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Leitlinie „Müdigkeit“ der DEGAM

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 23.12.2022
Ablaufdatum: 22.12.2027
Quelle/Quelllink: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/053-002

Definition

  • Müdigkeit stellt eine universelle und subjektive Empfindung darf
  • oft auch als Schlappheit, Mangel an Energie, Erschöpfung (Fatigue), Ermüdung, frühe Ermüdbarkeit, (Tages-)Schläfrigkeit, Einschlafneigung bezeichnet
  • qualitative Komponenten der Müdigkeit
    • emotionale (Unlust, Motivationsmangel, enge Verbindung zu Traurigkeit bzw. niedergedrückter Stimmung, verminderte affektive Schwingungsfähigkeit)
    • kognitive (verminderte geistige Aktivität bzw. Leistungsfähigkeit, z. B. „brain fog“)
    • Verhaltensaspekte („Leistungsknick“)
    • körperliche Aspekte (z. B. muskuläre Schwäche)
  • ca. 31 % aller Menschen > 16 Jahre geben an, manchmal oder häufig Symptome von Ermüdung aufzuweisen

Ursachen & Pathogenese

seelische/psychosoziale Ursachen

  • v.a. Depressionen (ca. 60 % der Betroffenen), Angststörungen und somatoforme Störungen (ca. 75 % der Betroffenen)
  • beeinflussende Faktoren (sozio-ökonomische Gegebenheiten) wie niedriges Einkommen, geringerer Bildungsgrad, höherer BMI, deutlich höherer Tabakkonsum und arbeitsbedingter Stress

Malignome

  • sehr seltenes Symptom bei Malignomen
  • Fatigue (58 %) und mentale Müdigkeit (51 %) sind die häufigsten Symptome 12 Monate vor Diagnose eines Glioms
  • Symptome
    • zunehmende Kopfschmerzen
    • Hirndruckzeichen
    • Verhaltensänderungen
    • neurologische Ausfälle

Anämie/Eisenmangel

  • keine signifikante Beziehung zw. Müdigkeit und Anämie
  • Untersuchungen ergaben in ca. 3 % der Fälle eine Anämie als Ursache für die Müdigkeit

endokrine Ursachen

  • vereinzelt sind Schilddrüsenfunktionsstörungen und diabetische Erkrankungen ursächlich

Mangel an Kalium

  • kein Zusammenhang von Müdigkeit und dem Kaliumspiegel festgestellt

Lebererkrankungen

  • Prävalenz von 50 – 80 % bei Patient*innen mit Lebererkrankungen im Endstadium
  • unklare Genese, ob die Lebererkrankungen oder die eingesetzten Medikamente ursächlich sind

Zöliakie & andere ernährungspezifische Ursachen

  • 2 – und3 % der Patienten und Patientinnen mit Müdigkeit leiden unter Zöliakie
  • einige Studien zeigten Zusammenhang zwischen Müdigkeit und spezifischen Ernährungsformen (z.B. langandauernde strenge vegane Ernährung)

Infekte und postinfektiöse Ursachen

  • 47 % der Patient:innen mit akuter EBV-IM (Epstein-Barr)
    • postinfektiösen ME/CFS nach 6 Monaten bei 9 – 22 %
  • 20 % der Patient:innen mit anderen akuten Atemwegsinfektionen leiden unter Müdigkeit
    • postinfektiösen ME/CFS nach 6 Monaten bei 0 – 6 %
  • auch weitere infektiöse Erreger wie Influenza, Ross-River-Virus, Dengue-Fieber, Q-Fieber, SARS-CoV-1, SARS-CoV-2 etc. möglich
    • führendes Symptom bei Long-COVID ist die Fatigue
  • Lyme-Borreliose nicht häufig mit Müdigkeit assoziiert

Z.n. ITS-Behandlung

  • 14 % der Patient*innen, welche auf einer ITS behandelt wurden, leiden unter Müdigkeit
  • Schmerz stellt häufige Komorbidität dar

chron. somatische Erkrankungen

  • häufiges und sehr belastendes Symptom bei bereits länger bestehenden und bekannten Erkrankungen wie
    • Herzinsuffizienz
    • Multiple Sklerose
    • parkinsonscher Krankheit
    • rheumatoider Arthritis
    • Sarkoidose
    • chronischer Niereninsuffizienz
    • Nykturie mit Tagesschläfrigkeit bei Prostatahyperplasie
  • Müdigkeit nicht (ausschließlich) durch Krankheit selbst verursacht, sondern oft v.a. durch
    • erschöpfte psychosoziale Kompensationsmöglichkeiten
    • Schmerz
    • gestörten Schlaf
    • Folgen körperlicher Inaktivität (Dekonditionierung)
    • Wechselwirkungen untereinander
  • 50 % der chronisch Kranken waren in den letzten zwei Wochen müde/erschöpft

arterielle Hypotonie

  • widersprüchliche Forschungsergebnisse zum Zusammenhang
  • ggf. ist die Müdigkeit nicht Symptom der Hypotonie, sondern die Müdigkeit führt zu verminderter körperlicher Aktivität und damit kurzfristig zur Hypotonie

