veröffentlichende Fachgesellschaft: American Academy of Emergency Medicine (AAEM)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 21.01.2023
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1016/j.jemermed.2023.01.010
Grundsätzliches
- Alkohol ist das weltweit am häufigsten konsumierte Rauschmittel
- sechsfach höhere Gesamtmortalität (6 % aller Todesfälle sind auf den Konsum von Alkohol zurückzuführen)
- Alkohol ist weltweit der wichtigste Risikofaktor für Krankheiten bei Menschen im erwerbsfähigen Alter
- Alkoholentzugssyndrom (AWS): Konstellation von unangenehmen Symptomen sowie gefährlichen physiologischen Störungen, welche auftreten, wenn alkoholabhängige Person ihren Alkoholkonsum reduziert oder einstellt
Symptomatik
Symptomatik schweres AWS
- psychomotorische Unruhe
- Verwirrtheitszustände
- Delirium
- Halluzinationen
- Krampfanfälle
- Störung autonomer Funktionen (z.B. Tachykardie, Hypertonie, Schwitzen oder Tachypnoe)
- Tremor
Symptomatik Alkoholentzugssyndrom im zeitlichen Verlauf
- 6 – 10 h: Unruhe, Reizbarkeit, Angst, Agitation, Schlaflosigkeit, Tremor, Schwitzen, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, leichte Tachykardie, Hypertonie
- 12 – 36 h: Krämpfe, Halluzinosen (auditiv, visuell oder taktil), paranoide Wahnvorstellungen
- 24 – 72 h (Delirium tremens): Tachykardie, Hypertonie, Hyperthermie, Delirium (Aufmerksamkeits- & Bewusstseinsstörungen sowie Orientierungs-, Sprach- oder Wahrnehmungsstörungen, oft mit schwankendem Bewusstseinsgrad)
Diagnostik
- AWS bildet sich i.d.R. nach einigen Tagen autonomer Überreizung von selbst zurück
- „Delirium tremens“ ist nicht immer schweres AWS, sondern bestimmte Gruppe gefährlicher Befunde, die bei einer Untergruppe von Patient*innen mit AWS 2 – 3 d nach dem letzten Alkoholkonsum auftreten
- auch wenn frühere AWS-Episoden am aussagekräftigsten sind, gibt es keinen einzelnen Risikofaktor/kein Symptom, welches die Möglichkeit der Entwicklung eines AWS genau ausschließen kann
- Patient*innen mit Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0 zeigen keine signifikanten Entzugserscheinungen und haben eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass sie ein gefährliches AWS entwickeln
- Monitoring (RR, HF, AF, EKG, BZ, GCS, Temperatur)
Screening-Tools
- AUDIT-C (Alcohol Use Disorder Identification Test)
- BAWS (Brief Alcohol Withdrawal Scale)
- CAGE (Cut down, Annoyed, Guilty, Eye-opener)
- CIWA-Ar (Clinical Institute Withdrawal Assessment of Alcohol Scale, Revised)
- LARS (Lübecker Risiko-Skala für Alkoholentzug)
- PAWSS (Prediction of Alcohol Withdrawal Severity Scale)
- RASS (Richmond Agitation-Sedation Skala)
- SAWS (Short Alcohol Withdrawal Scale)
- SEWS (Severity of Ethanol Withdrawal Scale)
Differentialdiagnosen
- Stimulanzien- oder Anticholinergika-Intoxikation
- Opioid-Entzug
- Thyreotoxikose
- Serotonin-Syndrom
- diabetische oder alkoholische Ketoazidose
- Sepsis
Risikofaktoren für schweres AWS
- mehrere frühere AWS-Episoden
- Alter > 65 Jahren
- medizinische Begleiterkrankungen
- längerer und stärkerer Alkoholkonsum
- Einnahme von Benzodiazepinen oder Barbituraten
- erhöhte BAK bei Vorstellung
- mindestens mäßiges AWS bei Vorstellung
- Thrombozytopenie und erhöhte Alanin-Transaminase deuten auf chronischen schweren Alkoholkonsum hin und sind mit schwererem Entzug verbunden
- CAVE: wichtigster Prädiktor für schweres AWS ist vorangegangenes schweres AWS, das durch Krämpfe, Delirium tremens oder vorherig Einweisung auf ITS gekennzeichnet ist
Komplikationen/Folgestörungen
