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Leitlinie „Schizophrenie“ der DGPPN

veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 15.03.2019
Ablaufdatum: 31.03.2023
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-009.html

Krankheitskonzept und Ätiopathogenese

  • klinisch definierte psychische Störung mit einem typischen psychopathologischen Symptomprofil (Syndrom), unterschiedlichen klinischen Verlaufsformen mit überwiegend episodischem Verlauf, wahrscheinlich heterogenen Ursachen und pathogenetischen Mechanismen
  • Unterscheidung von Positiv- und Negativsymptomatik
    • Positivsymptome (häufig an akute Episoden gebunden)
    • Negativsymptome (häufig überdauernd)
    • andere Symptomenkomplexe wie z.B. das Desorganisationssyndrom, aber auch Dimensionen wie affektive Symptomatik oder kognitive Beeinträchtigungen (häufig überdauernd

Diagnose und Klassifikation

  • durch charakteristisches psychopathologisches Muster der Störung in Bereichen wie Wahrnehmung, Denken, IchFunktionen, Affektivität, Antrieb und Psychomotorik sowie zeitlich definierte Verlaufsmerkmale gekennzeichnet
  • einerseits episodisch auftretende, akute psychotische Zustände (gekennzeichnet durch psychopathologische Befunde wie Wahn, Halluzinationen sowie Denk- und IchStörungen) und andererseits Beeinträchtigungen mit individuell und interindividuell im Zeitverlauf variablen, remittierenden oder langfristig persistierenden, chronischen psychotischen Phänomenen, kognitiven Störungen oder Störungen von Antrieb, Affektivität und Psychomotorik

Klassifikation

  • Schizophrenie
  • schizotype Störung
  • anhaltende wahnhafte Störung
  • vorübergehende psychotische Störung
  • induzierte wahnhafte Störung
  • schizoaffektive Störung
  • andere nichtorganische psychotische Störung
  • nicht näher bezeichnete nichtorganische Psychose

Verlauf

  • ein bis zu mehrere Jahre dauerndes Vorstadium geht voraus, welches durch Störungen von Kognition, Affekt und sozialem Verhalten gekennzeichnet ist
  • nach mehr oder weniger akuter erster Krankheitsepisode mit Manifestation psychotischer Symptomatik kann es bei etwa 20 % der Betroffenen zu einer Wiederherstellung der seelischen Gesundheit (Remission) ohne späteres Rezidiv kommen
  • zwei episodische Verlaufsformen beobachtet, bei denen es zwischen einzelnen Krankheitsepisoden zu klinischer Vollremission und wiedergewonnener Funktionalität oder zu Teilremissionen mit abgeschwächter, aber persistierender Symptomatik in Form psychotischer Symptome, Störungen von Antrieb, Affektivität und Psychomotorik (Negativsymptomatik) sowie neurokognitiven Störungen und Funktionalitätsseinbußen kommt

Diagnostik

Fremdaggressivität

  • Risiko zur Fremdaggressivität bei an Schizophrenie Erkrankten ausweislich einer Meta-Analyse erhöht
  • unbehandelte psychotische Symptome im Rahmen einer Schizophrenie sowie Substanzmissbrauch und weitere Faktoren stellen wesentliche Risikofaktoren für Fremdaggressivität dar

Symptomatik

  • bei voller Symptomausprägung stehen Störungen der folgenden Funktionen im Vordergrund:
    • Konzentration und Aufmerksamkeit
    • inhaltliches und formales Denken
    • Ich-Funktionen (z.B. Gefühl der Gedankeneingebung/Gedankenausbreitung)
    • Wahrnehmung
    • Intentionalität (z.B. Apathie) und Antrieb
    • Affektivität und Psychomotorik
  • Leitsymptome nach ICD-10 sind:
    • Gedankenlautwerden, – eingebung, – entzug,-ausbreitung
    • Kontroll- oder Beeinflussungswahn; Gefühl des Gemachten bzgl. Körperbewegungen, Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen; Wahnwahrnehmungen
    • kommentierende oder dialogische Stimmen
    • anhaltender, kulturell unangemessener oder völlig unrealistischer Wahn (bizarrer Wahn)
    • anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität
    • Gedankenabreißen oder –einschiebungen in den Gedankenfluss
    • katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien, Negativismus oder Stupor
    • negative Symptome wie auffällige Apathie, Sprachverarmung, verflachter oder inadäquater Affekt
  • min. ein eindeutiges Symptom (zwei oder mehr, wenn weniger eindeutig) der Gruppen 1 – 4 oder min. zwei Symptome der Gruppen 5 – 8; Symptome müssen fast ständig während eines Monats oder länger deutlich vorhanden gewesen sein
  • bei eindeutiger Gehirnerkrankung, während einer Intoxikation oder während eines Entzuges soll keine Schizophrenie diagnostiziert werden

Komorbiditäten

  • Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit (insbesondere Tabak, Alkohol und Cannabis)
  • Depression und Suizidalität
  • Zwangsstörungen
  • posttraumatische Belastungsstörung
  • Angststörungen
  • Unruhe und Erregungszustände
  • Schlafstörungen

