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Leitlinie „Acute dizziness and vertigo in the emergency department“ der SAEM

veröffentlichende Fachgesellschaft: Society for Academic Emergency Medicine (SAEM)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 11.05.2023
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1111/acem.14728

Definitionen

  • Benommenheit = Gefühl einer gestörten oder beeinträchtigten räumlichen Orientierung ohne falsche oder verzerrte Bewegungswahrnehmung
  • Schwindel = Gefühl der Eigenbewegung (von Kopf oder Körper), wenn keine Eigenbewegung stattfindet, oder das Gefühl einer verzerrten Eigenbewegung bei einer ansonsten normalen Kopfbewegung
  • posturale Instabilität = Gleichgewichtssymptome, die mit Aufrechterhaltung der Haltungsstabilität zusammenhängen und nur bei aufrechter Haltung (im Sitzen, Stehen oder Gehen) auftreten

akutes vestibuläres Syndrom (AVS)

  • akutes Auftreten von kontinuierlichem, anhaltendem Schwindel, der länger als 24 Stunden anhält (meist Tage bis Wochen andauernd)
  • Übelkeit/Erbrechen, Nystagmus und posturale Instabilität (Symptome bestehen auch noch in Notaufnahme)
Edlow, JA, Carpenter, C, Akhter, M, et al. Guidelines for reasonable and appropriate care in the emergency department 3 (GRACE-3): Acute dizziness and vertigo in the emergency department. Acad Emerg Med. 2023; 30: 442- 486. doi:10.1111/acem.14728

spontanes episodisches vestibuläres Syndrom (s-EVS)

  • eine oder mehrere diskrete vorübergehende Episoden nicht ausgelösten, spontanen Schwindels oder Benommenheit (i.d.R. Minuten bis Stunden anhaltend)
  • Übelkeit/Erbrechen, Nystagmus und posturale Instabilität (Patient*innen sind i.d.R. in der Notaufnahme im Ruhezustand asymptomatisch)
  • Vorstellung meist nach der ersten von mehrfach wiederkehrenden Attacken mit wiederholten Anfällen
  • keine eindeutigen Auslöser für diese Art der Anfälle
Edlow, JA, Carpenter, C, Akhter, M, et al. Guidelines for reasonable and appropriate care in the emergency department 3 (GRACE-3): Acute dizziness and vertigo in the emergency department. Acad Emerg Med. 2023; 30: 442- 486. doi:10.1111/acem.14728

getriggertes (positionsabhängiges) episodisches vestibuläres Syndrom (t-EVS)

  • eine oder mehrere diskrete, sehr kurze Episoden von getriggertem, positionsabhängigem Schwindel oder Benommenheit (meist Sekunden bis Minuten andauernd)
  • Übelkeit/Erbrechen und posturale Instabilität (Patient*innen sind i.d.R. in der Notaufnahme im Ruhezustand asymptomatisch; Triggern der Symptome ist aber möglich)
  • Vorstellung meist nach der ersten von mehrfach wiederkehrenden Attacken mit wiederholten Anfällen
  • Attacken haben einen eindeutigen positionsabhängigen Auslöser, i.d.R. Bewegung des Kopfes oder beim Aufstehen
Edlow, JA, Carpenter, C, Akhter, M, et al. Guidelines for reasonable and appropriate care in the emergency department 3 (GRACE-3): Acute dizziness and vertigo in the emergency department. Acad Emerg Med. 2023; 30: 442- 486. doi:10.1111/acem.14728

