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Psychiatrie im Dritten Reich – Stigmatisierung und Euthanasie durch menschenverachtende Ideologie (Holocaust-Gedenktag)

Am heutigen Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust möchte ich einen ersten Exkurs weg vom Medizinischen hin zur Geschichte wagen und in der Rubrik „Im Notfall Psychiatrie“ die Psychiatrie in der Zeit des Dritten Reiches und die damit verbundene „Euthanasie“ (griechisch für „schmerzloses Sterben“) kritisch beleuchten.

Dem NS-„Euthanasie“-Programm und der menschenverachtenden Ideologie der „Rassenhygiene“ fielen hunderttausende zum Opfer. Mehr als 250.000 bis 300.000 psychiatrisch erkrankte und behinderte Kinder und Erwachsene starben in Heil- und Pflegeanstalten (ca. 140.000 aus besetzten Gebieten; ca. 10.000 Kinder). Darüber hinaus wurden ca. 400.000 – 500.000 Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder einer Behinderung zwangssterilisiert, wobei rund 6.000 Menschen starben (90 % Frauen).

Die Entscheidungsträger für diese Tötungsmaschinerie waren vor allem Ärzte und Juristen. Es ist zu betonen, dass die ärztlich-psychiatrischen Entscheidungsträger hierbei oftmals nicht von der politischen Führung gezwungen oder missbraucht wurden, sondern maßgeblich ideologisch und organisatorisch aus eigenen Stücken an der „Vernichtung von minderwertigem und lebensunwertem Leben“ beteiligt waren. Widerstand aus den ärztlichen Reihen gab es kaum bis gar nicht. Wenn es zu Widerstand kam, dann kam dieser eher von niedergelassenen Ärzt*innen oder vor allem aus dem Bereich der Kirchen, vornehmlich der katholischen Kirche.

ideologische Grundlage der „Euthanasie“

Die ideologischen Grundgedanken zum systematischen Mord an psychisch kranken und behinderten Personen wurden maßgeblich von Ärzten und Naturwissenschaftlern mitgeprägt. Im Vordergrund standen hierbei Ansätze zur „Gesundung des Volkskörpers“, die „Rassenhygiene“ und die Eugenik gepaart mit einer Zerstörung aller christlichen und humanistischen Werte. Diese Ansätze wurden nicht erst mit der Machtübernahme durch die NSDAP im Jahr 1933 zu einem relevanten medizinischen, gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Thema, sondern ein großer Teil der Grundlagen, wie Zwangssterilisation oder „Gnadentod“ wurden schon im 19. Jahrhunderts diskutiert. Wegweisend waren hierbei der von Sozialdarwinismus sowie die von den Theorien von Benedict-Augustin Morel, Joseph Arthur Gobineau, Francis Galton und Alfred Ploetz bestimmte „Eugenik“. Jedoch waren bis Anfang der 1930er Jahre viele der Psychiater skeptisch hinsichtlich der eugenischen Lehre, was sich aber sukzessive durch die Etablierung von Fachzeitschriften zur Rassenhygiene und der Gründung der Fachgesellschaft für Rassenhygiene änderte. Das Berliner „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie“ schließlich legte die ideologischen Grundsteine für die Selektierung und Ermordung von „Kranken”, sogenannten „Asozialen” und Menschen mit Behinderungen legte.

Prägend für die Debatte war vor allem das von Binding (Professor für Strafrecht) und Hoche (Psychiater) verfasste Schriftstück „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form“ aus dem Jahr 1920. Hoche schwadroniert hierbei z.B. in seinen „ärztlichen Bemerkungen“ darüber, „welches ungeheure Kapital, in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung, dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen wird“ und beschreibt darüber hinaus das Ideal der „Volksgemeinschaft“ („Wir haben es, von fremden Gesichtspunkten aus, verlernt, in dieser Beziehung den staatlichen Organismus im selben Sinne wie ein Ganzes mit eigenen Gesetzen und Rechten zu betrachten, wie ihn etwa ein in sich geschlossener menschlicher Organismus darstellt, der, wie wir Ärzte wissen, im Interesse der Wohlfahrt des Ganzen auch einzelne wertlos gewordene oder schädliche Teile oder Teilchen preisgibt und abstößt.“).