Schlafstörungen als eigene Entität

  • alle Schlafstörungen können Tagesmüdigkeit verursachen
  • Müdigkeit und Schlafstörungen haben häufig eine gemeinsame Ursache
  • Prävalenz der Tagesmüdigkeit von 20 – 26 % und Prävalenz des nicht erholsamen Schlafes von 15,5 %
  • Schlafdefizit mit Tagesmüdigkeit korreliert mit Schichtarbeit
  • obstruktives Schlafapnoesyndrom (OSA)
    • Prävalenz für leichtes OSA: 46 %
    • Prävalenz für mittelgradige OSA: 21 %
  • Narkolepsie
    • seltene, aber schwerwiegende spezifische Störung der Schlaf-Wach-Regulation
    • Hauptsymptom: exzessive Tagesschläfrigkeit mit ungewolltem Einschlafen am Tage
    • zusätzliche Symptome möglich, wie z.B.
      • Kataplexien (affektiv ausgelöster Muskeltonusverlust ohne Bewusstlosigkeit)
      • fragmentierter Schlaf
      • Halluzinationen beim Einschlafen oder Aufwachen
      • Schlaflähmungen

Bewegungsmangel & Übergewicht

  • Untersuchungen deuten auf Zusammenhang von Bewegungsmangel und Müdigkeit hin
  • Übergewicht führt unabhängig vom Auftreten einer OSA zu Tagesmüdigkeit

Medikamente

  • Benzodiazepine
  • Antidepressiva mit unterschiedlicher Ausprägung je nach Wirksubstanz
  • Neuroleptika
    • Olanzapin, Clozapin & Quetiapin verursachen bei bis zu 26 – 39 % aller Patienten Müdigkeit
  • Antihistaminika (v.a. bei Antihistaminika der 1. Generation)
  • zentral wirksame Substanzen wie Z-Drugs (z.B. Zopiclon), Tranquillizer & Anxiolytika
  • Antihypertensiva
    • v.a. zentral wirksame Mittel wie Clonidin, Beta-Blocker
  • Migränemittel wie Triptane, Dimenhydrinat, Topiramat
  • Opiate
  • Parkinsonmittel
  • Antiarrhythmika wie Flecainid, Amiodaron, Sotalol

Sucht

  • alle suchterzeugenden Substanzen, v.a. Alkohol, führen direkt oder im Entzugsstadium zu Müdigkeit

Umwelteinflüsse

  • Lärmbelastung
  • arbeitsplatzbezogene Ursachen wie Vibrationen und extreme Temperaturen
  • Amalgamzahnfüllungen
  • Kohlenmonoxid
  • Kohlenwasserstoffe wie Klebstoffe, Holzschutzmittel, Lösungsmittel, Reinigungsmittel, Insektizide etc.
  • Sick-Building-Syndrom
    • unspezifische Symptome (der Schleimhäute, der oberen und unteren Atemwege, der Haut und des Zentralnervensystems (u. a. Müdigkeit))
    • bei Aufenthalt in einem definierten Gebäude(-teil)

weitere seltene, ggf. ursächliche Erkrankungen

  • addison‘sche Krankheit
    • Hyperpigmentierung von Haut und Schleimhäuten
    • gastrointestinale Beschwerden
    • Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust
    • Hypotonie
    • Hypoglykämie, Hyponatriämie, Hyperkaliämie
  • Conn-Syndrom
    • Muskelschwäche und Erschöpfungsneigung
    • Polyurie, Polydipsie
    • diastolische Hypertonie (keine Ödeme)
    • substitutionsrefraktäre Hypokaliämie, Hypernatriämie
    • verminderte Konzentrationsfähigkeit der Nieren
  • Cushing- Syndrom (meist iatrogen)
    • Adipositas
    • Hypertonie
    • Osteoporose
    • Diabetes mellitus
    • Hautblutungen
    • Striae (bläulich schimmernde Dehnungsstreifen an Bauch, Brüsten, Gesäß, Oberschenkeln oder Oberarmen)
    • Muskelschwäche
    • psychische Veränderungen
  • Meulengrat‘sche Krankheit (Gilbert)
    • milder, fluktuierender Ikterus
    • vermehrt nach Fasten, Anstrengung, Infektionen, Operationen, Alkohol
  • Toxoplasmose
    • unspezifische Allgemeinsymptome mit Lymphknotenvergrößerungen (v. a. Hals)
    • mäßiges Fieber
  • Brucellose
    • Kontakt mit Tieren (Landwirtschaft, Fleisch verarbeitung usw.)
    • oft schleichend
    • Vielzahl von Beschwerden bei geringen/fehlenden Befunden
    • Osteomyelitis
    • Milzabszess
    • Harnwegs-Genital-Infektionen
  • schizophrene Psychose
    • Wahrnehmungs-, Denkstörungen
    • gestörte Kohärenz des Ausdrucks oder des Verhaltens
  • prämenstruelles Syndrom
    • vielfältige körperliche und seelische Beschwerden
    • Beginn 1 – 14 Tage vor Menstruation, dann Besserung
    • beschwerdefrei für den restlichen Zyklus

