veröffentlichende Fachgesellschaft: Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V.)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 11.01.2018
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2018/11/BAfF_Praxisleitfaden-Traumasensibler-Umgang-mit-Gefluechteten_2018.pdf
Grundsätzliches
- Auswirkungen auf die Psyche durch Fluchterfahrungen werden Trauma genannt
- etwa 23 % der begleiteten Kinder haben körperliche Misshandlung und etwa 8 % sexuelle Misshandlung erfahren, wohingegen ca. 63 % der unbegleiteten Minderjährigen körperlich und 20 % sexuell misshandelt wurden (bei Jungen: 12 %; bei Mädchen: 39 %)
- traumatische Lebensereignisse vom Typ-II: Ereignisse, die von Menschen gemachte Gewalt darstellen (man-made disasters)
- traumatische Lebensereignisse vom Typ-I: Traumatisierung ausgelöst durch ein einzelnes, zeitlich begrenztes Ereignis (einmaliges, unerwartetes, plötzliches, „akzidentielles“ Auftreten)
- Rate der Erkrankung nach einem traumatischen Erlebnis bei Geflüchteten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um etwa das Zehnfache erhöht
PTBS als Überbegriff für mehrere Diagnosen
- depressive Störungen
- dissoziative Störungen
- Angststörungen
- emotional instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline)
- Suchterkrankungen
- somatoforme Störungen (Schmerzen in verschiedenen Körperteilen, Schwindel, Verdauungsbeschwerden, Herz- und Atemprobleme)
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen (darunter Herzinfarkt und Schlaganfall)
- immunologische Erkrankungen (Asthma, Gelenkentzündungen, Ekzeme, …)
- ggf. auch mehrere Traumafolgestörungen zeitgleich/überlagernd (88 % der Patient*innen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung mindestens eine weitere psychische Störung vorliegt, bei 76 % min. zwei weitere Störungen)
Symptomatik
- Erleben eines Ereignisses mit außergewöhnlichem oder katastrophenartigem Ausmaß
- unerwartetes, intensives Wiedererleben in Form von Bildern, filmartigen Szenen oder Albträumen, aber auch Körperempfindungen und Gerüchen (Flashback) ausgelöst durch sog. „Trigger“
- Dissoziationen: „Trennung“ oder „Auflösung“ der eigentlich zusammenhängenden Funktionen von u.a. Gedächtnis, Wahrnehmung und Motorik mit Reduktion einströmender Reize, Empfindungslosigkeit sowie verzerrter Zeitwahrnehmung (inneres Austreten aus der belastenden, unausweichlichen Situation; Derealisation & Depersonalisation)
- dauerhaft erhöhtes Stress- und Anspannungslevel mit sehr starker Schreckhaftigkeit, körperlichen Unruhe und Nervosität
- Schlafstörungen
- erhöhte Reizbarkeit (ggf. Wutausbrüche und hohe Konfliktbereitschaft)
- Konzentrationsstörung
- Vermeidungsverhalten, v.a. bzgl. Gedanken, Gefühlen, Orten, Situationen und Gesprächen, die die Betroffenen an das traumatische Erlebnis erinnern (sozialer Rückzug/Abschottung)
- Gefühlstaubheit, Freudlosigkeit, Teilnahmslosigkeit bis hin zur Entfremdung
- ggf. Suizidalität
Therapie
- sicheres und angstfreies Umfeld schaffen
- Abklärung der Stabilität und ggf. Stabilisierung
- Zeit einplanen und einen sicheren Raum geben
- Zuhören, wertschätzen, ernst nehmen und erklären (Gefühle und Handlungen des Gegenübers auf keinen Fall be- bzw. verurteilen)
- gewaltfreie Kommunikation
- Kontinuität der Bezugspersonen
- Einbeziehen der Betroffenen in Entscheidungen
- Kommunikation auf Augenhöhe
- Verbindlichkeit von Absprachen
- Vermittlung von aktuellen Informationen zu Angeboten spezialisierter Anlaufstelle
- Atem- und Bewegungsübungen zur Anspannungsreduktion
- Weitervermittlung/Transport in spezialisierte Einrichtung
Umgang mit Dissoziationen
- laut und deutlich sprechen
- klare, ruhige und mehrmalige Ansprache der Person mit Namen
- Person nach Ort und Tag fragen (leichte Fragen helfen bei der Orientierung im Hier und Jetzt)
- Retraumatisierungen vermeiden (nicht über die traumatische Situation/Sequenzen sprechen; nicht nachbohren)
- Blickkontakt suchen und Person auffordern, ihn herzustellen
- Person auffordern, tief auszuatmen
- Zurückhaltung im Körperkontakt (ungewollte Berührung kann erneute Grenzverletzung sein)
- Person auffordern sich hinzustellen und sich zu bewegen (stampfen, laufen, ausschütteln, gemeinsam den Raum verlassen)
- etwas zu trinken anbieten
- Stimuli bereithalten (Igelball, Hände unter kaltes Wasser halten, scharfes Kaugummi/ Lutschbonbon anbieten o.ä.)
- nach der Dissoziation
- Kontakt zur Person halten
- Orientierung geben
- Ort bzw. Thema wechseln
- Ruhe und Sicherheit ausstrahlen („Hier und Jetzt ist alles in Ordnung“)
Vorgehen bei Suizidalität
- Suizidabsichten immer ernst nehmen und prioritär behandeln
- ggf. Verständnis für die Suizidalität vor dem Hintergrund des Erlebten und der aktuellen Lebenssituation zeigen
- ruhig bleiben und Struktur und Sicherheit vermitteln
- Hoffnungen und Wünsche, wie auch Gründe erfragen (mögliche Alternativen zum Suizid ableiten und Handlungsraum erweitern)
- Abklärung von glaubhafter Distanzierung von Suizidgedanken und -absichten
- auf eigene Grenzen achten; keine falschen Versprechungen machen
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