Auch im und nach dem 1. Weltkrieg fielen durch Vernachlässigung tausende Patient*innen, vor allem geprägt durch ökonomische Kriterien, einer eugenischen Ideologie zum Opfer. In dieser Zeit wurde auch der Begriff „Ballastexistenzen“ geprägt.

„Angesichts der einschneidenden Veränderungen auf allen Gebieten des täglichen Lebens, insbesondere im Hinblick auf den Abbau im Schulwesen und in der Jugendfürsorge und auf die Senkung der Lebenshaltung der Familien mit gesunder Erbmasse durch Arbeitslosigkeit, Gehalts- und Lohnkürzung drängt sich unbedingt die Frage sich auf, in welchem Umfange man noch die Verwendung öffentlicher Mittel zur Erhaltung der kranken oder stark gefährdeten Erbmasse verantworten könne.“

Protokoll der Sitzung der Anstaltsdezernentenkonferenz des Deutschen Gemeindetages vom 11.12.1931

Schlussendlich kam es zu einer Selektion durch Ärzt*innen, Pflegende sowie weitere Beteiligte anhand der Bemessung des „vermeintlichen Wertes“ oder des „Erbwertes“ für die „Volksgemeinschaft“. Dies geschah vor allem unter den Gesichtspunkten der „Heilbarkeit“, „Bildungsfähigkeit“ oder „Arbeitsfähigkeit“. Dies führte für die Betroffenen zu Exklusion, Verfolgung und schließlich zur Tötung. Auf diese Weise sollte die Fortpflanzung des Volkes gesteuert, sein „Untergang“ verhindert werden, um so eine „höhere Herrenrasse“ zu schaffen. All das erfolgte durch Ärzte, Beamte, Angestellte, Politiker und viele mehr ohne ein Zeichen von Mitleid, Nächstenliebe oder Fürsorge.

Neben den rassenhygienischen und eugenischen Rechtfertigungsgründen wurde die systematische Ermordung aber auch mit kriegswirtschaftlichen Erwägungen im Zuge des 2. Weltkrieges begründet.

Rechtliche Grundlagen

Mit der Machtübernahme im Jahr 1933 wurde die „Rassenhygiene“ zum mehr und mehr auch gesetzlich verankerten Staatsziel. Durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Juli 1933 legalisierte die NS-Diktatur die Zwangssterilisation von Menschen, welche z.B. an „Schwachsinn“, Schizophrenie, „zirkulärem (manisch-depressiven) Irresein“, „erblicher Fallsucht“ (Epilepsie), „erblichem Veitstanz“ (Chorea Huntington), „erblicher Blindheit“, „erblicher Taubheit“, schweren erblichen körperlichen Missbildungen und Alkoholismus litten sowie an allen Menschen, bei denen gemäß den „Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit Nachkommen mit schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden“ zu erwarten seien. Zu diesem Zwecke wurden eigens „Erbgesundheitsgerichte“ installiert, die über die erzwungenen Sterilisationen entschieden. Maßgeblich an diesem Erbgesundheitsgesetz beteiligt war der Münchener Psychiater Ernst Rüdin (s.u.), der zu dieser Zeit mit seinen eugenischen Ansichten nicht alleine war. Vielmehr galt das Gesetz, auch international, als vorbildlich und von hoher, typisch deutscher, Gründlichkeit.

Spätestens mit den auch als Nürnberger Gesetze bekanntem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15.09.1935 wurde die antisemitische und rassistische Ideologie zur Staatsraison und zur Grundlage für viele der gesetzlichen Regelungen des NS-Antisemitismus und der NS-„Euthanasie“ wie das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“, der Erlass zur „Meldepflicht für missgestaltete usw. Neugeborene“ und schlussendlich für Hitlers „Euthanasie“-Erlass sowie den Runderlass Contis, die die systematische Vernichtung psychisch kranker und/oder behinderter Menschen einläuteten.