Differentialdiagnosen

  • AVS
    • häufigste Ursache: Neuritis vestibularis
    • CAVE: ggf. (lebens)bedrohlicher posteriorer ischämischer Schlaganfall
    • andere Ursachen: Blutung in die Fossa cranii posterior, Wernicke-Syndrom, Labyrinthitis, Multiples Sklerose, Drogen/Medikamenten-Toxizität
  • s-EVS
    • häufigste Ursache: vestibuläre Migräne
    • CAVE: ggf. (lebens)bedrohliche posteriore TIA
    • andere Ursachen: Herzrhythmusstörungen, Lungenembolie, Panikattacke, Morbus Menière
  • t-EVS
    • häufigste Ursache: benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
    • CAVE: ggf. (lebens)bedrohliche orthostatische Hypotension durch andere lebensgefährliche Ursache oder zentraler paroxysmaler Lagerungsschwindel durch Hirnläsion der Fossa cranii posterior oder durch Schlaganfall
    • andere Ursachen: posteriore TIA durch Arteria-vertebralis-Syndrom, Karotis-Sinus-Syndrom, posturale Tachykardiesyndrom

Diagnostik – HINTS-Test (plus)

Head Impulse test (Kopf-Impuls-Test)

  1. Kopf sanft von einer Seite zur anderen bewegen und darauf achten, dass die Nackenmuskulatur entspannt ist
  2. Patienten bitten weiterhin auf die Nase der Untersuchenden zu schauen, während der Kopf nach links und rechts gedreht wird
  3. Kopf des Patienten schnell um 10 – 20° zu jeder Seite und dann zurück zur Mitte drehen
  • positiver Test: Augen bewegen sich mit dem Kopf und dann schnell zum Fixationspunkt „Nase“ als Korrektursakkade (Hinweis auf Störung des vestibulo-okularen Reflexes)
  • zusätzlich Probleme, die Nase zu fixieren

Nystagmus-Test

  1. primären Blick des Patienten beobachten, während er geradeaus schaut
  2. Patienten bitten nach links und rechts zu schauen, ohne ein Objekt zu fixieren
  • Richtung der Augenbewegung ist wichtig
  • unidirektionaler Nystagmus ist beruhigend und hat mit größerer Wahrscheinlichkeit peripheren Ursprung
  • Richtungsänderung des Nystagmus oder vertikaler Verlauf ist wahrscheinlich in Verbindung stehend mit zentraler Pathologie
  • bidirektionaler Nystagmus ist sehr spezifisch für Schlaganfall (Nystagmus schlägt erst in Blickrichtung aus und ändert dann mit Blick des Patienten die Richtung)

Test of Skew (Test bei Schieflage)

  1. Patient*in bitten auf Behandler*in-Nase zu schauen und anschließend eines der Augen der Patient*in bedecken.
  2. Eigene Hand schnell bewegen, um das andere Auge des Patienten abzudecken, und dabei das unbedeckte Auge bzgl. vertikale und/oder diagonale Korrekturbewegung beobachten.
  3. Wiederholung des Tests mit dem anderen Auge.
  4. Jede abnorme Bewegung, die hier beobachtet wird und oft mit einer vertikalen Diplopie einhergeht, ist sehr spezifisch für zentrale Ursache des Schwindels.

Plus: Hearing Test by finger rub

  1. Patient*in bitten geradeaus auf Behandler*in-Nase zu schauen
  2. Finger nacheinander in der Nähe beider Ohren aneinander reiben
  3. Patient*in bitten zu sagen, wann diese*r das Fingerreiben hört
  4. Dokumentation eines jeden neuen einseitigen Hördefizits

Diagnostik – Nystagmus

Legende zu Bildern

  • eingezeichnetes Raster mit den neun Feldern zeigt die möglichen Blickrichtungen der Patient*innen
  • mittlere Viereck zeigt den primären Blick (geradeaus schauend)
  • linkes mittleres Quadrat steht für Patient*innen, die nach rechts schauen, und das rechte mittlere Quadrat für Patient*innen, die nach links schauen
  • Pfeile zeigen die Richtung der letzten Phase des Nystagmus an und die Pfeil-Dicke entspricht der Amplitude des Nystagmus
  • grüne Farbe zeigt peripheres Muster an, orange Farbe unklares Muster und rote Farbe ein zentrales Muster
  • offene schwarze und weiße Kreise zeigen an, dass in dieser Blickrichtung kein Nystagmus vorliegt
  • R und L an den Ohren bezeichnen die rechte und die linke Körperseite

