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selektiver Mutismus – Mehr als nur stumm sein!

Mit diesem Beitrag möchte ich mein neues Projekt „Im Notfall Psychiatrie“ starten. In dieser Reihe widme ich mich dem großen Themenbereich der psychiatrischen Notfälle und möchte dabei versuchen Vorurteile oder Falschinformationen auszuräumen sowie für diesen wichtigen und relevanten Bereich der Notfallmedizin zu sensibilisieren. Starten möchte ich die neue Reihe mit dem seltene, aber spannendem selektiven Mutismus.

Kindernotfälle sind zum Glück rar gesät, was Fluch und Segen zugleich ist. Das Sein und Nicht-Sein von Kindernotfällen ist ein Drahtseilakt. Auf der einen Seite ist wahrscheinlich jede*r froh, wenn auf dem Melder keine pädiatrische Alarmierung zu lesen ist, auf der anderen Seite fehlt es durch die Seltenheit an Übung, Wissen und Ansätzen, was schnell zu Überforderung und ggf. auch zu Fehlern führt. Aus diesem Grund ist es wichtig und notwendig, das Seltene oft zu üben bzw. sich damit zu beschäftigen. Deshalb dreht sich in diesem Beitrag alles um das seltene psychiatrische Erscheinungsbild des selektiven Mutismus. Zahlen über die Häufigkeit des Auftretens sind im paneuropäischen Bereich schwer aufzutreiben, sodass einem nur der Blick über den Ozean, hin nach Amerika, hilft, wo die American Psychiatric Association schwankende Schätzungen von 0,03 bis 1 % der Bevölkerung angibt.

Die meisten werden den Begriff wahrscheinlich noch nie oder nur durch Zufälle gehört haben und noch weniger werden schon Kontakt mit den, vor allem jungen, Patient*innen mit selektivem Mutismus gehabt haben. Deshalb einmal kurz und knapp ein Einstieg in die Thematik. Bei selektivem Mutismus handelt es sich um eine in den meisten Fällen psychische bedingte Hemmung des Sprechens, bei funktionierendem Sprachvermögen, die nicht dauerhaft, aber länger andauernd [selektiv] besteht. Die Hemmung zu Sprechen ist hierbei individuell abhängig von Situationen, Orten, Themen etc. und setzt meistens zwischen dem 3. und 8. Lebensjahr ein. Erstmals beschrieben wurde der selektive Mutismus 1877, damals aber noch als „aphasia voluntaria“. Der Begriff „Mutismus“, vom lateinischen mutus für stumm, fand erst 1934 Verwendung, zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Zusatz „elektiv“ anstatt „selektiv“ versehen.

Ursachen und Risikofaktoren

Ursächlich bzw. als Risikofaktoren identifizierbar sind neben einer genetischen Prädisposition, vor allem sprachliches Überforderungsverhalten, Migration und bilinguales Aufwachsen sowie Überlastungsreaktionen und ggf. auch traumatische Erlebnisse. Darüber hinaus gilt auch das weibliche Geschlecht als risikobehafteter.

Symptomatik

Wie bei eigentlich allen psychiatrischen Erkrankungen ist auch der selektive Mutismus als Spektrum in Bezug auf die Ausprägung anzusehen. Einen guten Überblick über Spektrum und Ausprägung gibt die Selective Mutism Stages of Social Communication Comfort Scale:

STUFE 0 – keine Reaktion auf Sprache – kein Initiieren von Kommunikation
STUFE 1 – nonverbale Kommunikation
STUFE 2 – Übergang zur verbalen Kommunikation
STUFE 3 – verbale Kommunikation

Der selektive Mutismus ist symptomatisch geprägt von einer in bestimmten Situationen andauernden Sprechunfähigkeit bei gleichzeitig bestehender dem Alter entsprechenden Fähigkeit bzgl. Sprachausdruck- & verständnis. In diesen bestimmten Situationen kommt es ggf. auch dazu, dass die Patient*innen wie erstarrt oder eingefroren wirken. Zusätzlich wirken Mimik und Gestik verarmt oder unnatürlich mit verkrampfter Körperhaltung und eingeschränkten Bewegungen sowie verändertem Blickverhalten. Es gibt aber auch Ausprägungen mit gesteigerter motorischer Unruhe, insbesondere der Handmotorik. Die gesamte Symptomatik muss länger als einen Monat andauern.

Charakterisiert sind die Situationen, welche das mutistische Verhalten auslösen, durch:

  • bestimmte Personen z.B. mit autoritärem Auftreten
  • bestimmte Räumlichkeiten bzw. Örtlichkeiten
  • bestimmte Inhalte der Kommunikation (inhaltlich-thematisch überfordernde, peinliche/unangenehme Themen)
  • Situation, welche eine hohe Sprechleistungsanforderung haben
  • Situationen mit einer größeren Länge der geforderten Äußerungen
  • Grad der Exponiertheit
  • sozialen Druck

In anderen, für die Patient*innen „normale“ Situationen, wie zu Hause im Kreise der Familie, besteht oft keine mutistische Ausprägung. Eher wirkt das Verhalten dann gelassen, redselig, ungehemmt oder auch dominant.