Da sich auch durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ eine Überbelegung der Heil- und Pflegeanstalten entwickelte, sah man über die Jahre die Notwendigkeit dieser mit der „Euthanasie“ entschieden entgegenzutreten.

zeitlicher Verlauf der rechtlichen Legitimation

14. Juli 1933

Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

Zwangssterilisation von Menschen mit vermeintlich erblichen Krankheiten (Inkrafttreten: 1. Januar 1934)

24. November 1933

Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung

gesetzliche Annahme, dass sowohl „Schwachsinn“ als auch die Anlagen zum Verbrecher erblich bedingt (Inkrafttreten: 1. Januar 1934)

26. Juni 1935

Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

Schwangerschaftsabbruch legal vor Ablauf des sechsten Monats bei diagnostizierter Erbkrankheit
– 1938: Ergänzung um „rassische Indikation“
– 1943: Ergänzung um „ethische Indikation“

15. September 1935

Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre

Heirat und außerehelicher Verkehr mit „fremdrassigen“ Menschen verboten (Teil der Nürnberger Gesetze)

18. Oktober 1935

Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes

Eheschließung von Menschen mit einer Erbkrankheit oder geistigen Behinderung mit gesunden und nichtbehinderten Menschen verboten (Inkrafttreten am: 20. Oktober 1935)

18. August 1939

Erlass „Meldepflicht für missgestaltete usw. Neugeborene

Beginn der Kinder-„Euthanasie“ durch den Erlass des Reichsinnenminister

1. September 1939

Erlass Hitlers zur „Euthanasie“ & Beginn des zweiten Weltkriegs

„Gnandentod“ von „lebensunwertem Leben“ (Die Ermächtigung wurde erst im Oktober erlassen und auf den Kriegsbeginn zurückdatiert.)

9. Oktober 1939

Runderlass durch Leonardo Conti

Aufforderung aller Heil- und Pflegeanstalten über Meldebögen Krankheit und Arbeitsfähigkeit der Patient*innen zu bennen

24. August 1941

„offizieller“ Stopp der Aktion T4 & Beginn der „wilden Euthanasie“

Widerruf Hitlers nach Protesten, v.a. durch den Bischof Clemens August Graf von Galen

30. November 1942

Hungerkost-Erlaß“ des Bayerischen Staatsministers des Inneren

Reduktion der Nahrung bayrischer Psychiatrie-Patienten als Anschlusslösung zur Aktion T4

Kinder-„Euthanasie“

Noch vor dem Beginn der Erwachsenen-„Euthanasie“ im Rahmen der Aktion „T4“ im Oktober 1939 begann man mit der Einführung einer Meldepflicht von Kindern bis zu 3 Jahren mit geistigen und körperlichen Behinderungen im August 1939. Der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ entschied somit ab diesem Moment über die Einweisung in eine der 30 sog. „Kinderfachabteilungen“, in welchen es nachfolgend zur medikamentösen Tötung oder zur Ermordung durch restriktiven Nahrungsentzug von min. 5.000 Kindern kam.

(1) Zur Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiete der angeborenen Mißbildung und der geistigen Unterentwicklung ist eine möglichst frühzeitige Erfassung der einschlägigen Fälle notwendig.
2) Ich ordne daher an, daß die Hebamme, die bei der Geburt eines Kindes Beistand geleistet hat – auch für den Fall, daß die Beiziehung eines Arztes zu der Entbindung erfolgte – eine Meldung an das für den Geburtsort zuständige Gesundheitsamt zu erstatten hat, falls das neugeborene Kind verdächtig ist, mit folgenden schweren angeborenen Leiden behaftet zu sein:
1) Idiotie sowie Mongolismus (besonders Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind),
2) Mikrocephalie
3) Hydrocephalus schweren bzw. fortschreitenden Grades,
4) Mißbildungen jeder Art, besonders Fehlen von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule usw.,
5) Lähmungen einschl. Littlescher Erkrankung
(3) Ferner sind von allen Ärzten zu melden Kinder, die mit einem der unter Abs. 2 Ziffer 1-5 genannten Leiden behaftet sind und das 3. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, falls den Ärzten die Kinder in Ausübung ihrer Berufstätigkeit bekannt werden.

Erlass des Reichsministers des Innern betreffend Meldepflicht missgestalteter Kinder

Aktion „T4“ (auch Eu-/E-Aktion zur Verschleierung)

Mit seinem aus dem Oktober 1939 stammenden und auf den Tag des Beginns des Zweiten Weltkrieges, den 01.09.1939, zurückdatierten Erlass wies Adolf Hitler seinen „Begleitarzt“ Karl Brandt sowie den Chef der Kanzlei des Führers Philipp Bouhler an, mit der Planung der systematischen Tötung von „lebensunwertem Leben“, egal welchen Alters, zu beginnen. Philipp Bouhler war zuvor auch schon für die Organisation der Kinder-„Euthanasie“ verantwortlich.

