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Leitlinie „Medical Emergencies in Eating Disorders – Recognition and Management“ des RCPSYCH

veröffentlichende Fachgesellschaft: Royal College of Psychiatrists (RCPSYCH)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 13.03.2023
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://www.rcpsych.ac.uk/docs/default-source/improving-care/better-mh-policy/college-reports/college-report-cr233-medical-emergencies-in-eating-disorders-(meed)-guidance.pdf?sfvrsn=2d327483_55

Grundsätzliches

  • Gewichtsverlust bei Kindern und Jugendlichen ist aufgrund der geringeren Körperfettreserven oft akuter als bei Erwachsenen, sodass ggf. typische Merkmale (z.B. Amenorrhö) möglicherweise nicht vorhanden sind
  • CAVE: Patient*innen mit Essstörungen haben, auch wenn sie gesund erscheinen und normale Blutparameter haben, ein hohes Risiko für akute oder subakute Krankheitsbilder aufweisen

Symptomatik

Grundsymptome

  • unerklärliche Gewichtsveränderungen/-verlust
  • Einschränkung der Ernährung (ggf. auch aus „gesundheitlichen Gründen“)
  • Essanfälle
  • Menstruationsunregelmäßigkeiten
  • Erbrechen
  • Muskelschwäche
  • Synkope und präsynkopale Ereignisse
  • Unterleibssymptome/-schmerzen
  • Stimmungsschwankungen (Reizbarkeit, Angstzustände oder Depressionen)
  • Bradykardie bei Patienten mit Anorexia nervosa häufig
  • CAVE: normaler oder hoher Puls trotz sehr niedrigem Gewicht oder niedrigen Blutdrucks ist besorgniserregender Hinweis für Infektion oder Dehydrierung
  • orthostatische Hypotonie
  • Hypothermie
    • 34 – 36 °C: kalte und vermehrte Bewegung sich mehr, ggf. auch Aggression
    • 33 – 34 °C: ggf. Schwanken, Verwirrung und Schläfrigkeit (CAVE: paradoxes Entkleiden)
    • 26 – 32 °C: Koma
    • < 26 °C: Tod, ggf. infolge von Kammerflimmern
hohes Risikomittleres Risikogeringes Risko
Gewichtsverlust≥ 1 kg/2 Woche≥ 500 – 599 g/2 Woche≥ < 500 g/2 Woche
BMI< 18 Jahre = m% BMI < 70 %
> 18 Jahre = BMI < 13
< 18 Jahre = m% BMI 70 – 80 %
> 18 Jahre = BMI 13 – 14,9
< 18 Jahre = m% BMI > 70 %
> 18 Jahre = BMI > 15
HF< 40/min40 – 50/min> 50/min
RR bzw. Herz-KreislaufRRsys im Stehen < 0,4. Perzentil bei < 18 Jahre oder < 90 mmHg bei > 18 Jahre, verbunden mit rezidivierenden Synkopen und einem posturalen Abfall des systolischen Blutdrucks von > 20 mmHg oder einem HF-Anstieg > 30/min (HF-Anstieg > 35/min bei <16 Jahre)RRsys im Stehen < 0,4. Perzentil bei < 18 Jahre oder < 90 mmHg bei > 18 Jahre, verbunden mit gelegentlicher Synkope und einem posturalen Abfall des systolischen Blutdrucks von > 15 mmHg oder einem HF-Anstieg > 30/min (HF-Anstieg > 35/min bei <16 Jahre)– normaler RRsys im Stehen bezogen auf Alter und Geschlecht
– normale orthostatische kardiovaskuläre Veränderungen
– normaler Herzrhythmus
Volumenstatus– verweigerte Flüssigkeitsaufnahme
– schwere Dehydratation mit verminderter Urinausscheidung, trockenem Mund, RR-Abfall, vermindertem Hautturgor, eingesunkenen Augen, Tachypnoe, Tachykardie
– schwere Flüssigkeitsrestriktion
