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Leitlinie „Emergency Department Management of Patients with Alcohol Intoxication, Alcohol Withdrawal, and Alcohol Use Disorder“ der AAEM

veröffentlichende Fachgesellschaft: American Academy of Emergency Medicine (AAEM)
Datum der Veröffentlichung: 21.01.2023
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1016/j.jemermed.2023.01.010

Grundsätzliches

  • Alkohol ist das am häufigsten konsumierte Rauschmittel der Welt
  • sechsfacher Anstieg der Gesamtmortalität und 6 % aller Todesfälle sind auf Konsum von Alkohol zurückzuführen
  • weltweit wichtigster Risikofaktor für Krankheiten bei Menschen im erwerbsfähigen Alter
  • Alkoholintoxikationen stehen in engem Zusammenhang mit schweren Traumata (v.a. Unfälle im Straßenverkehr), Selbstmord, häuslicher Gewalt und sexuellen Übergriffen sowie Kriminalität
  • Sterblichkeitsrate bei Patient*innen mit Alkoholmissbrauchsstörungen stieg während der COVID-19-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 um über 20 %
  • Zahl der alkoholbedingten Besuche in der Notaufnahme nimmt stetig zu
  • bei Patient*innen besteht hohes Risiko für schlechtes Outcome, v.a. bei Patient*innen, die häufig vorstellig werden (fast jede*r Zehnte innerhalb eines Jahres stirbt)

Symptomatik & Diagnostik

Alkoholentzugssyndrom

  • Alkoholentzugssyndrom ist Komplex vielen Symptomen in unterschiedlicher Ausprägung und unvorhersehbarem Verlauf; zu den typischen Symptomen zählen:
    • 6 – 10 h nach letztem Getränk
      • Unruhe, Reizbarkeit, Ängstlichkeit, Agitation, Schlaflosigkeit
      • Zittern, starkes Schwitzen
      • Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen
      • leichte Tachykardie, Bluthochdruck
    • 12 – 36 h nach letztem Getränk
      • Krämpfe
      • Halluzinationen (auditiv, visuell oder taktil sowie paranoide Wahnvorstellungen)
    • 24 – 72 h nach letztem Getränk
      • Tachykardie, Bluthochdruck, Hyperthermie
      • Delir also Aufmerksamkeits- und Bewusstseinsstörungen sowie Orientierungs-, Sprach- oder Wahrnehmungsstörungen, oft mit schwankendem Bewusstseinsgrad
  • CAVE: „Delirium tremens“ wird oft fälschlicherweise zur Beschreibung des schweren Alkoholentzugssyndroms herangezogen, aber dieses bezieht sich auf eine spezifische Symptom-Kombination bei einer Untergruppe von Patient*innen, welche 2-3 Tage nach dem letzten Alkoholkonsum auftritt
  • Anamnese hinsichtlich täglicher Konsummenge, früheren Entzugsphasen sowie Gründe für Absetzen des Alkohols
  • Nutzung von Screening-Tools wie CIWA-Ar, AUDIT-C oder CAGE (CAVE: Screening-Tools sind nicht prädiktiv für klinischen Verlauf; PAWSS eignet sich zur Vorhersage von Komplikationen bei stationären Patient*innen)
  • Atemalkoholdiagnostik sowie Laboruntersuchungen spätestens in der Notaufnahme

Alkoholintoxikation

  • Symptomatik
    • Bewusstseinsstörungbeeinträchtigung bis Bewusstlosigkeit
    • Übelkeit und/oder Erbrechen
    • ggf. Traumazeichen, z.B. Z.n. Sturz
    • leichte Tachykardie
    • leichte Hypotonie
    • Hypothermie
    • ggf. Atemdepression
    • ggf. Agitation bzw. Unruhe
    • ggf. Hypoglykämie
    • ggf. Thiaminmangel und Wernicke-Enzephalopathie (v.a. bei Patient*innen mit langjährig starkem Alkoholkonsum)
  • Monitoring
    • Blutdruck
    • Pulsoxymetrie
    • BZ-Messung
  • weitere Diagnostik
    • Laboruntersuchung (z.B. vollständiges Blutbild, Serumelektrolyte, Leber- und Nierenfunktionstests)
    • Drogentest
    • ggf. CT bei Hinweisen auf Sturzgeschehen o.Ä. sowie unklaren Bewusstseinszuständen

