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Positionspapier „Care of patients with obesity in the Emergency Department“ der ABRAMEDE & ABESO

veröffentlichende Fachgesellschaft: Brazilian Association of Emergency Medicine (ABRAMEDE) and the Brazilian Association for the Study of Obesity and Metabolic Syndrome (ABESO)
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 11.03.2025
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.20945/2359-4292-2024-0411

Grundsätzliches

  • Definition „Adipositas“ gemäß WHO: abnorme oder übermäßige Ansammlung von Körperfett, die ein Gesundheitsrisiko darstellt
  • Rückgang der Unterernährung seit den 1980er, gleichzeitig aber Zunahme bei Adipositas-Prävalenz, v.a. schwere Adipositas (Anstieg v.a. bei Bevölkerungsgruppen mit schlechterem Zugang zur Gesundheitsversorgung)
  • laut World Obesity Federation lebten im Jahr 2020 2,2 Milliarden Erwachsene (42 %) mit Übergewicht oder Adipositas weltweit –> bis 2035 voraussichtlich 3,3 Milliarden (54 %)
  • weltweite Adipositas-Prävalenz hat sich im Vergleich zu Daten von 1975 mehr als verdreifacht
  • Adipositas ist eine chronische Multisystemerkrankung, die mit mehr als 200 Begleiterkrankungen einhergeht (z.B. Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Dyslipidämie, kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen, Lebererkrankungen, Osteoarthritis, Schlafapnoe, Unfruchtbarkeit, psychische Störungen und verschiedene Krebsarten)
  • 2024 weltweit ca. 42 Millionen Todesfälle durch chronische, nicht übertragbare Krankheiten, wovon zwei Drittel mit Übergewicht und Adipositas zusammenhängen

Klassifizierung des Ernährungszustands bei Erwachsenen gemäß International Federation for the Surgery of Obesity and Metabolic Disorders (IFSO)

BMI (kg/m2)Klassifikation
< 18,5Untergewicht
18,5 – 24,9Normalgewicht
25 – 29,9Übergewicht
30 – 34,9Adipositas Grad I
35 – 39,9Adipositas Grad II
40 – 49,9Adipositas Grad III
50 – 59,9Adipositas Grad IV
≥ 60Adipositas Grad V

Herausforderungen in der Notaufnahme

körperliche Untersuchung

  • zunehmendes Übergewicht beeinträchtigt die körperliche Untersuchung, wie z.B. die Inspektion, Palpation, Auskultation und Perkussion aufgrund des überschüssigen Fettgewebes
  • Übergewicht kann die Erkennung relevanter schwerer Krankheitsbilder erschweren, z.B. Ertasten von Karotis- oder Femoralpulsen bei Herz-Kreislauf-Stillstand
  • Vermittlung spezifischer Fähigkeiten in der medizinischen Ausbildung notwendig, um der Bevölkerung eine angemessene Versorgung zu bieten
  • Gewicht des Patienten sollte möglichst im Rahmen der Triage an einem privaten Ort ermittelt werden, dafür sollte auch eine kompatible Waage vorgehalten werden –> Gewichtsermittlung z.B. notwendig für die Berechnung von Medikamentendosierungen

Blutdruckmessung

  • Vorhaltung und Nutzung von Blutdruckmanschetten in der richtigen Größe unabdingbar, da die „Blase“ in der Manschette 75 – 100 % des Arms umschließen muss
  • ggf. alternativ eine Oberschenkelmanschette am Arm verwenden (CAVE: begrenzte Studien zur Validität der Verwendung einer Oberschenkelmanschette)
  • Sensitivität von 97 % und Spezifität von 85 % zur Hypertonie-Detektion, wenn der am Oberarm gemessene Blutdruck mit intraarteriellen Messungen verglichen wurde –> Messungen am Handgelenk hatten beste Sensitivität und Spezifität

Pulsoximetrie

  • Studien haben gezeogt, dass die Pulsoximetrie bei 91 % der Patient*innen die Sauerstoffsättigungswerte im Vergleich mit den BGA-Werten (CAVE: Diskrepanz war größer bei Patienten mit einem BMI ≥ 40 kg/m², einem Alter ≥ 40 Jahre und einem höheren Mortalitätsrisiko bei Adipositasoperationen)

Bildgebung

  • Point-of-Care-Ultraschall (PoCUS) ist bei Patient*innen mit Adipositas mit technischen Herausforderungen verbunden –> Hypoechogenität des Fettgewebes und größerer Abstand zwischen Haut und Zielorganen erschweren die Darstellung in klaren Bildern, was die Beurteilung in Notfallsituationen zusätzlich erschwert
  • aufgrund des Übergewichts ist es ggf. nicht möglich mit einer einzigen Röntgenaufnahme bestimmte Körperbereiche vollständig abzubilden
  • Thorax-Röntgen kann aufgrund überlappendem Gewebe schwer zu interpretieren sein
  • CT & MRT haben hinsichtlich Größe und Gewicht Beschränkungen, sodass oft mehrere Scans erforderlich sind –> verlängerte Untersuchungszeit, erhöhte Strahlenbelastung & gesteigertes Risiko von Bewegungsartefakten

