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Leitlinie „Beschleunigungstrauma der HWS“ der DGN

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Neurologie
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 23.08.2020
Ablaufdatum: 22.08.2025
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-095.html

Verletzungsmechanismus/Biomechanik

  • brüske passive, aufgezwungene, meist unerwartet einwirkende Beschleunigung (typischerweise Heckaufprall), die ausreicht, um relevante Translations- und Retroflexionsbewegung der HWS hervorzurufen, der sich in der Regel aufgrund einer konsekutiven abrupten Dezeleration eine forcierte Inklination der HWS anschließt („whiplash“)
  • bei Kraft von vorne oder seitlich, darf ein analoger Mechanismus mit In-/Reklination bzw. Lateroflexion angenommen werden
  • einwirkende Kräfte belasten die Muskulatur vornehmlich obere HWS, den Bandapparat und in schweren Fällen auch die Gelenke und knöcherne Strukturen
  • Heckkollisionen die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des betroffenen Fahrzeugs um 10 km/h oder weniger im Normalfall nicht ausreicht, um nennenswerte HWSVerletzungen zu erzeugen
  • grundsätzlich bis zum morphologischen Nachweis nicht automatisch von einer HWS-Verletzung, sondern von HWS-Beschwerden nach Distorsion sprechen
  • Kräfte, die bei Unfallereignis auf beteiligte Personen einwirken, können nur aufgrund vieler Parameter (Geschwindigkeiten, Richtung, Masse der Fahrzeuge, Sitzposition etc.) berechnet werden

Pathophysiologie

  • mit Latenz von Stunden auftretende und nach Mehrfachen dieser Zeit über Tage bis wenige Wochen abklingende muskelkaterartige Nackenschmerzen und muskuläre bzw. bindegewebige „Nackensteife“ wird durch mechanische Gewebeschädigung verursachte entzündlichreparative Gewebereaktion ausgelöst
  • Nervenschädigungen können z.B. resultieren durch:
    • Einengung der Foramina intervertebralia mit temporärer oder anhaltender Beeinträchtigung der austretenden Nervenwurzeln (C2 bis C8), z. B. durch traumatische Diskusprotrusion, -prolaps oder -herniation (selten)
    • Zerrung peripherer nervaler Strukturen, etwa des Plexus brachialis oder von Einzelnerven (selten)

notwendige Diagnostik

  • genaue Anamnese, wo immer möglich und von Bedeutung auch Fremdanamnese, prätraumatische Anamnese, Nachbefragung und Einsicht in die Protokolle des Erstuntersuchers oder -aufnehmers
  • frühzeitig auf Symptome einer akuten Belastungs-reaktion (Intrusion, Ängste, Vermeidungsverhalten, Überaktivität oder Rückzug, dissoziative Symptome) achten
  • körperliche Untersuchung mit Dokumentation des kompletten Neurostatus inklusive Anamnese und ggf. klinischer Untersuchung auf Gleichgewichts- und Hörstörungen inkl. Tinnitusempfindung, psychopathologischen Status (Hinweis auf akute Belastungsreaktion?) und osteomuskulären Befund
  • „Gefährliche Unfallmechanismen“, die lt. Canadian C-Spine Rule eine Bildgebung zum Ausschluss einer HWS-Verletzung indizieren
    • Sturz > 1 m oder > 5 Treppenstufen
    • axiales Stauchungstrauma (z. B. Sprung in seichtes Wasser)
    • Verkehrsunfall mit > 100 km/h
    • Überschlag
    • Patient wurde aus dem Fahrzeug geschleudert
    • Zweiradunfall
    • Kollision mit Bus oder LKW

klinische und morphologische Klassifikation von Störungen bei HWS-Beschleunigungsverletzung

KriterienGrad 0 (kein Trauma)Grad 1 (leicht)Grad 2 (mittel)Grad 3 (schwer)Grad 4 (tödlich)
Symptomatikkeineschmerzende Halsmuskulatur
und/oder HWS, die bewegungs
eingeschränkt sein kann, meist
nach Intervall („steifer Hals“)
wie I, aber meist ohne Intervall;
möglich sind sekundäre Insuffizienz
der Halsmuskulatur, Schmerzen im
Mundboden-/Interskapularbereich
Parästhesien der Arme
wie I und II, primäre Insuffizienz der Halsmuskulatur möglich; Brachialgien, Armparesen, evtl. kurze initiale Bewusstlosigkeithohe Querschnittlähmung, Tod im zentralen Regulationsversagen, meist am Unfallort, Bulbärhirn-Syndrom
symptomfreies
Intervall
häufig, meist > 1 Stunde, max.
48 Stunden, typisch 12 – 16
Stunden
selten, meist < 1 Stunde, bis 8
Stunden möglich
fehlt meistnicht vorhanden
Beschwerdedauermeist Tage bis Wochen, < 1 MonatWochen bis Monateoft Monate, selten > 1 Jahrmeist Tod am Unfallort
Bettlägerigkeitmeist nicht gegebenhäufigsehr häufigdauerhaft möglich
Neurostatusnormal bzw. unverändertkeine Ausfälle, evtl. Bewegungseinschränkung der HWSkeine Ausfälle, schmerzhafte
Bewegungseinschränkung der HWS
sensible und/oder motorische Reiz- und AusfallserscheinungenTetrasymptomatik, Schädigung vitaler Medulla oblongata
Zentren möglich
Morphologiekeine LäsionDistorsion, Dehnung und Zerrung des HWS-Weichteilmantelswie I; Gelenkkapseleinrisse, Gefäßverletzungen möglich (retropharyngeales Hämatom, Muskelzerrungen)wie II, über mehr als ein Segment, Diskusblutung oder -riss, Bandruptur, Wirbelkörperfraktur, Luxation, Nerven-, Wurzel-, RückenmarkläsionMarkkontusion, evtl. sogar Markdurchtrennung, Schädigung der Medulla oblongata bzw. des untersten Hirnstamms, Schädelbasis- und Kopfgelenkbrüche möglich
Quelle: https://register.awmf.org/assets/guidelines/030-095l_S1_Beschleunigungstrauma-Halswirbelsaeule_2021-04.pdf
Published inLeitlinien kompakt

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