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Konsensuspapier „Assessment of adult patients with traumatic brain injury with Glasgow Coma Scale 13–15 at the emergency department“ der EUSEM

veröffentlichende Fachgesellschaft: European Society of Emergency Medicine (EUSEM)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 01.08.2024
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1097/mej.0000000000001140

Grundsätzliches

  • jährlich > 5.000.000 Menschen mit akuten Kopfverletzungen in europäischen Notaufnahmen
  • immer mehr Stürze und damit immer mehr ältere Menschen als Opfer
  • Definition Schädel-Hirn-Trauma (SHT): durch äußere Einwirkung verursachte Veränderung der Gehirnfunktion oder andere Hirnpathologie
  • bis zu 90 % der SHT-Patient*innen in Notaufnahmen haben Verletzungen, die keine sofortigen Maßnahmen oder Krankenhauseinweisung erfordern
  • ICB-Inzidenz bei SHT + GCS 13 – 15 ist gering (< 10 %) und nur bei 1 – 2 % Patienten ist neurochirurgischer Eingriff erforderlich
  • internationale Neuklassifizierung des Schädel-Hirn-Traumas wird derzeit entwickelt (alte Einteilung in „leicht“, „mittelschwer“ und „schwer“ kann irreführend sein)
  • eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt, dass in Europa erhebliche Unterschiede bei der Akutdiagnostik und bei einem leichten SHT (mTBI, mild Traumatic Brain Injury)

Behandlung von traumatischen Hirnverletzungen in der Notaufnahme – eine europäische Perspektive

  • vorrangige Sicherstellung der Vitalfunktionen gemäß ABCDE-Schema bei Patient*innen ≥ 16 Jahre mit stumpfen SHT
  • regelmäßig Überwachung der Vitalfunktionen, v.a. bzgl. Hypoxie, Hypotonie & Tachykardie (2 h lang halbstündlich, dann 4 h lang stündlich und danach 2 h lang)
  • bei ICB kommt es häufig in den ersten Stunden nach Verletzung zur Verschlechterung
  • Überwachung besonders wichtig bei alkoholisierten und älteren Patient*innen
  • Schema für die Behandlung von Patient*innen mit GCS 13 – 15 nach Korrektur pathologischer Vitalfunktionen
Quelle: https://journals.lww.com/euro-emergencymed/fulltext/2024/08000/consensus_paper_on_the_assessment_of_adult.5.aspx

Symptomatik

  • Kopf- & Gesichtsverletzungen (Platz-/Risswunden, Prellungen, Hämatome)
  • Anzeichen für Schädelfraktur (Deformitäten, Battle-Signs etc.)
  • Anzeichen für Gesichtsfrakturen (Deformitäten, lokale Druckempfindlichkeit)
  • HWS-/Hals-Verletzungen (Druckschmerz über Mittellinie, eingeschränkte Beweglichkeit)
  • klinische Symptome wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Benommenheit
  • neurologische Hinweise & Symptome
    • okulomotorische Symptome wie Pupillenreaktion & -symmetrie, starrer Blick, Nystagmus,  Déviation conjuguée, langsame/asymmetrische Sakkaden (schnelle, ruckartige Rückbewegungen der Bulbi)
    • motorische/sensorische Symptome wie Sensibilitätsstörungen im Gesicht oder an den Extremitäten (Kribbeln, Parästhesien, Taubheit), Koordinationsstörungen (Dysmetrie, Diadochokinese), Gleichgewichtsstörungen, motorische Schwäche
    • motorische/sensorische Asymmetrie im Gesicht oder an den Extremitäten, Ungeschicklichkeit, Koordinationsstörungen (Dysmetrie, Diadochokinese), Gleichgewichtsstörungen, Kribbeln, Parästhesien, Taubheit, Schwäche)
    • Sprach-/Sprech- und/oder Schluckstörung (undeutliche Sprache, verlangsamtes Sprechen)
    • Seh- oder Hörprobleme (Doppeltsehen, Licht- oder Lärmempfindlichkeit, Tinnitus)
    • kognitive & behaviorale Symptome wie Desorientiertheit (zu Zeit, Ort, Situation, Person), Retardierung, Schläfrigkeit, Verwirrtheit, Konzentrationsschwierigkeiten, Gereiztheit, Aggressivität, Gedächtnisprobleme sowie Unfähigkeit, Befehlen zu folgen