– mäßige Dehydratation mit verringerter Urinausscheidung, trockenem Mund, posturaler RR-Abfall, normaler Hautturgor, leichte Tachypnoe, leichte Tachykardie, periphere Ödeme
– minimale Flüssigkeitsrestriktion
– leichte Dehydrierung mit ggf. trockenem Mund oder Bedenken hinsichtlich des Risikos einer Dehydrierung bei negativer Flüssigkeitsbilanz
Temperatur< 35,5 °C tympal oder < 35,0 °C axillär< 36 °C> 36 °C
Muskelkraftunfähig, sich aus dem Liegen aufzusetzen oder aus der Hocke aufzustehen oder nur mit Hilfe der oberen Extremitätenunfähig, sich aus der Hocke aufzusetzen oder aufzustehen ohne merkbare SchwierigkeitenAusetzen oder aus der Hocke aufstehen ohne Schwierigkeiten mgl.
Sonstigeslebensbedrohlicher Zustand, z.B. schwere Hämatemesis, akute Verwirrtheit, schwere kognitive Verlangsamung, diabetische Ketoazidose, Perforation des oberen Magen-Darm-Trakts, erheblicher Alkoholkonsumnicht lebensbedrohliche körperliche Beeinträchtigung, z.B. leichte Hämatemesis, DruckgeschwüreAnzeichen einer körperlichen Beeinträchtigung, z. B. geringe kognitive Verlangsamung, Konzentrationsschwäche
EKG– < 18 Jahre: QTc > 460 ms (Frauen), 450 ms (Männer)
– > 18 Jahre: QTc > 450 ms (Frauen),
430 ms (Männer)
– sowie jegliche andere signifikante EKG-Auffälligkeiten
– < 18 Jahre: QTc > 460 ms (Frauen),
450 ms (Männer)
– > 18 Jahre: QTc > 450 ms (Frauen), > 430 ms (Männer)
– keine anderen EKG-Anomalien
– Einnahme von Medikamenten, die das QTc-Intervall verlängern können
– < 18 Jahre: QTc < 460 ms (weiblich), 450 ms (männlich)
– > 18 Jahre: QTc < 450 ms (Frauen), < 430 ms (Männer)
Blutbild– Hypophosphatämie und Phosphatabfall
– Hypokaliämie (< 2,5 mmol/L)
– Hypoalbuminämie
– Hypoglykämie (< 54 mg/dL)
– Hyponatriämie
-Hypokalzämie
– stationäre Patienten mit Diabetes mellitus: HbA1C > 10 % (86 mmol/mol)
Essverhaltenakut verweigerte Nahrungsaufnahme oder geschätzte Kalorienzufuhr < 500 kcal/d für > 2 d
Aktivität und Bewegunghohes Maß an dysfunktionaler Bewegung im Zusammenhang mit Unterernährung (> 2 h/d)mäßiges Maß an dysfunktionaler Bewegung im Zusammenhang mit Unterernährung (> 1 h/d)geringes oder kein dysfunktionales Bewegungsverhalten im Zusammenhang mit Unterernährung (< 1 h/d)
Purging (Erbrechen)mehrere tägliche Episoden von Erbrechen und/oder Abführmittelmissbrauchregelmäßiges (> 3x pro Woche) Erbrechen und/oder Abführmittelmissbrauch
Selbstverletzung und SuizidSelbstintoxikation, Suizidgedanken mit mittlerem bis hohem Risiko der Vollendung„Ritzen“ oder ähnliche Verhaltensweisen, Suizidgedanken mit geringem Risiko der Vollendung
(m% BMI = medianer prozentualer BMI entsprechend Alter und Geschlecht)
  • ggf. Refeeding-Syndrom bei aktuell stattfindender Behandlung der Essstörung
  • erhöhtes statt reduziertes Energie- und Aktivitätsniveau ist eines der Merkmale einer Anorexia nervosa
  • häufig Selbstmordgedanken (Selbstmord ist bei 20 % aller Todesfälle unter Erwachsenen mit Anorexia nervosa die Todesursache)
  • Selbstverletzungen, v.a. bei Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung

