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Leitlinie „Medikamentenbezogene Störungen“ der DGPPN

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 01.08.2020
Ablaufdatum: 31.07.2025
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/038-025

Definitionen

Abhängigkeit

  • starker innerer Drang oder Craving, Substanzen zu konsumieren
  • eingeschränkte Fähigkeit zur Kontrolle des Konsums
  • Priorität des Konsums gegenüber anderen Tätigkeiten
  • anhaltender Konsum trotz eingetretener Schädigung oder negativer Folgen
  • Toleranz gegenüber den Auswirkungen der Substanz
  • Entzugssymptome nach Beendigung oder Verringerung des Konsums oder der anhaltende Konsum, um Entzugssymptome zu verhindern oder zu lindern

nicht bestimmungsgemäßer Konsum

  • „off-label use“: bezeichnet Einsatz eines Medikamentes außerhalb der zugelassenen Indikation nach Aufklärung und Verordnung durch einen Arzt bzw. ärztlich verordneter Dosisanpassungen unabhängig der zugelassenen Dosierung aufgrund individueller Gegebenheiten (z.B. bei beschleunigtem enzymatischen Abbau etc.).
  • „Medikationsfehler“: liegt vor, wenn vom vorgegebenen Anwendungsschema – mit dem Risiko eines Schadens für den Patienten – abgewichen wird
  • „Fehlgebrauch“: tritt ein, wenn ein Medikament anders eingesetzt wird (in Dosis oder Applikationsart), als es verordnet wurde; Fehlgebrauch kann in „unabsichtlich“ (z.B. Missverständnis in Bezug auf die Umsetzung einer verordneten Anwendung) und „absichtlich“ (z.B. für eine primär nicht intendierte Wirkung, wie Schlafinduktion durch Opioide) unterschieden werden

Missbrauch

  • übermäßiger, exzessiver, nicht bestimmungsgemäßer Konsum von Substanzen mit Gesundheitsschäden in klinisch bedeutsamer Weise
  • es fehlt entweder an medizinischer Indikation oder vorgegebene Rahmenbedingungen für medizinischen Einsatz werden ignoriert
  • Ziel des Konsumenten ist häufig die Provokation psychotroper Effekte oder die Beseitigung von Entzugssymptomen

schädlicher Gebrauch

  • Konsummuster, das lt. Definition des ICD-10 physische oder psychische Gesundheitsschäden, jedoch keine Abhängigkeit hervorruft
  • ICD-11 ergänzt dies dahingehend, dass Konsummuster während eines Monats kontinuierlich bzw. innerhalb eines Jahres episodisch aufgetreten muss und zu tatsächlichem Schaden der psychischen oder physischen Gesundheit der einnehmenden Person oder betroffener Dritter geführt haben

Sucht

  • im allgemeinsprachlichen Gebrauch Synonym für Abhängigkeit mit der Konsequenz der periodischen oder chronischen Intoxikation

Abhängigkeitssyndrom

  • gekennzeichnet durch
    • starken Konsumdrang
    • Kontrollverlust
    • Toleranzentwicklung
    • Auftreten von körperlichen Entzugssymptomen
    • Vernachlässigung anderer Interessen (Verpflichtungen) zugunsten des Substanzkonsums
    • anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen

akute Intoxikation

  • Substanzkonsum mit dadurch unmittelbar begründeten schweren psychischen, neurologischen oder körperlichen Folgeerscheinungen (Verwirrtheitszustände, Bewusstseinsstörungen, kardiale oder metabolische Symptome, zerebrale Konsequenzen)

Entzugssyndrom

  • Zustand, der bei Absetzen oder Reduktion des Substanzkonsums auftritt und mit substanzspezifischen psychovegetativen Symptomen einhergeht
  • Entzugssyndrom geht zurück, sobald dem Körper wieder die ursprüngliche oder eine ähnliche Substanz zugeführt wird
  • Entzugssyndrom ist häufig selbstlimitierend, tritt wenige Stunden nach der letzten Einnahme auf und kann über Tage bis Wochen anhalten

körperliche Abhängigkeit

  • körperliche Abhängigkeit wird mit Entzugssymptom gleichgesetzt, das sich dann ergibt, wenn die Dosis verringert oder im Verlauf eines Abstinenzversuchs weggelassen wird