Nystagmus bei AVS

Edlow, JA, Carpenter, C, Akhter, M, et al. Guidelines for reasonable and appropriate care in the emergency department 3 (GRACE-3): Acute dizziness and vertigo in the emergency department. Acad Emerg Med. 2023; 30: 442- 486. doi:10.1111/acem.14728

Nystagmus bei t-EVS

Edlow, JA, Carpenter, C, Akhter, M, et al. Guidelines for reasonable and appropriate care in the emergency department 3 (GRACE-3): Acute dizziness and vertigo in the emergency department. Acad Emerg Med. 2023; 30: 442- 486. doi:10.1111/acem.14728
Edlow, JA, Carpenter, C, Akhter, M, et al. Guidelines for reasonable and appropriate care in the emergency department 3 (GRACE-3): Acute dizziness and vertigo in the emergency department. Acad Emerg Med. 2023; 30: 442- 486. doi:10.1111/acem.14728
  • Nystagmus wird als „geotrop“ bezeichnet, weil er während der Rückenlage zum Boden hin ausschlägt
  • CAVE: einziger Unterschied zwischen Position mit dem rechten und dem linken Ohr nach unten oft die relative Intensität des Nystagmus
  • Nystagmus auf der intensiveren Seite schlägt normalerweise in Richtung des betroffenen Ohrs

häufige Nystagmusmuster für die Schwindel-Diagnostik

  • positionsabhängig peripherer vestibulärer Nystagmus bei pc-BPPV oder hc-BPPV
    • vorübergehender (< 30 sec) aufwärtsgerichteter Dreh-Nystagmus, ausgelöst durch den Dix-Hallpike-Test
    • vorübergehender (< 90 Sek. andauernder) horizontaler Nystagmus, ausgelöst durch Rolltest in Rückenlage und Ausschlag in Richtung des untenliegenden Ohrs (bei hc-BBPV wird der Nystagmus unabhängig davon beobachtet, auf welche Seite der Kopf gedreht wird)
  • persistierender peripherer vestibulärer Nystagmus bei Neuritis vestibularis
    • horizontaler spontaner (bei primärem Blick vorhandener) Nystagmus, der unidirektional ist, also nie die Richtung bei verschiedenen Blickpositionen oder Positionstests ändert
  • positionsabhängig zentraler vestibulärer Nystagmus bei CPPV (ggf. auch bei BPPV)
    • anhaltender vertikaler, abwärtsgerichteter Nystagmus
  • persistierender zentraler vestibulärer Nystagmus bei hc-BPPV, auch bei CPPV, oder bei Stroke, Wernicke-Syndrom, MS oder ausgelöst durch Medikamente/akute Intoxikation
    • horizontaler Positionsnystagmus, der zum unteren Ohr ausschlägt und sich mit der Zeit nicht abschwächt
    • dominant vertikaler (nach oben/unten ausschlagend) oder dominanter/rein drehender Spontannystagmus
    • blickrichtungswechselnder horizontaler Nystagmus (persistierender linksschlagender Nystagmus beim Blick nach links und persistierender rechtsschlagender Nystagmus beim Blick nach rechts)

Therapie

  • Diagnose mittels HINTS-Test zur Unterscheidung einer peripheren vestibulären Störung (in der Regel Vestibularisneuritis) von einer zentralen Störung (in der Regel Schlaganfall) durch einen entsprechend geschulten Kliniker)
  • Schulung in Techniken der körperlichen Untersuchung am Krankenbett bei Patienten mit AVS (HINTS) und in diagnostischen und therapeutischen Manövern für gutartigen paroxysmalen Lagerungsschwindel (Dix-Halpike-Test und Epley-Manöver)
Published inLeitlinien kompakt

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