„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“

Erlass Hitlers aus dem Oktober 1939

Durch den am 9. Oktober 1939 ergangenen Runderlass des Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti wurden die Heil- und Pflegeanstalten mit der Benennung der Patient*innen, welche die Kriterien für „lebensunwertes Leben“ erfüllten, beauftragt. Die aus den Anstalten zurückgehenden Meldebögen mit Informationen zu Erkrankung und „Arbeitsfähigkeit“ wurden dann durch ca. 50 Gutachter der Aktion „T4“ gesichtet und dann durch einfaches Ankreuzen über Leben und Tod der erkrankten Personen entschieden. Relevante Kriterien waren hierbei:

  • Erkrankungen wie Schizophrenie, Epilepsie, Enzephalitis, Schwachsinn, Paralyse, Chorea Huntington, senile Demenz oder andere neurologische Endzustände, wenn diese Krankheiten die Fähigkeit zur Arbeit einschränkten
  • Patient*innen, welche länger als fünf Jahre in den Anstalten befindlich waren
  • kriminelle „Geisteskranke“
  • Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder Menschen, die nicht „deutschen oder artverwandten Blutes“ waren

Etwa 70.000 Menschen, darunter ca. 5.000 Soldaten des 1. Weltkrieges, starben im Zeitraum Oktober 1939 bis August 1941 mittels Kohlenstoffmonoxid in den Gaskammern der sechs eigens errichteten „Euthanasie“-Tötungsanstalten der Nationalsozialisten in Schloss Grafeneck (Gomandingen), Brandenburg an der Havel, Schloss Hartheim (Alkoven), Schloss Sonnenstein (Pirna), Bernburg und Hadamar (Limburg).

Zusätzlich zur systematischen Ermordung experimentierte eine Vielzahl der Mediziner auch mit den Patient*innen und obduzierten z.B. die Gehirne der Betroffenen.

Um die menschenverachtenden Maßnahmen der Aktion „T4“ zu verschleiern, untergliederte man die gesamte Organisation in mehrere Bereiche wie die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ (verantwortlich für die Erhebung der Opfer), die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ als Arbeitgeber für die Anstaltsmitarbeitenden und die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“, welche für die Kostenabwicklung zuständig war. In diesem Rahmen gab es auch Überschneidungen zum Bereich des Rettungsdienstes, denn die vierte Tarnorganisation war die „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ (GeKrat), welche die Transporte der Kranken in die Zwischen- bzw. Tötungsanstalten organisierte. Die von der GeKrat genutzten „grauen Busse“ wurden in dieser Zeit und vor allem in der historischen Aufarbeitung zum Sinnbild für das NS-„Euthanasie“-Programm.
Auch das Kürzel „T4“ galt der Verschleierung und stand für die Tiergartenstraße 4 in Berlin, in welcher in einer Villa die Zentraldienststelle für die Organisation einquartiert war.

Aufgrund gesellschaftlichen Drucks, vor allem durch die katholische Kirche, vertreten durch die Bischöfe Clemens August Graf von Galen (s. Bild) & Konrad Graf von Preysing sowie den Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg und weitere Geistliche, widerrief Adolf Hitler am 24. August 1941 seinen „Euthanasie“-Erlass aus dem Oktober 1939 und beendete damit „offiziell“ die Aktion „T4“. Doch mit dem „offiziellen Ende“ beginnt erst die eigentliche große Mordmaschinerie, die „wilde Euthanasie“. Die Kinder-„Euthanasie“ wurde trotz dessen auch offiziell noch weiter fortgeführt.

Datei entstammt der Bildersammlung des Bistumsarchivs Münster; Urheber ist Gustav Albers

„wilde Euthanasie“

Unter dem Begriff „wilde Euthanasie“ wird der Zeitraum nach dem „offiziellen“ Ende der Aktion „T4“ bis zum Ende der NS-Diktatur 1945 bezeichnet. Dieser Phase, in der sich die Tötung von „lebensunwertem Leben“ weg von der zentralen Organisation hin zu einer dezentralen, lokalen Organisation entwickelt, fallen schlussendlich ca. 250.000 bis 300.000 Menschen zum Opfer, zu den frühesten zählen vor allem Patient*innen aus den besetzten polnischen Gebieten. Geprägt wird diese Zeit vor allem durch die Aktion „14f13“ und die „Aktion Brandt“.