Therapie

Alkoholentzugssyndrom

  • medikamentöse Therapie des leichten Alkoholentzugssyndroms (Angstzustände, Schlaflosigkeit, Schwitzen, leichte Tremor; CIWA-Ar-Score < 10)
    • 10 mg Diazepam p.o. in vier Dosen alle 6 h, dann Erhaltungsdosis für 3 – 5 d
    • 50 – 100 mg Chlordiazepoxid p.o. alle 6 h für 7 d
    • 0,5 – 1 mg Lorazepam p.o. alle 6 h je nach Bedarf für 3 – 5 d
    • 400 mg Carbamazepin p.o. zweimal täglich für 7 Tage
    • 500 mg Valproinsäure/Valproat p.o. zweimal täglich für 7 Tage
  • medikamentöse Therapie des mittelschweren Alkoholentzugssyndroms (Kopfschmerzen, Angstzustände, Würgereiz, auffälliger Tremor, Tachykardie; CIWA-Ar-Score 10 – 18)
    • 20 mg Diazepam p.o. in vier Dosen alle 2 h, dann Erhaltungsdosis für 3 – 5 d
    • 50 – 100 mg Chlordiazepoxid p.o. alle 6 h für 7 d
    • 1 – 2 mg Lorazepam p.o. alle 2 h je nach Bedarf für 3 – 5 d
    • 400 mg Carbamazepin p.o. zweimal täglich für 7 Tage
    • 500 mg Valproinsäure/Valproat p.o. zweimal täglich für 7 Tage
  • medikamentöse Therapie des schweren Alkoholentzugssyndroms (psychomotorische Unruhe, Delir, Halluzinationen, Krampfanfälle, autonome Überreaktion mit ausgeprägter Tachykardie, Hypertonie, Tachypnoe)
    • 10 – 20 mg Diazepam i.v. (CAVE: Atemdepression & Verlust der Schutzreflexe)
    • 2 – 4 mg Lorazepam i.v. (CAVE: Atemdepression & Verlust der Schutzreflexe)
    • 5 – 10 mg Midazolam i.m. (CAVE: Atemdepression & Verlust der Schutzreflexe)
    • 130 – 260 mg Phenobarbital i.v. als Monotherapie oder i.d.R. als Kombination/Zusatz mit Benzodiazepin (als Monotherapie 10 mg/kg Phenobarbital i.v. über 15 – 30 min erwägen)
    • ggf. Carbamazepin, Valproinsäure oder Gabapentin als Zusatztherapie bei schwerem AWS mit Krämpfen zusätzlich zu Benzodiazepinen oder Phenobarbital erwägen
    • Einzelfallberichte über Wirkung von Ketamin als Infusion mit 0,5 mg/kg/h titriert bis max. 4,5 mg/kg/h
    • bei intubierten Patient*innen mit Zeichen für refraktäres Alkoholentzugssyndrom Propofol erwägen
    • bei benzodiazepinrefraktärer Psychose und Unruhe parenterales Antipsychotikum erwägen
    • zusätzlich Volumentherapie sowie Nährstoffausgleich
  • weitere Therapie bei schwere Alkoholentzugssyndrom
    • endotracheale Intubation bei hohem O2-Verbrauch und schneller Entsättigung

Alkoholentzugssyndrom-Prophylaxe

  • Stellenwert der Prophylaxe ist umstritten (keine verlässliche Datenlage, v.a. für Behandlung in Notaufnahme)
  • Empfehlung der Substance Abuse and Mental Health Services Administration (SAMHSA) für Prophylaxe bei Hochrisikopatienten mit Chlordiazepoxid (50 – 100 mg), Lorazepam (1 – 2 mg) und Gabapentin (600 – 1200 mg; CAVE: Nierenfunktionsstörungen) oral
  • CAVE: Gefahr von Übersedierung oder Delir, Stürzen, Beeinträchtigung der Atmung oder der Schutzreflexe und somit verlängerter Aufenthalt