Notfallmaßnahmen

Gefäßzugang

  • erhöhtes Thrombose- und Infektionsrisiko, da die sichere Anlage eines pVK bei übergewichtigen Patient*innen oftmals mehrer Versuche notwendig macht
  • Nutzung der Blutdruckmanschette anstelle eines Staubands für eine suffiziente Stauung
  • zentralen Venenzugang erwägen, wenn pVK nicht möglich ist –> überschüssiges Fettgewebe erschwert die Identifizierung der üblichen anatomischen Landmarken
  • Etablierung eines i.o.-Zugangs ab Adipositas Grad III erschwert
  • Einsatz von Ultraschall ist entscheidend, um die Erfolgsquote bei der Anlage eines venösen Zugangs, sowohl peripher als auch zentral, zu erhöhen
  • bei Patient*innen mit Adipositas sollte das Einführen langer peripherer Kanülen die 1. Wahl sein

Atemwegsmanagement

  • Intubation stellt erhebliche Herausforderung dar –> Adipositas erschwert zwar die Intubation, jedoch sind andere Faktoren wie Halsumfang und Mallampati-Score relevanter (Adipositas Grad III im Vergleich zu Adipositas Grad I & II noch nicht mit signifikantem Anstieg der Komplikationen verbunden)
  • adipöse Patient*innen in der Notaufnahme haben geringere Erfolgsrate beim 1. Intubationsversuch und höheres Risiko für unerwünschte Ereignisse
  • Rampenposition ist für die Intubation von entscheidender Bedeutung (Lagerung mit Kopf, Hals und Schultern in erhöhter Position), da diese die Sicht auf den Kehlkopf und einfachere Beatmung im Vergleich zur Standard-Schnüffelposition nachweislich erheblich verbessert –> Position erhöht funktionelle Residualkapazität, verbessert Präoxygenierung & verlängert sichere Apnoezeit während der Intubation
  • NIV zur Präoxygenierung wirksame Alternative und verbessert arterielle SpO2
  • HFNC in bestimmten Fällen auch eine sinnvolle Alternative
Quelle: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11932637/

kardiopulmonale Reanimation

  • CPR wie bei normalgewichtigen Erwachsenen (Frequenz: 100 – 120/min; Tiefe: 5 – 6 cm; 30 Thoraxkompressionen zu 2 Beatmungen)
  • Größe und Verteilung des Fettgewebes können die Wirksamkeit der Kompressionen beeinträchtigen (z.B. Panniculus adiposus an der vorderen und hinteren Brustwand)
  • Bauchfett verdrängt das Zwerchfell nach oben, ähnlich wie bei Schwangeren –> Kompressionen im oberen Bereich des Brustbeins (größten Durchmesser des linken Ventrikels liegt bei Adipösen etwas höher)
  • CPR bei Adipositas ≥ Grad III ermüdender –> weniger effektive Kompressionen –> Wechsel in kürzeren Abständen als übliche 2 min
  • kein Umlagern von Bett auf den Boden nicht notwendig (CAVE: erhöhtes Verletzungsrisiko)
  • Einsatz mechanischer Thoraxkompressionshilfen erwägen (CAVE: Körpermaßbegrenzung)
  • höhere transthorakale Impedanz bei Adipositas durch Fettgewebe, aber keine Hinweise auf Beeinflussung des Defibrillationserfolgs

Trauma

  • spezifische pathophysiologische Charakteristika beim Trauma: Extremitäten-, Becken- & Thoraxverletzungen stehen im Vordergrund, Abdominal- und Kopftraumata seltener (CAVE: selbst Trauma mit geringer Energie kann zu Trümmerfrakturen und schweren Haut- und Weichteilverletzungen führen)
  • DMS-Beurteilung aufgrund Körpergröße, beeinträchtigter Schmerzwahrnehmung und eingeschränkter Gelenkbeweglichkeit erschwert
  • Transport erfordert spezielle Ressourcen und geeignete Ausrüstung
  • CAVE: Zusammenhang zwischen Körpermasse und Krankheitsverlauf ist noch nicht vollständig erforscht –> vmtl. erhöhte Mortalität beim VU, obwohl Verletzungsschwere vergleichbar oder geringer sowie höheres Risiko für posttraumatische Komplikationen wie Lungenembolie, verlängerte Beatmungszeiten, Infektionen, Dekubitus & Multiorganversagen
  • häufig Unterschätzung des Volumenbedarfs –> höhere Mortalität durch anhaltenden hämorrhagischen Schock und relative Hypovolämie

