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Leitlinie „Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter“ der DGN (Update 2023)

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Neurologie
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 01.09.2023
Ablaufdatum: 31.08.2028
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-041.html

Grundsätzliches

  • epileptischer Anfall = vorübergehendes Auftreten von objektiven und/oder subjektiven Zeichen als klinischer Ausdruck einer exzessiven oder synchronisierten neuronalen Hirnaktivität
  • Epilepsie = Störung des Gehirns, die durch anhaltende Prädisposition gekennzeichnet ist, spontan auftretende epileptische Anfälle zu generieren
  • Abgrenzung unprovozierte zu akut-symptomatischen Anfällen
    • unprovozierte Anfälle = Anfälle ohne Auslöser wie akute systemische Störung oder akute Hirnschädigung
    • akut-symptomatische Anfälle = Anfälle, ausgelöst durch akute systemische Störung wie Hyponatriämie oder akute Hirnschädigung wie zerebrale Hämorrhagie
  • Epilepsie liegt vor,
    • wenn min. zwei unprovozierte Anfälle im Abstand von mehr als 24 h aufgetreten sind oder
    • wenn nach unprovoziertem Anfall das Risiko für weiteren Anfall in den kommenden 10 Jahren bei über 60 % liegt (= Rezidivrisiko nach zwei unprovozierten Anfällen)
  • Inzidenz unprovozierter epileptischer Anfälle: ca. 55 auf 100.000 Personen-Jahr
    • hohe Inzidenz im frühen Kindesalter (130 auf 100.000 Personen-Jahre)
    • jenseits des 65. Lebensjahrs (110 auf 100.000 Personen-Jahre)
  • 1-Jahr-Prävalenz für Epilepsien in Industrienationen: 7,1 auf 1.000 Personen
  • Frauen und Männer sind von epileptischen Anfällen und Epilepsien gleich häufig betroffen

Klassifikation

  • fokal (d.h. in einer Hirnhemisphäre)
    • Einteilung bzgl. Bewusstseinslage
      • bewusst erlebt
      • nicht bewusst erlebt
    • Einteilung bzgl. Motorik
      • motorisch beginnend (Automatismus, atonisch, klonisch, epileptische Spasmen, hyperkinetisch, myoklonisch, tonisch)
      • nicht-motorisch beginnend (autonom, Innehalten, kognitiv, emotional, sensibel/sensorisch)
    • ggf. im Verlauf auch Ausbreitung auf Gegenseite und Übergang in bilateral tonisch-klonische Anfälle
  • generalisiert (d.h. in Netzwerkstrukturen beider Hirnhemisphären; CAVE: nur für Anfälle vorbehalten, die generalisiert beginnen)
    • Einteilung bzgl. Motorik
      • motorisch beginnend (tonisch-klonisch, klonisch, tonisch, myoklonisch-tonisch-klonisch, myoklonisch-atonisch, atonisch, epileptische Spasmen)
      • nicht-motorisch beginnend (typisch, atypisch, myoklonisch, Lidmyoklonien)
  • unbekannt beginnend (wenn Beginn unbeobachtet oder von Patient*in nicht erinnerlich)
    • Einteilung bzgl. Motorik
      • motorisch beginnend (tonisch-klonisch, epileptische Spasmen)
      • nicht-motorisch beginnend (Innehalten)

Diagnostik

  • Diagnosekriterien für Epilepsie gemäß ILAE
    • min. zwei unprovozierte Anfälle im Abstand von mehr als 24 Stunden
    • ein unprovozierter Anfall und eine Wahrscheinlichkeit für weitere Anfälle, die dem allgemeinen Rezidivrisiko nach zwei unprovozierten Anfällen (min. 60 %) innerhalb der nächsten 10 Jahre entspricht
    • Diagnose eines Epilepsiesyndroms
  • häufige Komorbiditäten wie psychiatrische Erkrankungen (Angststörung, Depression) und nicht selten kognitive Einbußen
  • Definition von akut-symptomatischen Anfällen unterschiedlicher Ätiologie
    • systemische Störungen und Erkrankungen
      • metabolische Störungen (z.B. Glukose < 36 mg/dl, Natrium < 115 mmol/l): innerhalb von 24 h nach Beginn
      • Alkoholentzug: innerhalb von 7–48 h nach Beginn Karenz
      • Substanzintoxikation (z.B. Kokain): während der Wirkdauer
    • akute Hirnschädigungen
      • zerebrovaskuläre Ereignisse, Schädel-Hirn-Traumata, ZNS-Operationen, globale Hypoxie: innerhalb von 7 Tagen
      • ZNS-Infektion, Autoimmun-Enzephalitis: während akuter Phase
  • CAVE: Isoliertes Fieber (> 38,5°C rektal) unabhängig von ZNS-Infektionen gilt bei Kindern als potenzielle Ursache eines akut-symptomatischen Anfalls („Fieberkrampf“)