Exkurs ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis oder Enzephalopathie/Chronisches Fatigue-Syndrom)

  • Symptome bzw. Diagnosekriterien gemäß IOM (2015)
    • dauerhaft vorliegen müssen
      • substanzielle Einschränkung der Fähigkeit zu beruflichen, schulischen, sozialen oder persönlichen Aktivitäten, die länger als 6 Monate besteht und von Fatigue begleitet ist, die tiefgreifend, neu aufgetreten, also nicht lebenslang bestehend, nicht das Resultat von übermäßiger Anstrengung ist und sich durch Ruhe und Erholung nicht substanziell verbessert
      • Verschlechterung der Symptome nach körperlicher und/oder kognitiver Belastung (post-exertionelle Malaise)
      • nicht erholsamer Schlaf
    • obligat ist zusätzliche eines der folgenden Symptome
      • kognitive Einschränkungen („brain fog“; Störungen des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, der Informations- und Reizverarbeitung (Verlangsamung) und der psychomotorischen Funktion)
      • orthostatische Intoleranz (Form der Dysautonomie: in aufrechter Position treten vermehrt Symptome wie Schwindel, Benommenheit, Sehstörungen, Tachykardie, Palpitationen, Schwäche und Blässe auf; Verbesserung im Liegen)
  • Symptome bzw. Diagnosekriterien gemäß kanadischer Konsensuskriterien (Symptome müssen min. 6 Monate bei Erwachsenen und min. 3 Monate bei Kindern/Jugendlichen bestehen)
    • ein erhebliches Maß an neu aufgetretener, unerklärlicher, anhaltender oder wiederkehrender körperlicher und geistiger Erschöpfung (Fatigue), die das Aktivitätsniveau erheblich reduziert
    • Verschlechterung der Symptomatik nach leichter Anstrengung mindestens bis zum nächsten Tag (post-exertionelle Malaise=PEM)
    • Schlafstörungen oder unerholsamer Schlaf
    • Schmerzen (Muskeln, Kopf und/oder Gelenke)
    • kognitive Symptome (mindestens zwei Symptome aus einer vorgegebenen Liste)
    • zusätzlich min. ein Symptome aus zwei Kategorien erforderlich
      • autonome Manifestationen
      • neuroendokrine Manifestationen
      • immunologische Manifestation

Anamnese

  • Charakteristika des Symptoms „Müdigkeit“ (Qualität, Dauer bzw. (tages-)zeitlicher Verlauf, Ausmaß)
  • assoziierte sowie vorausgegangene Beschwerden z.B. Depression, Angst, psychosoziale Belastungen etc.
  • Müdigkeit neu/ungewohnt?
  • Beeinträchtigung durch Müdigkeit
  • Vorerkrankungen, v.a. vorausgegangene Infektionserkrankungen, Fieber
  • Schlafverhalten, insbesondere Schnarchen und Atemaussetzer im Schlaf, ungewolltes Einschlafen am Tage und (habitueller) Schlafmangel
  • Lebensstil (Verlauf des Körpergewichts, Substanzabusus/schädlichem Gebrauch wie Tabakkonsum sowie soziale, familiäre, berufliche Situation,…)
  • kardiale, respiratorische, gastrointestinale, urogenitale und ZNS-Funktionseinschränkungen
  • Hinweise auf post-exertionelle Malaise (PEM, Belastungsintoleranz)
  • Medikamente (Dauer- & Bedarfsmedikation)
  • chemische oder Lärmbelastung sowie Auftreten ähnlicher Symptome bei Personen im privaten/beruflichen Umfeld

Diagnostik

  • Schleimhaut-Status
  • Atemwegsauffälligkeiten
  • kardiale Untersuchung (Herz, Puls und Blutdruck)
  • Pathologien der Lymphknoten
  • abdominelle Untersuchung
  • orientierende neurologische Diagnostik
  • Laboruntersuchung (v.a. Blut-Glucose sowie großes Blutbild, Blutsenkung/CRP, Transaminasen oder γ-GT, TSH)
  • bei Auffälligkeiten weitergehende körperliche, labortechnische Diagnostik
  • bio-psycho-sozialer Ansatz während der gesamten Anamnestik & Diagnostik

Therapie

  • CAVE: berücksichtigen, dass häufig mehrere Erkrankungen ursächlich seien können
  • sofern Substanzabusus/schädlichem Gebrauch von z.B. Tabak, Cannabis & Alkohol bejaht werden, sollte eine (ggf. auch stationäre) Kurzintervention und ggf. Entwöhnungsbehandlung angeboten bzw. vorgeschlagen werden
Published inLeitlinien kompakt

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