Medikamente

  • Dosierung von Medikamenten bei Patienten mit Adipositas ist komplex, da die meisten Empfehlungen von Patienten ohne Adipositas extrapoliert wurden –> Dosierungsfehler (lipophile Medikamente sollten nach Gesamtgewicht dosieren, hydrophile Medikamente nach Idealgewicht oder angepasstem Gewicht dosieren)
  • für renal eliminierte Medikamente tatsächliche Kreatinin-Clearance verwenden
  • bei Dosierung von Medikamenten bei Personen mit Adipositas Idealgewicht, fettfreie Körpermasse, angepasstes Körpergewicht oder Gesamtkörpergewicht berücksichtigen
  • Patient*innen mit Adipositas erhalten häufig unzureichende Dosen von Einleitungsmedikamenten für die RSI, daher Nutzung angepasster Dosierungen (s. Tabelle)
MedikamentReferenzgewichtDosierungen
SuccinylcholinGesamtkörpergewicht1 – 1,5 mg/kg
Rocuroniumfettfreie Körpermasse ODER ideales Körpergewicht1 – 1,5 mg/kg (max. 250 mg)
Ketamin– Gesamtkörpergewicht bei Adipositas Grad I & II
– ideales Körpergewicht bei ≥ Adipositas Grad III
1 – 2 mg/kg
EtomidateGesamtkörpergewicht0,2 – 0,3 mg/kg
Propofolfettfreie Körpermasse ODER ideales Körpergewicht1,5 – 2 mg/kg
Midazolamideales Körpergewicht0,1 – 0,2 mg/kg
  • Herz-Kreislauf-Medikamente
    • Betablocker, Digoxin und Procainamid aufgrund Hydrophilie nach Idealgewicht dosieren
    • Kalziumkanalblocker aufgrund Lipophilie nach Gesamtkörpergewicht dosieren
    • Vasopressoren wie Noradrenalin brauchen keine Anpassung
    • Adrenalindosen > 1 mg erhöhten ROSC-Rate, aber ggf. schlechteres neurolog. Outcome
  • Antibiotika
    • Adipositas ist mit einem proinflammatorischen Mechanismen verbunden –> Risiko für nosokomiale Infektionen und Organfunktionsstörungen erhöht –> aktive Überwachung und umsichtiger Einsatz von Antibiotika
    • Vancomycin nach Gesamtkörpergewicht dosieren
    • Penicilline, Cephalosporine und Carbapeneme nach Obergrenze der Empfehlungen aus der Fachinformation dosieren
    • Aminoglykoside nach Idealgewicht dosieren oder anpassen, wenn Gesamtgewicht 130 % des Idealgewichts überschreitet
  • Antikoagulanzien
    • metabolische Syndrom bei adipösen Patient*innen führt zu Hyperkoagulabilität, die sorgfältige Prävention thromboembolischer Ereignisse erfordert –> ggf. höhere Dosen von niedermolekularem Heparin (NMH) notwendig (1 mg/kg/d; CAVE: ggf. schwerer Adipositas Anti-Xa-Kontrolle notwendig)

Empfehlungen

institutionelle Empfehlungen zur Unterstützung der Versorgung von Patient*innen mit Adipositas

  • Adipositas und ihre Begleiterkrankungen in die Lehrpläne der Facharztausbildung für Notfallmedizin integrieren
  • Sicherstellung einer 24-Stunden-Notfallversorgung für Patienten mit Begleiterkrankungen im Zusammenhang mit Adipositas –> ggf. Strukturen und interne Prozesse anpassen
  • Gewicht von > 150 kg bei Überweisungen, Verlegungen etc. berücksichtigen, damit das richtige Ziel avisiert und das richtige Transportmittel angefordert wird
  • Erstellung standardisierter klinischer Protokolle für die Versorgung von Patienten mit schwerer Adipositas in Notfallsituationen, die sowohl körperlichen Anpassungen als auch die erforderliche psychologische Unterstützung berücksichtigen
  • Stigma der Adipositas („Gewichtsstigma“) durch institutionelle Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagnen bekämpfen

Gestaltung der Notaufnahme und Ressourcenzuweisung

  • Infrastruktur der Notaufnahme anpassen, um die Mobilität mit speziellen Geräten sicherzustellen (spezielle Rollstühle & Betten, angemessene Türbreiten, strukturelle Verstärkungen der Böden etc.
  • Anschaffung angepasster Monitoringmöglichkeiten (größere Blutdruckmanschetten, Waagen etc.)

Forschungsfinanzierung und Änderungen der öffentlichen Ordnung

  • Förderung & Finanzierung von Forschung, die sich mit den besten Vorgehensweisen bei der Versorgung von Patienten mit Adipositas in Notfallsituationen befasst (Berücksichtigung von technischen Besonderheiten und Auswirkungen von Stigmatisierung auf die Versorgung)
  • öffentlichkeitswirksame Aktionen zur Prävention etc. unterstützen
Published inLeitlinien kompakt

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