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Leitlinie „Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE) im Erwachsenenalter“ der DGN

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Neurologie
Klassifikation gemäß AWMF: S2k
Datum der Veröffentlichung: 20.03.2023
Ablaufdatum: 19.03.2028
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-119

Grundsätzliches

  • „klassischen“ HIE = globale zerebrale Ischämie infolge eines Herz-Kreislauf-Stillstands
  • HIE ist z.B. Teil des sog. Postreanimationssyndroms, zu dem zusätzlich die Postreanimations-Kardiomyopathie (global myocardial stunning), die systemischen Ischämie- und Reperfusionsfolgen sowie die zugrunde liegende und zur Reanimation führende Pathologie zählen
  • CAVE: Begriff „hypoxische Hirnschädigung“ ist pathophysiologisch irreführend und sollte nicht mehr verwendet werden

Epidemiologie

  • Inzidenz Herzstillstand: 55 – 113/100.000 Personen
  • ca. 300.000 Fällen von OHCA in Europa pro Jahr
  • ca. 1/3 der Herz-Kreislauf-Stillstände ist nicht kardial bedingt, 2/3 sind kardial bedingt, davon ca. 50 % infolge STEMI
  • 25 % der reanimierten Patient*innen erreichen KH mit eigener Herz-Kreislauf-Funktion (ROSC)
  • ca. 10 % der reanimierten Patient*innen und 33 – 50 % derjenigen Patient*innen, die bis zur Krankenhausaufnahme überlebt haben, überleben für min. 30 d oder bis zur Entlassung
  • nach 6 Monaten leben 52 % der Patient:innen noch, 17 % leiden unter keinerlei neurolog./kognitiven Störungen, 22 % unter leichten Behinderungen ohne Unterstützungsbedarf, 4 % unter mittelgradigen Behinderungen mit Unterstützungsbedarf, aber selbstständigem Gehen und 3 % unter schweren Behinderungen mit hohem Pflegebedarf
  • bei initial nicht schockbaren Rhythmen überlebten lediglich etwa 17 % der Patient*innen, etwa 12 % mit moderaten oder schweren Defiziten
  • geschätzte Inzidenz HIE (auch mild): ca. 5/100.000 Personen
  • Inzidenz für schwere anhaltende Bewusstseinsstörung infolge HIE: 2,6/100.000 Einwohner*innen
  • Prävalenz für schwere anhaltende Bewusstseinsstörung infolge HIE: 2 – 5/100.000 Einwohner:innen
  • 10 – 15 % der Patient*innen mit HIE werden im häuslichen Umfeld versorgt

Pathophysiologie

  • bereits 10 sec nach Herz-Kreislauf-Stillstand Bewusstseinsverlust und nach 20 sec isoelektrisches EEG
  • nach 2 min Abfall der Sauerstoffspannung des Hirngewebes auf 0
  • nach 4 min noch ca. 25 % des ATP als Hauptenergiespeicher des Gehirns vorhanden
  • Schädigungskaskade bei fortbestehendem Herz-Kreislauf-Stillstand mit Zusammenbruch der Ionenpumpen und nachfolgendem zytotoxischen Hirnödem, Exzitotoxizität, oxidativem Stress (v.a. bei wiedereinsetzender Reperfusion) sowie nekrotischen & apoptotischen Zelltod
  • erste neuropathologisch nachweisbare Nervenzelluntergänge bereits nach Ischämiedauer von ca. 3 min
  • HIE hat zwei Schädigungsmechanismen
    • globale zerebrale Ischämie bei insuffizientem zerebralem Blutfluss (CBF, z.B. Herz-Kreislauf-Stillstand, prolongierte kardiopulmonale Reanimation)
    • primäre zerebrale Hypoxie bei erhaltenem CBF (z.B. Status asthmaticus, Ertrinkungsunfälle, Kohlenmonoxid-Intoxikationen)