psychische Abhängigkeit

  • Ausdruck des Kontrollverlustes, des zwanghaften Konsums und eines starken Cravings
  • Abhängigkeitssyndrom außerhalb der Dimensionen, die mit dem körperlichen Abhängigkeitssyndrom verbunden sind (Entzugssymptomatik, Toleranzentwicklung)
  • geht einher mit der individuellen funktionellen Bedeutung des Konsums: Aversive Zustände werden mit Hilfe des Drogenkonsums überwunden, ein Verzicht auf die Substanz fällt schwer, da antizipierte Wirkeffekte ausbleiben bzw. aversive Effekte erwartet werden
  • psychische Abhängigkeit entsteht im Gegensatz zur körperlichen Abhängigkeit vor allem bei einer selbst intendierten Drogeneinnahme, weniger bei einer passiven Verabreichung von Medikamenten

Diagnostik

  • fließender Übergang zwischen bestimmungsgemäßem Gebrauch, Fehlgebrauch (Synonym: nicht-bestimmungsgemäßer Gebrauch), missbräuchlichem Gebrauch und abhängigem („süchtigen“) Gebrauch von aus medizinischen Gründen verordneten Arzneimitteln
  • bei Patient*innen mit medikamentenbezogenen Störungen sollen bestehende psychische und somatische Komorbiditäten erhoben werden

spezifische Substanzen

Opiate und Opioide

Pharmakologie

  • aus dem Saft der Mohnkapsel der Pflanze Papaver somniferum isoliert und zunächst als schlafinduzierende Substanz und Allheilmittel eingesetzt
  • zunehmend gewannen und haben die Opiate seitdem für die Schmerztherapie eine enorm wichtige Bedeutung
  • Opiate sind Alkaloide des Opiums mit morphinartiger Struktur (z. B. Morphin, Kodein), die über Opioidrezeptoren peripher und zentral im Gehirn wirken
  • Opioide dagegen sind chemisch heterogen und sind halb- und vollsynthetische Substanzen hergestellt
  • hierzu gehören von den höher potenten Opioiden zum Beispiel Oxycodon, Fentanyl, Buprenorphin oder Methadon sowie von den niederpotenten Opioiden zum Beispiel Tilidin und Tramadol

Wirkung

  • Wirkspektrum von Opiaten und Opioiden ist komplex und heterogen
  • wichtigste Zielwirkung für die Klinik ist die der Analgesie
  • binden unterschiedlich stark an verschiedenen Opioidrezeptoren (µ, κ, – δ), wobei sie teils aktivierend, aber auch teils hemmend an den Untertypen der Opioidrezeptoren wirken können
  • Opioidrezeptoren (µ, κ, – δ) sind Bindungsstellen für die peripheren und zentralen körpereigenen Opioidsysteme, die Neuropeptide wie die Endorphine, die Enkephaline und die Dynorphine
μ-Rezeptor
  • Analgesie (peripher und zentral)
  • spastische Lähmung des Darms
  • antitussiv
  • vegetativ: Atemdepression, Hypotonie, Bradykardie, Miosis
  • Immunmodulator, meist immunsuppressiv
  • Stimmungsverbesserung, Euphorie
  • Toleranzentwicklungen ggü. einzelnen Effekten
  • Triggerung biologischer synaptischer Plastizitätsprozesse
δ-Rezeptoren
  • Analgesie (peripher und zentral)
  • Anxiolyse
  • Atemdepression (peripher und zentral)
  • Konvulsion
  • Toleranzentwicklung gegenüber einzelnen Effekten
  • Triggerung biologischer synaptischer Plastizitätsprozesse
κ-Rezeptoren
  • Analgesie (peripher und zentral)
  • Atemdepression u. vegetat. Sympt. s.o.
  • Dysphorie
  • Diurese
  • Immunmodulatorisch (peripher)
  • Toleranzentwicklung gegenüber einzelnen Effekten
  • Triggerung biologischer synaptischer Plastizitätsprozesse

