veröffentlichende Fachgesellschaft: Deutsche Diabetes Gesellschaft
Datum der Veröffentlichung: 02.09.2023
Ablaufdatum: 01.09.2028
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/057-013.html
Grundsätzliches
- weltweite Prävalenz liegt laut Schätzungen des Type 1 Diabetes Index Project bei 8,4 Millionen diagnostizierten (plus nicht-diagnostizierte Fälle von ca. 12,17 Millionen)
- medianes Alter bei Diagnose liegt bei 29 Jahren
- Inzidenz bei 510.000 Fällen/Jahr
- ca. 62 % der neu diagnostizierten Fälle bei Menschen > 20 Jahre
- laut Schätzung wahrscheinliche weltweite Prävalenz im Jahr 2040 bei 13,5 – 17,4 Millionen Fällen mit größtem Anstieg in Ländern mit geringem und geringem bis mittleren BSP
- Typ-1-Diabetes tritt bevorzugt in jüngeren Lebensjahren auf, in 15 – 30 % im Rahmen einer schwere, bis zu Bewusstseinsverlust reichende ketoazidotische Stoffwechselentgleisung
- Unterscheidung des Diabetes gemäß ADA-Kriterien in
- Typ-1-Diabetes (autoimmune Beta-Zell-Destruktion mit i.d.R. absolutem Mangel des Hormon Insulin)
- Typ-2-Diabetes (nicht-autoimmun-vermittelter progressiver Verlust der Insulin-Sekretion der Beta-Zelle, häufig aufgrund Insulinresistenz)
- spezifische Diabetes-Typen anderer Ursache (monogene Diabetessyndrome, Erkrankungen des exokrinen Pankreas (z.B. zystische Fibrose, Pankreatitis), Medikamenten-/Chemikalien-induziert. (z.B. durch Glukokortikoide), oder nach Organtransplantation, Endokrinopathien und weitere
- Gestationsdiabetes (erstmals in Schwangerschaft im 2./3. Trimenon diagnostizierte Glukosetoleranzstörung, die nicht schon offensichtlich vor Schwangerschaft bestand)
Hypoglykämie
- derzeit international gebräuchliche Hypoglykämie-Einteilung in milde und schwere Hypoglykämie ist nicht an speziellen Blutglukosewerten ausgerichtet, sondern ausschließlich an der Fähigkeit zur Selbsttherapie
- milde Hypoglykämie: Hypoglykämie kann durch Patient*in selbständig durch Kohlenhydrateinnahme therapiert werden
- schwere Hypoglykämie: Patient*in ist bei der Therapie der Hypoglykämie auf Fremdhilfe (z.B. durch Angehörige/Zugehörige oder medizinisches Personal) angewiesen
- Definition einer sogenannten asymptomatischen, biochemischen Hypoglykämie anhand von bestimmten Blutglukosewerten ist aufgrund individueller unterschiedlicher Reaktionen bei bestimmten Schwellenwerten problematisch und kontrovers diskutiert (ADA und NIDDK empfehlen Schwellenwert von 70 mg/dL, andere Arbeiten niedrige Werte)
- CAVE: bei nicht an Diabetes erkrankten Menschen ist Abfall des BZ < 45 mg/dL ohne Auftreten von autonomen und/oder neuroglucopenen Symptomen nicht gleichbedeutend mit Diagnose einer Hypoglykämie, da vergleichbar niedriger Blutzucker auch bei Gesunden im Fastenzustand beobachtet werden kann
Ursachen
- Insulindosierung zu hoch, Insulininjektion zur falschen Zeit oder falsche Insulinsorte gespritzt
- erniedrigte exogene Glukosezufuhr (vergessene/ausgelassene Mahlzeiten)
- Glukoseverbrauch erhöht (z.B. nach Sport)
- endogene Glukoseproduktion erniedrigt (z.B. nach Alkoholkonsum, bei Niereninsuffizienz)
- Insulinsensitivität erhöht (während Nacht, nach verbesserter glykämischer Kontrolle, nach verbessertem körperlichen Trainigszustand)
- Insulinclearance erniedrigt (z.B. bei Niereninsuffizienz)