klinischer Verlauf

  • Patient*innen können unmittelbar nach Herz-Kreislauf-Stillstand, also nach Wiedereinsetzen einer suffizienten Herz-Kreislauf-Funktion erwachen, überwiegender Anteil bleibt zunächst aber komatös
  • Spektrum von persistierenden quantitativen Bewusstseinsstörungen („Disorders of Consiousness“, DoC) bei schwerer HIE reicht vom Koma über das Syndrom der reaktionslosen Wachheit (SRW, früher: apallisches Syndrom, „vegetative state“) bis hin zum Syndrom des minimalen Bewusstseins (SMB; syn.: Minimally Conscious State, MCS)
  • meist erlangen Patient*innen ohne schwere HIE innerhalb von einigen Tagen nach Reanimation das Bewusstsein wieder (ca. 90 % innerhalb einer Woche)
  • ggf. verzögertes Erwachen bedingt durch schwere Begleiterkrankungen (Sepsis, Nieren-/Leberfunktionsstörungen etc.), notwendige Sedierung, epileptische Anfälle sowie moderate HIE

Diagnostik

  • repetitives 12-Kanal-EKG (v.a. für Ischämieerkennung)
  • neurologische Untersuchung von Pupillenlichtreaktion, Kornealreflex oder GCS (v.a. motorische Subskala)
  • transthorakale Echokardiographie (Beurteilung Myokardfunktion und Erkennung nicht koronarer Pathologien)
  • Notfallsonographie (Erkennung extrakardialer Pathologien)
  • unmittelbare Koronarangiographie und ggf. akute Revaskularisation bei STEMI oder bei hämodynamischer/elektrischer Instabilität (v.a. bei Angina vor OHCA oder EKG-Zeichen einer bestehenden akuten Ischämie (ohne ST-Hebungen))
  • unmittelbare CT-Untersuchung von Schädel, Hals, Thorax, ggf. Abdomen, wenn kardiale Genese unwahrscheinlich oder ausgeschlossen ist (z.B. Lungenarterienembolie, pulmonale Ursachen, Aortendissektion, kraniale Pathologie)
  • CT-Untersuchung auch zum Nachweis von Postreanimationsschäden nutzen (z.B. Blutungen, Organrupturen und Frakturen)
  • weiteres zur Diagnostik der HIE und frühe Prognoseindikatoren sind in der Leitlinie selbst zu finden
    • motorische Reaktion auf Schmerzreize bei ca. 10 – 20 % bis zu 72 h nach Herzstillstand
    • Pupillenlichtreaktion (bilateral fehlende Pupillenlichtreaktion ab 72 h nach Herzstillstand ist starker Hinweis für schlechte Prognose)
    • Kornealreflexe (bilateral fehlende Kornealreflexe etwas weniger verlässlich für Vorhersage von schlechtem Outcome)
    • Myoklonien bei ca. 20 – 30 %
    • Status myoclonicus (verlässlicher Prädiktor für schlechtes neurologisches Outcome)
    • epileptische Anfälle (isolierte epileptische Anfälle sind kein sicherer Hinweis für schlechtes Outcome; Status epilepticus mit schlechterer Prognose assoziiert)