Opioidentzugssyndrom

  • tritt bei Absetzen oder Reduzierung der Opioiddosis auf und ist auch mit Schmerzen, aber in der Regel dann auch mit anderen klinischen Symptomen verbunden
    • Rhinorrhoe
    • Übelkeit, Erbrechen
    • Gähnen
    • Piloerektion
    • Tachykardie
    • Pupillenerweiterung
    • Tremor
    • Muskelschmerzen
    • Reizbarkeit
    • Nervosität
    • Magenkrämpfe, Diarrhoen
    • Depressionen
    • Craving
  • nach regelmäßiger Einnahme über mehrere Wochen von kurz wirksamen Opioiden (nach langwirksamen Opioiden) können die ersten Entzugssymptome auftreten, wie zum Beispiel Tränensekretion, Schwitzen, Rhinorrhoe, Gähnen, Tremor, Schlaflosigkeit, Unruhe, Muskel- und Gelenkschmerzen, Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen nach 8 – 24 (ab 36) Stunden, das voll entwickelte Entzugssyndrom mit Tachykardie, Hyperoder Hypotension, Dehydratation, Tachypnoe, Fieber, Übelkeit und Erbrechen nach 24 – 72 (72 – 96) Stunden

Therapie

  • Überwachung für eine gewisse Zeit bei schweren Intoxikationen, bei denen die Patientinnen zum Beispiel nicht ansprechbar sind und/oder abgeschwächte Atmung aufweisen
  • Diagnostik (z.B. EKG etc.) und Therapie, wie auch zum Beispiel der Einsatz des Opioidantagonisten Naloxon etc. können der AWMF Sk2 -Leitlinie Notfallpsychiatrie entnommen werden
  • liegt ein Abhängigkeitssyndrom und/oder gravierende psychische Erkrankungen vor, sollte den Patient*innen ein qualifizierter Entzug in einer suchtmedizinischen, psychiatrischen Einrichtung angeboten werden

Benzodiazepine und verwandte Substanzen

Pharmakologie

  • entfalten ihre pharmakologische Wirkung über den GABAA-Rezeptor
  • GABA (gamma-Aminobuttersäure) ist der inhibitorische Neurotransmitter mit der größten Verbreitung im zentralen Nervensystem (ZNS)
  • GABAA-Rezeptor ist ein extrem schnell reagierender, ligandengesteuerter Ionenkanal
  • wenn GABA bindet, öffnet sich der Chloridionenkanal und durch den Einstrom von Chloridionen in das Zellinnere wird eine Hyperpolarisation der Membran erzeugt, wodurch die Erregbarkeit vermindert wird (inhibitorische Wirkung)
  • GABAA-Rezeptor enthält aber auch Bindungsstellen für andere Liganden, wie Ethanol, Barbiturate, Clomethiazol und Anästhetika (zum Beispiel Propofol oder Etomidate)
  • GABAA-Rezeptoren setzt sich nur aus α-, β- und γ-Untereinheiten zusammen
    • für die BZD-Wirkung spielt β-Isoform keine wesentliche Rolle, wohl aber die α-Isoform; alle bisher beobachtbaren BZD-Effekte sind hauptsächlich auf diese zurückzuführen
  • verstärken die GABAerge Wirkung und entfalten darüber ihre beruhigende (anxiolytische-) bis dämpfende (hypnotische-) Wirkung
    • klinische Wirkungen: anxiolytisch, muskelrelaxierend, antikonvulsiv, sedativ, hypnotisch bis hin zu amnestisch
    • BZD-Wirkung ist nicht substanzspezifisch, sondern zellund synapsenspezifisch, sie hängt von den regionalen Unterschieden in Verteilung und Dichte der unterschiedlichen Kombinationen der verschiedenen Rezeptor-Untereinheiten sowie der GABA-Konzentration im synaptischen Spalt ab
    • Z-Substanzen (in Deutschland zugelassen sind Zolpidem und Zopiclon) sind chemisch betrachtet keine Benzodiazepine; binden aber an vergleichbare Bindungsstellen in GABAA-Rezeptoren
  • zu beachten ist die Gefahr der Atemdepression bei einer starken Kumulation beziehungsweise Überdosierung von BZD (als spezifisches Antidot wird Flumazenil eingesetzt)
  • Absetzphänomene oder Rebound-Effekt: Gegenreaktion des Organismus zur Neujustierung des Gleichgewichtszustandes („minor symptoms“ zum Beispiel im Sinne von psychomotorischer Unruhe, Schlaflosigkeit, Ängstlichkeit)
  • Entzugssymptome: „eigentliche“ Entzugssymptome, die – anders als die Absetzphänomene – eine erhebliche Eigendynamik entfalten und sich zu schweren und bedrohlichen Zuständen („major symptoms“ zum Beispiel Im Sinne von Krampfanfällen, schwerer Depression, Delir oder Psychosen) entwickeln können
Published inIm Notfall PsychiatrieLeitlinien kompakt

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