Aktion „14f13“

Die Aktion „14f13“ (zusammengesetzt aus „14“ für Inspekteur der Konzentrationslager, „f“ für Todesfälle und „13“ für die Todesart Vergasung) beschreibt die Anschlussnutzung dreier ehemaliger Tötungsanstalten der Aktion „T4“ (Bernburg, Sonnenstein, Hartheim) für die Ermordung von ca. 20.000 „kranken“ und „nicht mehr arbeitsfähigen“ KZ-Häftlingen von 1941 bis Dezember 1944. Ein großer Teil des Personals aus den drei geschlossenen Tötungsanstalten wurde für die gleichzeitig beginnende „Endlösung der Judenfrage“ (Shoa) herangezogen.

„Aktion Brandt“

Die „Aktion Brandt“, benannt nach Hitlers Begleitarzt Karl Brandt, war die dezentrale, aber trotzdem systematische Tötung von Patient*innen der Heil- und Pflegeanstalten ab 1943 im Zuge der Notwendigkeit von Ausweichkrankenhäusern aufgrund der Zunahme des Luftkrieges über Deutschland. Durch die erhöhte Zahl an Luftangriffen mit der damit verbundenen Zerstörung anderer Kliniken sowie einer Vielzahl an Verletzten machten die Umstrukturierung der Heil- und Pflegeanstalten hin zu Lazaretten für die nationalsozialistische Führung notwendig. Hierzu wurden ca. 30.000 Patient*innen, um diese Ausweichkapazitäten zu schaffen, durch Nahrungsentzug oder mittels Medikamentenüberdosen getötet.

Die Haupttäter-/verantwortlichen

Karl Brandt

  • Hitlers Begleitarzt
  • ärztlicher „Euthanasie-Beauftragter“
  • ab 28. Juli 1942 Bevollmächtigter/Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen
  • ab 5. September 1943 Leiter des gesamten medizinischen Vorrats- und Versorgungswesens und Koordinator der medizinischen Forschung
  • SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS
  • zusammen mit Philipp Bouhler und Viktor Brack Hauptorganisator der Aktion T4″
  • im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und am 2. Juni 1948 hingerichtet

Viktor Brack

  • Oberdienstleiter des Amtes II in der Kanzlei des Führers
  • gelernter Wirtschaftswissenschaftler
  • politischer Funktionär der NSDAP
  • SS-Oberführer
  • ab 1939 Leiter der Aktion „T4“
  • zusammen mit Philipp Bouhler und Karl Brandt Hauptorganisator der Aktion „T4“
  • im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und am 2. Juni 1948 hingerichtet

Philipp Bouhler

  • Studium der Philosophie und Germanistik an der späteren LMU München
  • 1921: Schriftleiter des „Völkischen Beobachters“
  • 1925 – 1934: Reichsgeschäftsführer der NSDAP
  • ab 02.06.1933 Reichsleiter der NSDAP
  • ab 17.11.1934 Chef der Kanzlei des Führers
  • Beauftragter Hitlers für die Aktion „T4“
  • Mitinitiator der Aktion „14f13“
  • begann mit seiner Frau nach seiner Festnahme am 19.05.1945 Suizid

Werner Heyde

  • ab 1932 Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Würzburg
  • SS-Standartenführer und Träger des SS-Totenkopfrings
  • medizinischer Leiter der Aktion „T4“ und erster T4-Obergutachter
  • konnte nach dem Ende des 2. Weltkrieges unter dem Pseudonym Dr. Fritz Sawade untertauchen, stellte sich Ende 1959 den Behörden und beging 1964 kurz vor seinem Prozess Suizid

Max de Crinis

  • österreichischer Psychiater und Neurologe
  • Direktor der Universitätsnervenklinik Köln sowie der Psychiatrischen- und Nervenklinik der Charité in Berlin
  • SS-Standartenführer
  • ausgeprägt deutschnational, v.a. aktiv auf dem Gebiet der „Rassenhygiene“ und „Eugenik“ und damit ideologischer Wegbereiter der NS-Verbrechen
  • einflussreicher Nationalsozialist im Bereich der deutschen Psychiatrie
  • führender Protagonist der Kranken- und Behindertenmorde