- metabolische und ernährungsbedingte Mangelerscheinungen (Vitamine des B-Komplexes wie Thiamin, Riboflavin, Pyridoxin, Folsäure sowie Mineralstoffe wie Zink und Selen)
- Hyponatriämie (z.B. als Verdünnungshyponatriämie durch die übermäßige Aufnahme hypotoner Flüssigkeiten wie Bier)
- Hypomagnesiämie mit neuromuskulären und kardiovaskulären Manifestationen
- alkoholische Ketoazidose (AKA) durch den Abbau freier Fettsäuren bei fehlender Kohlenhydrat- und Eiweißzufuhr
- schwerer Thiaminmangel mit dem irreversiblen Korsakoff-Syndrom
- traumatische Verletzungen, inkl. akute und chronische SAB
- Verschlimmerung von bestehenden Anfallserkrankungen (Krampfleiden)
- gefährliche Hypoventilation sowie Verlust der Schutzreflexe, ggf. mit Aspiration
- Hypoglykämie
Therapie
- keine routinemäßige Gabe von Volumen, Vitaminen oder Elektrolyten (CAVE: Volumentherapie kann mit erhöhtem Verletzungsrisiko einhergehen, v.a. aufgrund des selbstständigen Aufstehens zum Urinieren)
- Identifizierung gefährlicher medizinischer Symptome/Syndrome
- schnelle & sorgfältige Überprüfung der Bewusstseins-Beeinträchtigung
- Suche nach Anzeichen eines Traumas
- ggf. Stabile Seitenlage und erweitertes Atemwegsmanagement bei Verlust der Schutzreflexe
- Suche nach Anzeichen für Mischintoxikation
- ggf. verbale Deeskalation oder nachfolgend medikamentöse Therapie von psychomotorischer Unruhe und Agitation
- häufig verwendete medikamentöse Kombinationen aus 5 mg Midazolam i.m. oder 2 mg Lorazepam mit 5 mg Droperidol, Olanzapin oder Haloperidol
- CAVE bei Antipsychotika-Gabe: QTc-Verlängerung im EKG
- ggf. als Ultima ratio Fixierung der Patient*innen (genaue Dokumentation notwendig)
medikamentöse Therapie bei leichtem bis mittelschwerem AWS
- Diazepam
- leichtes AWS: 10 mg p.o. alle 6 h (max. 4 Dosen)
- moderates AWS: 20 mg p.o. alle 2 h (max. 3 Dosen)
- Lorazepam
- leichtes AWS: 0,5 – 1 mg p.o. alle 6 h (max. 4 Dosen)
- moderates AWS: 1 – 2 mg p.o. alle 2 h
- 400 mg Carbamazepin oral zweimal am Tag
- 500 mg Valproinsäure oral zweimal am Tag
Benzodiazepin-Gabe bei schwerem AWS
- 10 – 20 mg Diazepam i.v.
- 2 – 4 mg Lorazepam i.v. (CAVE: langsamerer Wirkungseintritt)
- 5 – 10 mg Midazolam i.m.
Midazolam ist Lorazepam und Diazepam überlegen
verbale Deeskalationstechniken
- Autonomie des Patienten respektieren
- Vorstellen bei Patient*innen und Ihnen eine kurze Orientierung geben (betonen, dass man med. Personal ist, welches helfen will)
- Wünsche oder Bedürfnisse erkennen und achten
- Unterstützung/Bestätigung der Situation anbieten („Ich wäre auch aufgebracht“; „Lassen Sie uns das gemeinsam herausfinden“)
- schrittweise Erwartungen formulieren
- Patient*innen Wahlmöglichkeiten oder Optionen anbieten (orale Anxiolytika anbieten; Aufhebung der körperlichen Fixierung besprechen, falls erfolgt)
medikamentöse Therapie von Unruhe bei Intox
- 5 – 10 mg i.m. oder 2 – 5 mg i.v. Haloperidol (i.v.-Gabe = Off-Label-Use)
- 2,5-10 mg Droperidol i.m. oder i.v.
- 5 – 10 mg oral oder 10 mg i.m. Olanzapin (mit sterilem Wasser verdünnen)
- 10 – 20 mg i.m. Ziprasidon (mit sterilem Wasser verdünnen)
- 1 – 2 mg Risperidon oral
- 2 – 10 mg i.m. oder 2 – 5 mg i.v. Midazolam (CAVE: hohe Dosen ≥ 5 mg i.m. oder jede i.v.-Dosierung erhöhen Risiko einer Atemdepression)
- 2 – 4 mg Lorazepam i.m. oder i.v. (ggf. auch 1 – 4 mg oral)
- 2 – 10 mg Diazepam oral oder i.v. (keine i.m.-Gabe)
- ggf. 4 – 5 mg/kg i.m. oder 1-2 mg/kg i.v. Ketamin (CAVE: kontinuierliche kardiorespiratorische Überwachung notwendig)
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