Symptomatik
- autonome Symptome
- Schwitzen
- Zittern
- Heißhunger
- Herzklopfen
- neuroglykopenische Symptome
- Gedankenflucht
- Logorrhoe
- Wortfindungsstörungen
- Reizbarkeit
- Doppelbilder & andere Sehstörungen
- Kopfschmerzen
- Ängstlichkeit
- Schläfrigkeit
- Koordinationsschwierigkeiten
- Bewusstseins- und Handungseinschränkung
- Bewusstlosigkeit
- Krämpfe
- allgemeines Unwohlsein
- Übelkeit
- Kopfschmerzen
Therapie
- bei milder Hypoglykämie und Typ-1-Diabetes 15 – 20 g Kohlenhydrate vorzugsweise in Form von Glukose (Wiederholung nach 15 min, wenn BZ weiterhin gering (50 – 60 mg/dL))
- bei schwerer Hypoglykämie ohne Bewusstseinsverlust und Typ-1-Diabetes 30 g Kohlenhydrate vorzugsweise in Form von Glukose (Wiederholung nach 15 min, wenn BZ weiterhin gering (50 – 60 mg/dL))
- bei schwerer Hypoglykämie mit Bewusstlosigkeit und Typ-1-Diabetes min. 50 mL 40 %ige Glukose im Bolus i.v. oder alternativ, wenn pVK nicht verfügbar, Glukagon (3 mg i.n. bzw. 1 mg s.c/i.m., ggf. auch i.v.); Wdh. bei fehlendem Ansprechen nach 5 min oder bei erfolgreicher Therapie Einnahme von Mahlzeit oder Snack zu Rezidivprophylaxe
Diabetische Ketoazidose
- Stoffwechselentgleisung aufgrund absoluten oder relativen Insulinmangels und konsekutiver Verstoffwechselung von Fettsäuren, die mit/ohne hyperosmolare Diurese, also auch ohne massive Hyperglykämie entstehen kann
- Spektrum reicht von leichter ketoazidotischer Stoffwechselentgleisung bis hin zur schwersten diabetischen Ketoazidose mit diabetischem Koma
- biochemische Definition der diabetischen Ketoazidose
- Blutglukose > 250 mg/dL und
- Ketonämie und/oder
- Ketonurie arteriellen pH < 7,35 oder
- venösen pH < 7,3
- Serum-Bikarbonat < 270 mg/dL
- Verdachtsdiagnose diabetische Ketoazidose bei
- persistierende Hyperglykämie (250 mg/dL) und
- Ketonurie, v.a. bei entsprechenden klinischen Symptomen oder Begleiterkrankungen
- Sonderfall „euglykäme diabetische Ketoazidose“ bei Therapie mit SGLT2-Hemmern
Ursachen
- nicht erkannte Erstmanifestation eines Typ-1-Diabetes mellitus
- Unterbrechung laufender Insulintherapie
- Unterbrechung Insulingabe bei Insulinpumpentherapie
- akute, schwere Erkrankungen, die mit gesteigerter, kataboler Verstoffwechselung und erhöhtem Insulinbedarf einhergehen (z.B. Pankreatitis, Hyperthyreose, Myokardinfarkt oder zerebrovaskuläre Unfälle)
- Arzneimitteleinnahme wie z.B. Diuretika, Kortikosteroide
Symptomatik
- gastrointestinale Symptome
- Appetitlosigkeit
- Übelkeit und Erbrechen
- Bauchschmerzen bis zur so genannten Pseudoperitonitis
- Zeichen der Dehydratation
- trockene Mundhöhle
- abhebbare Hautfalten
- Muskelkrämpfe (Waden, Bauch)
- weiche Bulbi
- Blutdruckabfall
- Polyurie (primär)
- Oligo-Anurie (sekundär)
- respiratorische Symptome
- metabolische Azidose, die respiratorisch kompensiert wird
- stark vertiefte, normofrequente oder leicht beschleunigte Atmung („Kussmaul-Atmung“)
- Geruch der Ausatemluft nach Azeton (typischer, fruchtiger Geruch)
- Bewusstseinsveränderungen
- bei leichter Ketoazidose meist nicht eingeschränkt
- bei Ketoazidose mittleren Schweregrads: Bewusstseinseinschränkungen (Schläfrigkeit)
- bei schwerer diabetischer Ketoazidose: Stupor oder Koma
Schweregrade der diabetischen Ketoazidose