Anamnese & Diagnostik

Anamnese

  • Anamnese bzgl. Verletzungsmechanismus etc.
    • Traumaeinwirkung (Geschwindigkeit, Fallhöhe, Materialschäden, Gewicht von Objekten etc.)
    • Aufprall durch Trauma (Ort des Aufpralls, mehrfacher Aufprall, Kontaktflächen)
    • Richtung der Aufprallenergie (linear, lateral, rotierend)
    • Schutzausrüstung (Verwendung und Beschädigung)
    • Zeitfaktoren (Verzögerungen der Beurteilung oder Versorgung)
  • Anamnese bzw. Untersuchung bzgl. Symptomen
    • Vorhandensein & Dauer von Bewusstlosigkeit (Augenzeugenberichte, geschätzte Dauer)
    • Amnesie (vor oder nach Trauma)
    • schwerwiegende Symptome (siehe Symptomatik)
  • Anamnese bzgl. Vorerkrankungen und Dauermedikation
    • vorbestehende chronische Krankheiten (z.B. Epilepsie, Alzheimer, MS, psych. Erkrankungen)
    • aktuelle Medikation (Blutverdünnung, ZNS-wirksame Medikamente)
    • frühere traumatische Hirnverletzungen
    • aktueller Alkohol-/Drogenkonsum/-missbrauch

Kriterien für Bildgebung

  • Kopf-CT ohne Kontrastmittel ist Goldstandard für Beurteilung von Kopfverletzungen
  • Entscheidung über Kopf-CT entweder anhand validierter Screening-Tools (z.B. CCHR, NOC, NEXUS-II, NICE Criteria, SNC) oder auf der Grundlage von Biomarkern (siehe „Verwendung von Blut-Biomarkern“)
    • CAVE: viele der Tools nur für Patient*innen, die sich in < 24 h nach Verletzung vorstellen
  • wenn kein CT erforderlich oder Kopf-CTs ohne path. Befund, Entscheidung, ob Patient*in entlassen werden kann
  • wenn CT notwendig, Durchführung in < 1 h bei GCS < 15, V.a. offene oder basale Schädelfraktur, posttraumatischen Krampfanfällen, fokal-neurologischen Defiziten oder wiederholtem Erbrechen
  • bei allen weiteren Patient*innen CT in < 8 h, am besten aber sobald möglich
  • keine Notwendigkeit für routinemäßige wiederholte Bildgebung bei normalen Kopf-CT, auch nicht bei Patient*innen mit Antikoagulanzien
  • bei Auffälligkeiten im CT Beobachtung oder Aufnahme auf ITS, aber auch keine routinemäßige wiederholte Bildgebung
  • bei Patient*innen mit Entlassung nach normalem Kopf-CT ist erneutes CT immer dann indiziert bei erneuter Vorstellung aufgrund Verschlechterung
  • CT bei Patient*innen mit Antithrombotika-Medikation
    • bei Monotherapie mit Thrombozytenaggregationshemmern kein erhöhtes Mortalitätsrisiko bzw. für KH-Aufenthalt oder neurochirurgischen Eingriff
    • duale Therapie (z.B. Acetylsalicylsäure + Clopidogrel) ist mit fortschreitender ICB und Notwendigkeit eines neurochirurgischen Eingriffs assoziiert
  • MRT-Diagnostik bei Erkennung intrakranieller Läsionen i.d.R. empfindlicher, aber in Akutsituation ohne große Auswirkung
SensivitätSpezifitätnegativer prädiktiver Wertpositiver prädiktiver Wert
NOC (New Orleans Criteria)97 %4 %95 %5 %
CCHR (Canadian CT Head Rule)87 %35 %98 %7 %
NEXUS-II (National Emergency X-Radiography Utilization Study)85 %35 %98 %7 %
NICE-Criteria (National Institute for Clinical Excellence)76 %58 %98 %9 %
SNC (Scandinavian Neurotrauma Committee)89 %50 %99 %9 %
Clinical Decision Rules & ihre diagnostische Genauigkeit

