elizabeth A. Schilling, und Jaime Glanovsky. 2007. „Evaluating the SOSsuicide prevention program: a replication and extension“. BMC Public Health 7 (1): 161. https://doi.org/10.1186/1471-2458-7-161.
- Bajaj, Priya, Elena Borreani, Pradip Ghosh, Caroline Methuen, Melissa Patel, und Michael Joseph. 2008. „Screening for suicidal thoughts in primary care: the views of patients and general practitioners“. Mental Health in Family Medicine 5 (4): 229–35. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2777583/.
- Blades, Caroline A., Werner G. K. Stritzke, Andrew C. Page, und Julia D. Brown. 2018a. „The benefits and risks of asking research participants about suicide: A meta-analysis of the impact of exposure to suicide-related content“. Clinical Psychology Review 64 (August):1–12. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2018.07.001.
- Dazzi, T., R. Gribble, S. Wessely, und N. T. Fear. 2014. „Does Asking about Suicide and Related Behaviours Induce Suicidal Ideation? What Is the Evidence?“ Psychological Medicine 44 (16): 3361–63. https://doi.org/10.1017/S0033291714001299.
- Feldman, Mitchell D., Peter Franks, Paul R. Duberstein, Steven Vannoy, Ronald Epstein, und Richard L. Kravitz. 2007. „Let’s Not Talk About It: Suicide Inquiry in Primary Care“. Annals of Family Medicine 5 (5): 412–18. https://doi.org/10.1370/afm.719.
- Flüchter, P., V. Müller, und F.-G.B. Pajonk. 2012. „Suizidalität: Procedere im Notfall“. Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin 107 (6): 469–75. https://doi.org/10.1007/s00063-012-0123-0.
- Gould, Madelyn S., Frank A. Marrocco, Marjorie Kleinman, John Graham Thomas, Katherine Mostkoff, Jean Cote, und Mark Davies. 2005. „Evaluating Iatrogenic Risk of Youth Suicide Screening Programs: A Randomized Controlled Trial“. JAMA 293 (13): 1635–43. https://doi.org/10.1001/jama.293.13.1635.
- Hammond, Claudia. 2014. „Does discussing suicide make people feel more suicidal?“ BBC. 13. Januar 2014. https://www.bbc.com/future/article/20140112-is-it-bad-to-talk-about-suicide.
- „Hinweise und Tipps für das Gespräch mit einer suizidgefährdeten Person – Ein Leitfaden, der hilft, die richtigen Worte zu finden“. o. J. Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention e.V. (blog). Zugegriffen 26. März 2025. https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote2/gespraechsempfehlungen/.
- King, Chery A. 2016. „Asking or Not Asking about Suicidal Thoughts“. APA – America Psychological Association. 1. Juli 2016. https://www.apa.org/monitor/2016/07-08/ethics.
- Mathias, Charles W., R. Michael Furr, Arielle H. Sheftall, Nathalie Hill-Kapturczak, Paige Crum, und Donald M. Dougherty. 2012. „What’s the Harm in Asking about Suicidal Ideation?“ Suicide & Life-Threatening Behavior 42 (3): 341–51. https://doi.org/10.1111/j.1943-278X.2012.0095.x.
- Murphy, Marina. 2021. „Does Talking about Suicide Make Someone More Likely to Commit Suicide?“ University of Nevada, Reno. 26. Mai 2021. https://www.unr.edu/nevada-today/news/2021/atp-normalize-talking-about-suicide.
- „The Myths & Facts of Youth Suicide“. o. J. Nevada Division of Public and Behavioral Health (DPBH) Office of Suicide Prevention. Zugegriffen 26. März 2025. https://suicideprevention.nv.gov/Youth/Myths/.
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