- leichte diabetische Ketoazidose (pH < 7,3; Bikarbonat < 270 mg/dL)
- mittlere diabetische Ketoazidose (pH < 7,2; Bikarbonat < 180 mg/dL)
- schwere diabetische Ketoazidose (pH < 7,1; Bikarbonat < 90 mg/dL)
Therapie
- umgehende stationäre Einweisung bei Typ-1-Diabetes und klinischem V.a. diabetische Ketoazidose
- Anlage peripherer Zugang oder zentraler Venenkatheter (abhängig von Patientenalter, Schwere der Entgleisung, Vorliegen von Begleiterkrankungen)
- Kreislaufstabilisierung mit initialer Volumengabe von 1 L in der ersten Stunde mit balancierter Elektrolytlösung
- weiterer Flüssigkeits- und Elektrolytausgleich in Abhängigkeit von Alter, Größe, Gewicht und etwaigen Begleiterkrankungen (Gesamtflüssigkeitszufuhr bis zu 6 L/24 h und mehr bei 70 kg)
- Substitution von Kalium bereits im Normbereich in Abhängigkeit vom Schweregrad der Ketoazidose durch Zugabe von 40 mval Kaliumchlorid pro 1000 mL balancierte VEL
- langsame Normalisierung der Blutglukose durch „Niedrig-Dosis-Insulin“
- Ausgleich von Azidose und Ketose (Bicarbonat-Gabe nur bei pHWert < 7,0 bis zu Korrektur auf pH-Wert von 7,1)
- Vermeidung von Therapiekomplikationen (Hypokaliämie, Hirnödem)
- Diagnose und Therapie der auslösenden Ursachen der DKA
- bei Gastroparese Anlage Magensonde aufgrund Aspirationsgefahr
- Überwachung unter intensivmedizinischen Bedingungen in Form regelmäßigen Monitorings/Beurteilung:
- halbstündlich: Blutdruck, Herzfrequenz
- stündlich: BZ, GCS sowie BGA mit pH-Wert, Bicarbonat, Base excess, Natrium, Kalium
- Zielwerte als Kriterium für Überwindung der Ketoazidose
- BZ < 200 mg/dL (bzw. Abfall der BZ von 50 – 100 mg/dL/h)
- Serumbikarbonat ≥ 324 mg/dL (18 mmol/L)
- venöser pH-Wert > 7,3
Hirnödem bei diabetischer Ketoazidose
- bei Erwachsenen im Gegensatz zu Kindern noch seltener auftretende, schwerwiegende Komplikation
- Symptomatik
- Kopfschmerzen
- Erbrechen
- Desorientiertheit, aggressives Verhalten
- Veränderung der Vitalzeichen
- Änderung der Pupillenweite
- zerebrale Krämpfe
- Therapie
- Gabe von Mannitol oder hyperosmolarer Kochsalzlösung
- Barbituratgaben (z.B. Thiopental) und Hyperventilation aufgrund schwerer Nebenwirkungen und nicht gesichertem Nutzen nur als letztes Mittel der Wahl
Hyperosmolares Hyperglykämisches Syndrom (HHS)
- Unterscheidung zur diabetischen Ketoazidose durch ausbleibende signifikante Hyperketonämie (< 54 mg/dL (3 mmol/L)), meist sehr ausgeprägte Hyperglykämie (> 540 mg/dL) und ausgeprägte lebensbedrohliche Hypovolämie und Hyperosmolarität (> 320 mOsm/kg) sowie Fehlen oder gering ausgeprägte Ketonurie und Ketoanämie
- Mischbild von HHS und Diabetischer Ketoazidose (DKA) ist möglich
- HHS tritt häufiger bei Typ-2-Diabetes auf, ist aber auch bei Typ-1-Diabetes möglich
- Therapie
- umgehende stationäre Einweisung zur Überwachung auf Intensivstation
- Normalisierung der Osmolarität (CAVE: langsamerer hypotoner Flüssigkeitsersatz mit 0,45%iger Kochsalzlösung sollte nur dann in Betracht ziehen, wenn Osmolarität trotz adäquater positiver Volumenbilanz nicht abfällt)
- Ersetzen des Flüssigkeits- und Elektrolytmangels
- Normalisierung des BZ
- Verhinderung von thromboembolischen Komplikationen, Hirnödem und zentralen pontinen Myelinolyse
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