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„Kinderschutzleitlinie“ der DGKJ

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 05.02.2019
Ablaufdatum: 31.01.2024
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027-069.html

Definitionen

  • Kinderwohlgefährdung
    • gegenwärtige, in solchen Maß vorhandene Gefahr, die bei weiterer Entwicklung der Dinge erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (BGB § 1666)
  • emotionale Misshandlung
    • Entwertung des Kindes oder Jugendlichen durch negative Einstellung (z.B. grobe, herabsetzende Sprache; inadäquate Strafen; unrealistische Anforderungen)
    • Instrumentalisierung der Kinder und Jugendlichen in elterlichen Konflikten
    • Vermitteln von Schuldgefühlen an Kinder oder Jugendliche
    • Verhinderung adäquater Entwicklungsmöglichkeiten
  • emotionale Vernachlässigung
    • Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit
    • Bedürfnis nach Akzeptanz und Selbstwertgefühl
    • Bedürfnis nach altersgemäßer Autonomie und Selbständigkeit
  • körperliche Misshandlung
    • alle Handlungen von Eltern oder anderen Bezugspersonen, die durch Anwendung von körperlichem Zwang bzw. Gewalt vorhersehbar zu erheblichen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen des Kindes und seiner Entwicklung führen oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen bergen
  • körperliche Vernachlässigung
    • „Versagen“, bzw. Unterlassen , für die minimal-notwendige Befriedigung physischer Bedürfnisse des Kindes (Nahrung, Flüssigkeit, Unterkunft, Kleidung, Schutz vor Gefahren oder Schaden) zu sorgen
  • sexueller Missbrauch/sexuelle Gewalt
    • jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können

allgemeines Maßnahmen, Anamnese und Diagnostik

  • Wünsche der Kinder in Bezug auf eine Behandlung, Unterbringung, polizeiliche Anzeige und darauf, welche nächsten Schritte während des Kinderschutzverfahrens auftreten, äußern lassen und respektieren
    • falls Wünschen oder Forderungen der Kinder und Jugendlichen im nicht nachgekommen werden kann, Gründe dafür verständlich erläutern
  • Kriterien zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit
    • Art, Bedeutung, Tragweite und Risiken medizinischer Maßnahmen verstehen (Einsichtsfähigkeit)
    • Nutzen und Risiken medizinischer Maßnahmen abwägen und eine willensbasierte, eigenverantwortliche Entscheidung treffen (= Urteilsfähigkeit)
    • eigenes Handeln entsprechend dieser Einsicht zu steuern (= Steuerungsfähigkeit)
  • bei Verdacht auf Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder –vernachlässigung bei stationärer Abklärung im Krankenhaus multiprofessionell vorgehen, um Kindeswohlgefährdung zu bestätigen oder auszuschließen
  • bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nach dem Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) vorgehen
  • alters-/entwicklungsgerechte ausführliche Anamnese des Kindes bei typischen Auffälligkeiten in Verhalten und Entwicklung, auch in Bezug auf emotionale Vernachlässigung/Misshandlung, sowie bei bei Verdacht auf körperliche Misshandlung, unter anderem nach Auftreten unklarer Hämatome oder weiterer Verletzungen
  • bei Kindern und Jugendlichen mit beobachteten Verhaltens- und/oder Entwicklungsauffälligkeiten Personensorgeberechtigte und Bezugspersonen darauf ansprechen und fragen:
    • Welche Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten haben Sie beobachtet?
    • Wie schätzen Sie das Wohlbefinden Ihres Kindes ein?
    • Wie reagieren Sie auf Auffälligkeiten?
  • Neugeborene, die in der Schwangerschaft dauerhaft Opioiden ausgesetzt waren, stationär aufnehmen und auf neonatales Drogenentzugssyndrom prüfen, unabhängig davon, welches Opioid in welcher Dosierung von der Mutter eingenommen wurde
  • bei gesicherter Suchterkrankung der Personensorgeberechtigten mögliche Anhaltspunkte wie Risikofaktoren (z.B. Häusliche Gewalt, Delinquenz, Armut oder fehlende elterliche Sorge) und/oder Komorbiditäten (z.B. weitere psychische Erkrankungen) erfassen, dokumentieren und bewerten
  • bei Vorstellung Erwachsener in Notaufnahmen aufgrund von häuslicher Gewalt und/oder eines Suizidversuches oder einer psychischen Dekompensation und/oder einer Substanzintoxikation fragen, ob der/die Patient*in Verantwortung für eine/einen Minderjährige*n trägt, um mögliche Kindeswohlgefährdung zu erkennen
  • bei fehlendem oder unklarem Entstehungsmechanismus der Hämatome Eigen- und Familienanamnese in Bezug auf mögliche Gerinnungsstörungen erheben
  • misshandlungsverdächtige Hämatome fotografieren/dokumentieren
    • Anzahl, Größe und Verteilungsmuster der Hämatome (Übersicht, Ausschnitt und ggf. Detailfotografie unter Zuhilfenahme eines fotomakrografischen Winkellineals)
    • Mobilität des Kindes (prä-, frühmobil oder mobil)
    • Angaben zu besonderen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen
  • alle Kinder und Jugendlichen mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch geschlechts- und entwicklungsspezifisch untersuchen; keine Untersuchung gegen den Willen des/der Kindes/Jugendlichen durchgeführen
    • neben Ganzkörperuntersuchung und ausführlichen Anamnese
    • anogenitale bzw. kindergynäkologische Untersuchung
    • Untersuchung auf sexuell übertragbare Erreger
    • Schwangerschaftstest (Mädchen im gebärfähigen Alter)
    • Spurensuche (DNA, Samen, Sperma)
    • forensisches Interview (4 − 18 Jahre)
    • Feststellung des psychischen Status
  • bei Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch mit körperlich-sexuellem Übergriff und schwerwiegenden akuten Verletzung unverzüglich Trauma des Bauchraumes und des Beckens ausschließen