Symptomatik im Kindes- und Jugendalter und im höheren Lebensalter

  • diagnostischen Kriterien gelten für alle Altersbereiche
  • im Kindes- und Jugendalter ist das Vollbild der Schizophrenie nach ICD-10 von nicht hinreichend spezifischen Symptomclustern (z.B. formale Denkstörungen, Gedankenlautwerden, Stimmenhören, ausgeprägtes Misstrauen mit sozialem Rückzug, Hypersensibilität, Beeinträchtigungserleben) zu trennen, die auch mit einem erhöhten Psychoserisiko einhergehen können
  • späte und sehr späte Formen der Schizophrenie
  • höherer Frauenanteil, weniger Positivsymptome und das Ansprechen auf niedrigere Dosierungen von Antipsychotika

diagnostische Unterformen

paranoide Schizophrenie

  • durch Wahnvorstellungen verschiedenster Art und vorwiegend akustische Halluzinationen (Phoneme, Akoasmen) gekennzeichnet, während Störungen des formalen Denkens, der Stimmung, des Antriebs, der Sprache sowie katatone Phänomene nicht im Vordergrund stehen
  • langfristiger Verlauf kann vielfältig sein: entweder einmalig episodisch oder rezidivierend mit jeweiliger Rückkehr zur völligen Gesundung oder aber chronifizierend mit überdauernden Defiziten

hebephrene Schizophrenie

  • Affekt-, Antriebs- und formale Denkstörungen im Vordergrund, der Krankheitsbeginn liegt überwiegend zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr
  • Verlaufsprognose ist eher ungünstig

katatone Schizophrenie

  • psychomotorische Störungen, die zwischen Erregung und Stupor wechseln können
  • allgemeine diagnostische Kriterien der Schizophrenie erfüllt und entsprechende katatone Symptome nachweisbar
undifferenzierte Schizophrenie
  • keine der vorgeschriebenen Unterformen zutreffend oder Merkmale verschiedener Unterformen vorliegend

postschizoprehene Depression

  • im Anschluss an akute Schizophrenie Entwicklung depressive Episode, in der die Positivsymptome zwar zurücktreten, aber noch vorhanden sind
  • zur Entstehung dieser postremissiven „Erschöpfungsdepression“ können viele Faktoren beitragen (pharmakogene sowie psychosoziale)
  • Erscheinungsbild und Art der Kontaktaufnahme
  • Psychomotorik
  • Bewusstsein und Orientierung
  • Aufmerksamkeit und Gedächtnis
  • Denken und Sprechen
  • Befürchtungen und Zwänge
  • Wahn
  • Sinnestäuschungen
  • Ich-Störungen
  • Affektivität
  • Antrieb, Intentionalität, Wille
  • Persönlichkeitsmerkmale
  • weitere Symptome und Symptombereiche (z.B. Suizidalität, Krankheitsgefühl und Einsicht, soziale Umtriebigkeit und Aggressivität, vegetative Symptome)

Schizophrenia simplex

  • blander Verlauf mit progredienter Negativsymptomatik (ohne eine Episode mit produktiver/positiver Symptomatik), zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten und sozialer Desintegration bis hin zur Nichtsesshaftigkeit

Anamneseerhebung

  • strukturierter psychopathologischer Befund
  • biographische und soziale Anamnese
  • Substanzmittelanamnese
  • somatische Anamnese
  • Familienanamnese
  • Vorerfahrung in der Behandlung
  • Präferenzen und Wünsche der betroffenen Person in Bezug auf die möglichen diagnostischen und therapeutischen Optionen
  • Wunsch/Möglichkeit der Einbeziehung von Angehörigen und anderen Vertrauenspersonen

organische Differentialdiagnostik

  • organische Differentialdiagnostik soll bei jeder neu aufgetretenen psychotischen Symptomatik angeboten werden
  • folgende Faktoren können klinische Hinweise für organische Genese der psychotischen Symptomatik geben:
  • früher und akuter Beginn
  • fokalneurologische Symptome, Bewusstseinseintrübung, epileptische Anfälle
  • ausgeprägte kognitive Defizite*, subakute (innerhalb von 3 Monaten) Merkfähigkeitsstörungen als führendes Symptom, die nicht mit den für die Schizophrenie bekannten Symptomen vereinbar sind
  • Verwirrtheit
  • optische Halluzinationen
  • psychomotorische Symptome (inkl. Katatonie)
  • fluktuierender Verlauf der Erkrankung
  • frühe Therapieresistenz
  • fluktuierende Psychopathologie
  • komorbide Entwicklungsverzögerung/-störung
  • Fieber, Exsikkose

primäre Hirnerkrankungen, die als Differentialdiagnose in Erwägung gezogen werden können