Ernst Rüdin

  • gebürtiger Schweizer; ab 1912 dt. Staatsbürgerschaft
  • Psychiater, Humangenetiker und Rassenhygieniker
  • ab 1915 außerordentlichen Professor in München
  • ab 1917 Leitung der „Genealogisch-Demographischen Abteilung“ der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München
  • 1925 – 1931 zusätzlich Professor & Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Universität Basel
  • ab 1931 geschäftsführender Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München
  • Kommissar des Reichsinnenministers für die Deutsche Gesellschaft für Rassenkunde
  • federführende Mitarbeit am „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14.07.1933

Waldemar Hoven

  • SS-Hauptsturmführer
  • Lagerarzt im KZ Buchenwald sowie stellvertretender Leiter der Abteilung für Fleckfieber- und Virusforschung des Hygiene-Instituts der Waffen-SS
  • selektierte hunderte kranke Häftlinge während der Aktion 14f13  und ermordete persönlich einen Teil der Häftlinge
  • im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und am 2. Juni 1948 hingerichtet

Aufarbeitung (juristisch & historisch)

Die historische Aufarbeitung der Gräueltaten im Rahmen der „Euthanasie“ bliebt lange aus und ist vereinzelt durch einige Historiker in der Zeit vor 2000 erfolgt. In den 2000er Jahren erhielt die Aufarbeitung, vor allem auch durch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN), welche ihre eigene Geschichte im großen Rahmen aufarbeitete, ein größeres Augenmerk. Man muss diesbezüglich vor allem konstatieren, dass sich der Bereich der Psychiatrie im Nationalsozialismus kaum gegen politische und ideologische Eingriffe gewehrt hat, sondern viel mehr diese wegweisend mitgeprägt haben, egal ob aus überzeugt ideologischen Gründen oder aus menschenverachtend wissenschaftlichen Erwägungen.

Um das Schicksal und die Geschichten der, durch die NS-„Euthanasie“ ermordeten, Menschen nicht zu vergessen, entstand im Jahr 2006 der erste von drei „grauen Busse“ als Denkmal am heutigen Zentrum für Psychiatrie in Ravensburg-Weißenau.

Quelle: Denkmal der Grauen Busse, Wikipedia

Juristisch wurden viele der Täter*innen nie belangt. Zu nennen ist aber der erste Nachfolgeprozess der Nürnberger Prozesse, welche unter anderem zur Verurteilung und Todesstrafe von Karl Brandt und Viktor Brack führten. Schlussendlich kam es zu sieben vollstreckten Todesstrafen, fünf lebenslänglichen Freiheitsstrafen (alle früher entlassen), vier mehrjährigen Freiheitsstrafen (alle früher entlassen) sowie acht Freisprüchen.

Viele der Täter*innen, vor allem aus dem Kreise der Psychiater, waren nach dem Ende des Dritten Reiches sogar hochgeehrt und waren z.B. wie Werner Villinger, Friedrich Mauz, Helmut Ehrhardt und Friedrich Panse spätere Vorsitzende oder wie Friedrich Mauz und Friedrich Panse Ehrenmitglieder der DGPPN.

Psychiater wie der o.g. Helmut Ehrhardt oder Villinger waren nach 1945 als Sachverständige im Rahmen der Wiedergutmachung tätig und rechtfertigten auch zu dieser Zeit und in dieser Position z.B. die Zwangssterilisationen als wissenschaftlich begründet. Sie lehnten bei Bundestagsanhörungen noch in den 60er Jahren die Entschädigung der Opfer der Zwangssterilisation ab, da diese immer noch der „wissenschaftlichen Überzeugung“ entspräche.

Podcastempfehlungen

Zum Abschluss noch zwei interessante Podcastempfehlungen, um sich noch weiter mit dem gesamten Themen-Komplex des Nationalsozialismus in Deutschland auseinanderzusetzen.

Der Podcast „NS-Medizinverbrechen – Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung“ der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg aus dem Jahr 2020/2021 beschäftigt sich mit dem großen Themengebiet der medizinischen Verbrechen im Namen des Nationalsozialismus und seiner menschenverachtenden Ideologie.

Der Podcast „Mal nach den Rechten schauen“ ist zwar primär ein eher juristischer Podcast, der sich aber vor allem der Aufarbeitung der NS-Diktatur und dem Erinnern von wichtigen Personen wie Fritz Bauer widmet, aber trotzdem ein unglaublich empfehlenswerter und lehrreicher Podcast zum gesamten Themenkomplex des Nationalsozialismus in Deutschland.

Quellen

Published inIm Notfall Psychiatrie

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