Anamnese

  • Eigen- und Fremdanamnese bzgl.
    • rapidem Gewichtsverlust
    • akute Nahrungsverweigerung
    • regelmäßiges Erbrechen
    • Muskelschwäche
    • Ohnmacht, Brustschmerzen, Kurzatmigkeit
    • geringe Urinausscheidung
    • schwer behandelbare Verstopfungen
    • Suizidgedanken
    • Einnahme/plötzliches Absetzen von Abführmitteln oder anderen Medikamenten

psychische Komorbiditäten

  • Zwangsstörungen
  • Depressionen
  • Angstzustände/-störungen
  • Suizidalität (Suizidgedanken bis -versuche)
  • Selbstverletzungen
  • Persönlichkeitsstörungen
  • (psycho)somatische Erkrankungen
  • posttraumatische Belastungsstörungen
  • ggf. agitiertes Verhalten
  • CAVE: Essstörungen selbst können Symptome hervorrufen, die anderen psychiatrischen Störungen wie Depressionen, Selbstverletzungen und Zwangsstörungen ähneln

Essstörungen bei Diabetes

  • Kriterien
    • Typ-1-Diabetes
    • starke Angst vor Gewichtszunahme, Bedenken bzgl. Körperbild oder Angst vor insulinbedingter Gewichtszunahme
    • wiederholte direkte/indirekte Einschränkung des Insulinverbrauchs und/oder andere kompensatorische Verhaltensweisen zur Vermeidung einer Gewichtszunahme
    • Insulinrestriktion, gestörtes Essverhalten oder kompensatorische Verhaltensweisen, die mindestens eine der folgenden Ursachen haben: gesundheitliche Beeinträchtigung, klinisch bedeutsame diabetesbedingte Belastung, Beeinträchtigung der Alltagsfunktionen
  • Red Flags
    • schwankende BZ-Werte, mehrfache Krankenhauseinweisungen wegen nicht kontrollierbarem Diabetes, wiederkehrende diabetische Ketoazidose, wiederkehrende schwere Hypoglykämien
    • Lebenswandel (übermäßige sportliche Betätigung, gestörtes Bewusstsein für Hypoglykämien, extreme Ernährungseinschränkung, Essanfälle, Gewichtsverlust in Vergangenheit, Angst vor Gewichtszunahme, Bedenken bzgl. Körperbild, Essstörungen, Diabetesprobleme, Angst vor Hypoglykämie, psychische Erkrankungen
    • Geheimniskrämerei über Umgang mit Diabetes
    • Versäumnis, regelmäßig Rezepte anzufordern
    • schlechte schulische oder berufliche Leistungen
    • Konflikte zu Hause im Zusammenhang mit Mahlzeiten und Essen oder dem Umgang mit dem Diabetes

Diagnostik

  • körperliche Risikobewertung sollte den Ernährungszustand (inkl. der aktuellen Nahrungsaufnahme), gestörtes Essverhalten, körperliche Untersuchung, Bluttests und EKG umfassen
  • bei Patient*innen < 18 Jahren altersangepasste Messwerte wie Body-Mass-Index (BMI) oder Blutdruck nutzen
  • Erwachsene mit länger andauernden Essstörungen haben höheres Risiko und kommen ggf. später in Behandlung, sodass sie sich bei Aufnahme sehr unwohl fühlen können und stark verminderte Elektrolytwerte (z.B. Kalium) aufweisen, der sich nicht in den Serumwerten widerspiegelt (CAVE: Vorsicht geboten unabhängig von Blutparametern)
  • Patient*innen mit Bulimia nervosa können schwere Elektrolytstörungen und gastrointestinale Komplikationen aufweisen, selbst wenn sie normalgewichtig oder übergewichtig sind
  • bei Ödemen an Hypoalbuminämie denken, v.a. bei Anorexia nervosa

Therapie

  • ggf. Beurteilung und Behandlung von Patient*innen unter Zwang
  • Patient*innen als auch Familien in die Behandlungsgespräche einbeziehen
  • kein „Herunterspielen“ der Situation (CAVE: kann abwertende Haltung der Betroffenen ggü. der Essstörung noch verstärken)
  • Wärmeerhalt
  • falls möglich, orale Rehydrierung, sonst über Magensonde oder i.v. per Infusion (10 mL/kg als Bolus schrittweise, dann Reevaluation)
  • ggf. Gabe von 5 % Glucose (CAVE: Refeeding-Syndrom)
Published inLeitlinien kompakt

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