  • alkoholtoxische Enzephalopathien und andere Alkoholfolgeerkrankungen
  • Epilepsien, insbesondere komplexpartielle Formen
  • entzündliche Prozesse (immunvermittelte Enzephalitiden, Multiple Sklerose, virale oder bakterielle Herdenzephalitis, Toxoplasmose, Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung)
  • Chorea Huntington
  • Schädel-Hirn-Trauma
  • cerebrale Raumforderungen (Hirntumore und andere Raumforderungen)
  • cerebrale Gefäßerkrankung (cerebrale Ischämie, Hirnvenenthrombose, Vaskulitiden)
  • Narkolepsie
  • Morbus Parkinson

Störungen, die sekundär über eine Beeinträchtigung der Hirnfunktionen zu psychotischen Symptomen führen können

  • Elektrolytverschiebungen
    • Hypokaliämie, Hyponatriämie
    • Hyperkaliämie, Hypernatriämie
  • Schilddrüsenstoffwechselstörungen: Hypothyreose, Hyperthyreose
  • Glukosestoffwechselstörungen: Hypoglykämie, Hyperglykämie
  • Kortisolstoffwechselstörungen: Cushing-Syndrom, adrenogenitales Syndrom, Morbus Addison
  • andere Stoffwechselstörungen: hepatische Enzephalopathie
  • Vitaminmangelerkrankungen
    • Vitamin-B12-Mangel (perniziöse Anämie)
    • andere Vitamin B-Mangelzustände (z.B. Pellagra)
  • Speichererkrankungen/angeborene Stoffwechselstörungen: Porphyrien, Morbus Wilson (hepatolentikuläre Degeneration)

medikamentöse bedingte sekundäre Ursachen psychotischer Syndrome

  • ZNS-wirksame Medikamente (L-Dopa und andere dopaminerge Medikamente, Anticholinergika, Triptane)
  • kardiovaskuläre Medikamente (Digoxin, Clonidin, Methyldopa, Betablocker, ACE-Inhibitoren, AngiotensinII-blockierende Medikamente, Kalziumkanalblocker, Diuretika, Statine)
  • gastroenterologische Medikamente (Metoclopramid, H2-Blocker, Pantoprazol)
  • Hormonpräparate (L-Thyroxin, orale Kontrazeptiva, Steroide)
  • Analgetika (nichtsteroidale Antiphlogistika, Opioide)
  • Antiinfektiva (Sulfonamide, Chinolone, Clarithromycin, Amoxicillin, Cephaloxine, Metronidazol, Chloroquin, Isoniazid, Zovirax)
  • Immunsuppressiva und Immunmodulatoren (Kortikosteroide, Methotrexat, Vincristin, Ifosfamid, Cyclosporine, 4-Fluorouracil, Cisplatin, Doxorubicin, Cyclophosphamid)

häufige komorbide somatische Erkrankungen

  • Suizide
  • Gruppe der kardiovaskulären und metabolischen Erkrankungen (Adipositas, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus Typ II mit Folgeerkrankungen (z.B. Polyneuropathie, Niereninsuffizienz), Hyperlipidämie, Herzinfarkt, Hirninfarkt, andere Kreislauferkrankungen
  • Gruppe der Krebserkrankungen
    • Lunge, Kolon, Mamma, Leber, Pankreas, hämatopoetisches System
    • andere Krebserkrankungen (z.B. Blasenkrebs)

Therapie

Krankheitsphasen und phasenspezifische Behandlungsziele

  • Akutphase (Wochen bis 3 Monate)
    • Etablierung einer therapeutischen Beziehung
    • Aufklärung über Krankheits- und Behandlungskonzepte
    • Beseitigung oder Verminderung der Krankheitserscheinungen und der krankheitsbedingten Beeinträchtigung
    • Verhinderung und Behandlung von Selbst- und Fremdgefährdung
    • Einbeziehung von Angehörigen, Bezugspersonen und anderen Beteiligten im Einvernehmen mit den Betroffenen
    • Verhinderung oder Verminderung sozialer Folgen der Erkrankung
    • Motivation zur Selbsthilfe
    • Vorbereitung der postakuten Stabilisierungsphase durch Einleitung rehabilitativer Maßnahmen
  • postakute Stabilisierungsphase (etwa 3 bis 6 Monate)
  • stabile (partielle) Remissionsphase (Monate bis Jahre)

Akutphase

  • regelmäßiger Kontakt zum Hilfesystem und eine regelmäßige Beurteilung des psychischen und körperlichen Gesundheitszustandes sind sinnvoll
  • generell sollte einer ambulanten Therapie, wenn möglich, der Vorzug vor einer teilstationären oder stationären Behandlung gegeben werden
    • auch im Fall einer akuten Exazerbation der Schizophrenie sollte, wenn möglich, eine ambulante Behandlung der stationären vorgezogen werden
    • ambulante Behandlung kann aber die stationäre nicht immer ersetzen
    • insbesondere wenn Gefährdung des Patienten oder seiner Umgebung sehr wahrscheinlich möglich ist, muss stationäre oder teilstationäre Aufnahme erfolgen
Published inIm Notfall PsychiatrieLeitlinien kompakt

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