Verwendung von Blut-Biomarkern

  • SHT –> metabolisch oder strukturell geschädigte Hirnzellen –> Freisetzung von komplexen molekularen Stoffen in das extrazelluläre Kompartiment –> Stoffe passieren über direkten extrazellulären interstitiellen Transport + über die Liquorpassage die Blut-Hirn-Schranke –> Stoffe sind dann als Blut-Biomarker für ein SHT messbar
    • Astrogliazellen setzen z.B. S100B und GFAP frei
    • Soma der Nervenzellen setzt z.B. UCH-L1 frei
  • keiner der Biomarker kommt ausschließlich im Gehirn vor, alle können auch im Rückenmark und im peripheren Nervensystem gefunden werden
  • Blutspiegel der Biomarker ist häufig altersabhängig, was klinische Verwendung bei älteren Patient*innen beeinträchtigt
  • CAVE: S100B-Spiegel korreliert z.B. eindeutig mit Hautpigmentierung, was spezifische Grenzwerte für die Entscheidungsfindung erforderlich macht, um ausreichende Spezifität zu gewährleisten
  • Biomarker weisen nach SHT unterschiedliche kinetische Profile auf
    • frühe Responder (Minuten bis Stunden: UCH-L1 & S100B)
    • mittelspäte Responder (Stunden bis Tage: GFAP)
    • späte Responder (Tage bis Wochen: NF-L, P-Tau) –> wenig relevant für Akutdiagnostik, aber für Prognostik & Überwachung
  • bis jetzt zugelassen sind Analyseverfahren für S100B und GFAP + UCH-L1
  • bei der Verwendung von S100B zur SHT-Beurteilung von ist es aufgrund des Zeitrahmens wichtig, einen strikten und raschen klinischen Arbeitsablauf bei Vorstellung zu haben
  • EMPFEHLUNG: Einführung und Verwendung der Tests in der klinischen Praxis in der Notaufnahme (unter Berücksichtigung der aktuell noch vorliegender Einschränkungen)

weitere Diagnostik

  • ggf. Bestimmung des Intoxikationsgrades
  • bei Einnahme von Vitamin-K-Antagonisten INR-Bestimmung
  • Routinelabor (inkl. Blutbild, Thrombozyten, Kreatinin & Elektrolyte)

KH-Aufnahme & Entlassung aus Notaufnahme

  • Indikationen für Krankenhauseinweisung/-aufnahme
    • GCS von < 13 30 Minuten nach Verletzung oder mehr; nicht durch Alkohol-/Drogeneinfluss (= „mittelschweres bis schweres Schädel-Hirn-Trauma“)
    • Kopf-CT zeigt < 24 h nach Verletzung eine der folgenden Entitäten: ICB, Subduralhämatom, Epiduralhämatom, traumatische SAB, Hirnkontusion oder diffuses Ödem
    • Krampfanfall zum Zeitpunkt der Verletzung oder danach
    • Patient*innen mit Polytrauma
    • schwere Symptome wie z.B. starke Kopfschmerzen, wiederholtes Erbrechen, Sprachschwierigkeiten, Gleichgewichtsstörungen, Amnesie, Retardierung & Unruhe
    • Verschlimmerung der Symptome während Aufenthalts in der Notaufnahme
    • kein Erreichen von GCS 15 bei Nachuntersuchung in der Notaufnahme
    • „Bauchgefühl“ (jede andere Ursache, die nach Ansicht der behandelnden Ärzt*innen ein Hinweis für eine Gefährdung der Patient*innen ist, z.B. Antikoagulation, soziale Aspekte und Demenz)
  • Kriterien für Entlassung aus Notaufnahme
    • keine Indikation für Kopf-CT auf Grundlage validierter Screening-Tools und/oder Biomarker-Tests ODER ein normales Kopf-CT
    • Erreichen von GCS 15 mit vollständiger Orientierung
    • keine schweren Symptome (s.o.)
    • klinische Beurteilung ohne signifikante Störfaktoren
  • bei Entlassung soll Patient*in die nächsten 24 h unter Beobachtung einer erwachsenen Person stehen
Published inLeitlinien kompakt

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