weitere Empfehlungen

  • klinische Zeichen, wie tonische Haltung und Myoklonien der Extremitäten, offene vs. geschlossene Augen und Dauer der postiktalen Desorientiertheit neben weiteren Aspekten (z.B. Auslösefaktoren) zur differenzialdiagnostischen Einordnung von Anfällen berücksichtigen
  • neben ausführlicher Eigenanamnese Fremdanamnese zur differenzialdiagnostischen Einordnung der Anfälle erheben
  • wenn diagnostische Abgrenzung klinisch nicht sicher ist, zeitnah nach Ereignis und erneut nach 24 – 48 h Kreatinkinase- & Serum-Laktat-Bestimmung
  • zur Differenzierung von bilateralen oder generalisierten tonisch-klonischen Anfällen von Psychogene nicht-epileptische Anfälle (PNEA) Bestimmung von Prolaktin im Serum 10 – 20 min erwägen
  • zeitnah nach erstmaligem Anfall zerebrale Bildgebung (MRT wenige Tage nach erstem Anfall)
  • cCT nach Anfall mit Sturz sowie prolongierter Bewusstseinsstörung, neuem fokal-neurologischen Defizit und/oder Risikofaktoren für intrakranielle Traumafolgen

relevante Differenzialdiagnosen

  • Synkopen
    • neurokardiogene Synkopen
    • Hyperventilationssynkopen
    • zwanghaftes Valsalva-Manöver
    • neurologische Synkopen (z.B. Chiari-Malformation, Hyperekplexie oder paroxysmale extreme Schmerzstörung)
    • orthostatische Intoleranz/posturales orthostatische Tachykardiesyndrom (POTS)
    • Long-QT-Syndrom, weitere kardiale Synkopen
  • Verhaltensstörungen, geistige & psychiatrische Störungen
    • Panikattacken
    • dissoziative Zustände
    • Halluzinationen bei psychiatrischen Störungen
    • psychogene nicht-epileptische Anfälle (PNEA)
  • schlafbezogene Erkrankungen
    • hypnagoge Myoklonien (Einschlafmyoklonien)
    • Non-REM-Parasomnien (z.B. Schlafwandeln)
    • REM-Schlaf-Verhaltensstörung
    • periodische Beinbewegungen (PLMS)
    • Narkolepsie-Kataplexie
  • paroxysmale Bewegungsstörungen
    • Tics
    • Stereotypien
    • paroxysmale kinesiogene Dyskinesie
    • paroxysmale nicht-kinesiogene Dyskinesie
    • paroxysmale belastungsinduzierte Dyskinesie
    • benigner paroxysmaler tonischer Blick nach oben
    • episodische Ataxien
    • Hyperekplexie
  • migräneassoziierte Erkrankungen
    • Migräne mit visueller Aura
    • familiäre hemiplegische Migräne
  • andere Ereignisse
    • gutartiger paroxysmaler Torticollis
    • erhöhter intrakranieller Druck

Therapie

  • bei einzelnem epileptischen Anfall Benzodiazepin oder klassisches Anfallssuppressivum nicht iktal und nicht postiktal applizieren
  • bei Serie epileptischer Anfälle nach dem dritten Anfall innerhalb eines Tages anfallssuppressives Notfallmedikament geben (CAVE: bei Patient*innen mit Neigung zu Anfallsserien Gabe schon nach erstem Anfall erwägen)
  • bei epileptischem Anfall von > 5 min Dauer (Status epilepticus) anfallssuppressives Notfallmedikament geben
    • 4 – 8 mg Lorazepam als Mittel der 1. Wahl
    • alternativ 1 – 2 mg Clonazepam oder 10 – 20 mg Diazepam i.v.
  • falls i.v.-Zugang nicht möglich, Gabe von Midazolam bukkal, intramuskulär oder intranasal (jeweils 10 mg)
  • bei Anfallsserien in Abhängigkeit von individueller Situation Einsatz der gleichen Substanzen und Applikationswege wie beim Status epilepticus (ggf. 1 oder 2,5 mg Lorazepam s.l. erwägen)
  • keine rektale Diazepam-Gabe wegen Eingriffs in die Intimsphäre der Patient*innen, sofern andere genannte Alternativen verfügbar bzw. möglich
  • nach akut-symptomatischen Anfall im Rahmen des Alkoholentzugssyndroms Gabe von 2 mg i.v. Lorazepam oder ein alternatives Benzodiazepin
  • niedrigschwellige unfallchirurgische Vorstellung nach bilateralen oder generalisierten tonisch-klonischen Anfällen und weiteren anamnestischen Angaben wie Stürzen oder Schmerzen, v.a. im Bereich der Wirbelsäule, der Hüfte und der Extremitäten und der Schulter

Einweisungsindikationen

  • erster epileptischer Anfall
  • Anfall, welcher von sonstigen Manifestationen in Serie abweicht
  • Status epilepticus
  • Anfall bei bisher unbekannter Semiologie
  • bei Komplikationen von fokal zu bilateralen oder generalisierten tonisch-klonischen Anfällen wie äußeren Verletzungen oder ungewöhnlichen Schmerzen
Published inLeitlinien kompakt

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