Therapie

  • Vorgehen nach Aufnahme/nach ROSC richtet sich nach ABCDE-Algorithmus (adäquate Atemwegssicherung, Kreislaufstabilisierung etc.)
  • lungenprotektive Beatmung mit Ziel der Normoventilation, -oxie & -kapnie (min. Ziel-paO2 68 – 75 mmHg)
  • ggf. Kreislauftherapie mit Vasopressoren/Inotropika (Noradrenalin/Dobutamin) mit Ziel-MAD von min. 63 mmHg, besser Normotonie bei Normovolämie
  • Behandlung der Ursachen wie kardiale Erkrankungen, v.a. ACS bei KHK oder Rhythmusstörung bei anderen kardialen Grunderkrankungen (z.B. dilatative oder hypertrophe Kardiomyopathien, Myokarditis, Ionenkanalerkrankungen, Vitien), sowie respiratorische Insuffizienz (z. B. Aspiration, Bolus, COPD), Lungenarterienembolie, Aortendissektion, Perikarderguss, zerebrale Pathologien (z.B. ICB, Sinusvenenthrombose), Stromunfall oder Intoxikation
  • Transport in Klinik, welche Mindestanforderungen eines Cardiac-Arrest-Zentrums erfüllt
  • Evidenz für eCPR-Einsatz und mechanische Kreislaufunterstützung ist schwach
    • bei ausbleibendem ROSC bei ALS eCPR als individuelle Rescue Therapy im Sinne des Bridgings bei ausgewählten Patient*innen unter sehr strikten Kriterien erwägen
    • mechanische Kreislaufunterstützung bei persistierendem kardiogenem Schock erwägen (egal ob Herz-Kreislauf-Stillstand oder nicht)
    • wenn eCPR Option darstellt, möglichst frühzeitige Einleitung
  • Targeted Temperature Management (TTM)
    • kontinuierliche Temperaturmessung und strikte Fiebervermeidung nach Herzstillstand und Reanimation
    • keine klare Empfehlung für/gegen TTM mit niedrigeren Zieltemperaturen
    • TTM mit Zieltemperatur von 32 – 36 °C über 24 h, ggf. gefolgt von kontrollierter Erwärmung mit max. 0,5 °C/h erwägen, v.a. bei Patient*innen, deren Profil nicht den Einschlusskriterien der TTM1- und TTM2-Studien entspricht (danach Fieberfreiheit für 72 h)
  • Prüfung auf Vorliegen fokaler ZNS-Pathologien als sekundäre Ursache durch Neurolog*innen (ICB, v.a. SAB; epileptischer Anfall; ischämischer Hirninfarkt)

Exkurs: Legitimation allen ärztlichen Handelns

  • nach deutschem Recht haben Ärzt*innen kein originäres Behandlungsrecht (alles muss durch Indikation und Patient*innenwillen sein)
  • Indikation für ärztliche Maßnahmen sind Notwendigkeit und Geeignetheit, um Behandlungsziel zu erreichen, welches das Wohlergehen von Patient*innen fördert
  • Maßnahme ist nicht schon dadurch indiziert, dass sie physiologisch wirksam („machbar“) ist, ohne dass diese Wirkung den Betroffenen nützt
  • Indikation ist daher ärztliches Urteil, das neben fachlichen Kriterien (etwa über Prognose und Behandlungsoptionen) auch wertende Kriterien enthält
  • Legitimation des Patient*innenwillens sind ca. 50 Jahre Rechtsprechung und Patientenverfügungsgesetz (2009) sowie Patientenrechtegesetz von (2013)
  • absolute Bindung der Ärzt*innen an Patient:innenwille als Begrenzung des ärztlichen Handelns, unabhängig davon, ob Patient*innenwille aktuell geäußert ist, schriftlich im Voraus geäußert ist, mündlich im Voraus geäußert ist oder sich als mutmaßlicher aktueller Wille aus der Biografie, den Wertvorstellungen und früheren Äußerungen der Patient:innen ergibt
  • auch lebenserhaltende bzw. -verlängernde Behandlung bei chronischen Bewusstseinsstörungen (unabhängig von Einstufung des Zustands) muss durch Indikation und Patient:innenwillen legitimiert werden
  • Grundsätze der BÄK zur ärztlichen Sterbebegleitung (2011) stellen keine generelle Behandlungsindikation für Patient*innen mit „schwersten zerebralen Schädigungen“ fest, sondern, dass Indikation von Ärzt:innen im Einzelfall sorgfältig zu stellen und zu verantworten ist
  • CAVE: bei Indikationsstellung berücksichtigen, ob neben schwerer Hirnschädigung noch andere Krankheiten (vorbestehend oder nicht) oder Komplikationen der Hirnschädigung vorhanden sind
  • fehlt es an Indikation oder Patient*innenwillen als Legitimation für lebensverlängernde Behandlung, so darf diese nicht durchgeführt werden (falls bereits begonnen, ist sie zu beenden)
  • wenn Ermittlung und sorgfältige Prüfung bzgl. Patient:innenwille für oder gegen lebensverlängernde Behandlung nicht möglich, ist indizierte Behandlung vorzunehmen
  • Behandlung fortsetzen im Sinne des Grundsatzes „in dubio pro vita“, wenn sich ärztliche Indikation für/gegen lebensverlängernde Behandlung nicht eindeutig treffen lässt
Published inLeitlinien kompakt

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