Tipps für Fachkräfte im Gespräch mit Kindern und Jugendlichen

  • Kinder und Jugendliche ernst nehmen und ihren Äußerungen glauben
  • Kindern und Jugendlichen zeigen, dass Sie ihre Äußerungen verstehen und aufmerksam zuhören
  • Kindern und Jugendlichen beim Sprechen Zeit lassen und nicht unterbrechen
  • Kinder und Jugendliche ihre eigenen Worte verwenden lassen
  • Kinder und Jugendliche ermuntern, dass es richtig ist, darüber zu sprechen
  • Kinder und Jugendlichen sagen, dass sie nicht schuld sind
  • Nachfragen, wenn etwas nicht richtig verstanden wurde, und lassen Sie es sich vom Kind erklären
  • Versprechen Sie nichts, was Sie nicht halten können!
  • Kindern oder Jugendlichen sagen, was Sie als Nächstes tun wollen

Symptome

  • Auffälligkeiten im Sozialverhalten, psychische Auffälligkeiten und/oder Störungen von Kindern und Jugendlichen können Hinweise auf emotionale Vernachlässigung/Misshandlung sein (z.B. verminderte schulische und kognitive Leistungsfähigkeit, Gedeihstörungen, geistige und körperliche Entwicklungsverzögerung)
  • misshandlungsverdächtige Hämatome bei Kindern
    • geformte Hämatome
    • Hämatome, die in Clustern auftreten
    • Hämatome, die in Kombination mit Frakturen, Verbrennungen, intrakraniellen Blutungen oder unklaren Verletzungen auftreten
    • jedes Hämatom bei einem prämobilen Säugling
    • Hämatome im Bereich der Ohren, des Halses, der Hände, der Waden und der Genitalien in allen Altersgruppen
    • Hämatome im Bereich des vorderen Thorax, des Abdomens und des Gesäßes bei mobilen Säuglingen und Kleinkindern
    • jedes Hämatom bei einem prämobilen Säugling
  • bei Kombination von zwei oder mehr der folgenden Verletzungen Verdacht auf misshandlungsbedingte Schädelhirnverletzungen nachgehen
    • kein akzidentelles Trauma und zweifelhafte Anamnese
    • subdurale Blutung
    • cerebrale Diffusionsstörung
    • Schädelfraktur mit oder ohne intrakranielle Verletzung
    • Rippenfraktur/en
    • (metaphysäre) Fraktur/en der langen Röhrenknochen
    • cerebraler Krampfanfall
    • Apnoe
  • zu klärende Fragen bei unklaren thermischen Verletzungen
    • Liegen weitere Verletzungen (z.B. Frakturen) vor?
    • Sind vorherige Verletzungen oder Misshandlungen bekannt?
    • Liegt Häusliche Gewalt vor?
    • Werden Geschwister für die Verletzung verantwortlich gemacht?
wahrscheinlichmöglichunwahrscheinlich
MechanismusImmersion– Unfall durch verschüttete
Flüssigkeit
– Unfall durch fließendes
Wasser
Agensheißes Leitungswasser– heiße Flüssigkeit, die nicht
Leitungswasser ist
Muster– abgrenzbare obere Linie
– symmetrische Verbrühung
(Extremitäten)
– gleichmäßige Verbrühungstiefe
– Schonung der Hautfalten
– Aussparung des zentralen Gesäßes
– unregelmäßige Begrenzung
und Tiefe
– fehlendes Muster
Verteilung– isolierte Verbrühung von Gesäß/Perineum
– +/- untere Extremitäten
– isolierte Verbrühung der unteren Extremitäten
– Handschuh- und Strumpfverteilung oder auch nur rein ein Glied
betreffend
– asymmetrische Beteiligung
der unteren Extremitäten
– Gesicht, Hals und Oberkörper betreffend
klinische Zeichen. weitere Verletzung, unabhängig von der Verbrühung/Verbrennung
– klinische Zeichen stimmen mit
den Angaben nicht überein
– zusätzlich auftretende Frakturen
– vorherige Verbrennung/Verbrühung
– körperliche Vernachlässigung
– widersprüchliche Geschichte im
Verlauf
anamnetische Zeichen– passives, introvertiertes,
ängstliches Kind
– vorherige Misshandlung
– häusliche Gewalt
– zahlreiche vorherige Verletzungen und Unfälle
– Geschwister werden für die
Verbrühung verantwortlich gemacht
– Anzeichen für Vernachlässigung
– unterschiedliche Angaben
– Mangel an elterlicher Sorge
– Vorstellung des Kindes erfolgt durch einen Erwachsenen ohne
Verwandtschaftsgrad
– Kind ist dem Sozialen Dienst bekannt

zusätzliche Dokumente als Handreichungen

Published inLeitlinien kompakt

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