Faktoren, die ambulante Weiterversorgung möglicher machen

  • gute körperliche und geistige Gesundheit
  • unterstützendes soziales Netzwerk und stabiles Lebensumfeld (Überwachung durch Familie/Freunde zu Hause mit Möglichkeit der erneuten Alarmierung des RD bei Verschleterung)
  • keine frühere Entzugsepisode (falls früheres Alkoholentzugssyndrom, kein schweres Alkoholentzugssyndrom)
  • keine zusätzliche Abhängigkeit von Benzodiazepinen oder Opioiden
  • in der Lage, orale Medikamente zu erwerben/besorgen und einzunehmen

Einweisungskriterien

  • fortschreitende hyperadrenerge Anzeichen (Tachykardie, Hypertonie, Schwitzen, Tremor) und/oder verändertes Bewusstsein (Unruhe oder Verwirrung) trotz Behandlung
  • CIWA-Ar-Score ≥ 19
  • schwangere Patient*innen
  • vorangegangenes schweres Alkoholentzugssyndrom, das durch Krämpfe, Delirium tremens oder Einweisung auf Intensivstation gekennzeichnet war
  • rezidivierende Episoden eines Alkoholentzugssyndroms
  • Alter > 65 Jahre
  • relevante medizinische Vor-/Begleiterkrankungen
  • längerer oder stark ausgeprägter Alkoholkonsum
  • Einnahme von Benzodiazepinen oder Barbituraten
  • stark erhöhte Blutalkoholkonzentration
  • Thrombozytopenie
  • erhöhte Alanin-Transaminase

Alkoholintoxikation

  • pVK-Anlage sowie Volumentherapie (ggf. auch oral, CAVE: Aspirationsrisiko)
  • ggf. zusätzlich individuell Zugabe von Kalium und Magnesium
  • ggf. empirische Gabe von Thiamin (CAVE: notwendige Glucose-Gabe zuvor ist Irrglaube)
  • Therapie bei Agitation in erster Linie in Form verbaler Deeskalation
    • Autonomie der Patient*innen respektieren
    • Vorstellung und grobe Orientierung über nächste Schritte
    • Wünsche & Bedürfnisse erkennen und erfragen
    • Unterstützung anbieten
    • schrittweise Erwartungen formulieren
    • Patient*innen Wahlmöglichkeiten oder Optionen anbieten
  • medikamentöse Therapie bei Agitation, wenn verbale Deeskalation frustran verläuft
    • Antipsychotika (Therapie der Wahl, wenn Unruhe durch psychiatrische Grunderkrankung bedingt ist; CAVE: Risiko von QTc-Verlängerung)
      • Haloperidol: 5 – 10 mg i.m. oder 2 – 5 mg i.v. (CAVE: i.v.-Gabe ist Off-Label-Use)
      • Droperidol: 2,5 – 10 mg i.m. oder i.v.
      • Olanzapin: 5 – 10 mg oral oder 10 mg i.m. (CAVE: Verdünnung mit sterilem Wasser)
      • Ziprasidon: 10 – 20 mg i.m. (CAVE: Verdünnung mit sterilem Wasser)
      • Risperidon: 1 – 2 mg oral
    • Benzodiazepine (Therapie der Wahl bei Mischintoxikation mit Stimulanzien/Beruhigungsmittel sowie bei Alkoholentzug)
      • Midazolam: 2 – 10 mg i.m. oder 2 – 5 mg i.v. (CAVE: Atemdepression bei hohen Dosen)
      • Lorazepam: 2 – 4 mg i.m./i.v. oder 1 – 4 mg oral (CAVE: langsamer Wirkeintritt bei i.m.-Gabe)
      • Diazepam: 2 – 10 mg oral/i.v.
    • Ketamin: 4 – 5 mg/kg i.m. oder 1 – 2 mg/kg i.v. (CAVE: kontinuierliche kardiorespiratorische Überwachung)
  • Zwangsmaßnahmen und Fixierung nicht routinemäßig (bei Fixierung regelmäßigere Reevaluation; CAVE: genaue Dokumentation & rechtliche Abklärung)
Published inLeitlinien kompakt

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