Verlauf

In Bezug auf den Verlauf lässt sich der selektive Mutismus in vier Phasen einteilen:

  • Frühphase: geprägt durch sukzessiv auffälligere Kommunikation
    • Kontaktscheue, Rückzugs- und Vermeidungsverhalten
    • zeitlich begrenzte Sprechverweigerung (> 7 Tage, aber < 3 Monate)
    • zunehmende Verarmung der Ausdrucksmittel
    • abnehmendes freiwilliges Antworten
    • mimische Verarmung und Erstarren des Gesichtsausdrucks
    • Monotonie in Bezug auf Sprechrhythmik, Sprachmelodie und Sprechtempo
  • Phase der Instabilität: es finden noch Wechsel zwischen „normaler“ (verbaler) und nonverbaler Kommunikation statt
  • nonverbale Phase: es findet nur noch nonverbale Kommunikation statt
  • vollständige Ausprägung: vollständig fehlende Kommunikation in den jeweils spezifischen Situationen

Komorbiditäten

Zu den häufigsten Komorbiditäten gehören:

  • Angststörungen, v.a. soziale Phobie (70 – 80 %)
  • Trennungsangst (bis zu 30 %)
  • Sprach- und Sprechstörungen sowie Verzögerungen in der sensorischen Verarbeitung (30 – 50 %)
  • generalisierte Angststörungen und spezifische Phobien bei etwa 10 %
  • Depressionen
  • Regulationsstörungen in Bezug auf Schlaf, Essen, Ausscheidungsfunktion oder Verhaltenskontrolle

kommunikative Herangehensweise

Wichtig ist es initial zu betonen, dass Patient*innen mit selektivem Mutismus, genauso wie alle Menschen, auf allen Ebenen mit Mitmenschen und der Umwelt kommunizieren möchte. Kommunikation ist ein soziales Grundbedürfnis!
Das Nicht-Sprechen erfüllt für die Patient*innen einen Zweck, es ist also aktives Handeln, welches niemals zu verurteilen ist. Sollte keinerlei Kommunikation mit den Patient*innen möglich sein, sollte die Kommunikation nur über Bezugspersonen (Eltern, Geschwister etc.) erfolgen.

DO’s in der Kommunikation mit Patient*innen

  • Setting etablieren, welches für das Kind den bestmöglichen Safe-Place darstellt
  • initial um das Kind herum sprechen, z.B. mit Eltern, Geschwistern etc., und somit dem Kind Zeit geben sich zu akklimatisieren
  • Grundhaltung von Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit einnehmen
    • Humor ist ein elementarer Bestandteil in der Mutismustherapie, ist aber in Stresssituationen wie in der Notfallmedizin mit Vorsicht zu genießen
  • defokussierte Kommunikation
    • neben das Kind und nicht gegenübersetzen
    • Einbinden spielerischer Element anstatt ein „Verhör“ zu führen (Nutzen von Requisiten wie Spielzeug oder Kuscheltier zum vorsichtigen Herantasten)
    • Fragen in lautes Denken verpacken und nicht wie im „Verhör“
    • 5-Second-Rule: Kind genug Zeit geben, auf die eigene Art und Weise zu reagieren
    • Vermeidung von ausufernden Gesprächen (Gefahr der Überforderung)
  • Fragen direkt und geschlossen stellen (Ja-/Nein-Fragen)
    • im Verlauf können ggf. vorsichtige Versuche von offenen Fragestellungen in Betracht gezogen werden (stark patient*innenabhängig)
  • auf nonverbale Kommunikation eingehen und diese ggf. auch als einzige Form der Kommunikation akzeptieren; Beobachtung der Körpersprache ist hier mit das Wichtigste!
  • kein übermäßiges Loben/Hervorheben von ersten, auch vorsichtigen Äußerungen des Kindes
  • zum „Sportkommentator“ werden
    • rekapitulieren, was das Kind macht und sagt („Ich sehe, du zeigst auf das Bild in deinem Buch““, um damit auf das Kind einzugehen und dem Kind zu zeigen, dass man wahrnimmt, was das Kind tut und dass es sich dabei wahrscheinlich um für das Kind wichtige Handlungen oder Themen handelt
  • kennzeichnendes Loben, welches dem Kind zeigt, wofür es gelobt wird und somit zur Motivation werden kann, dies weiter zu tun
    • „Das hast du toll gemacht, dass du mir gesagt hast, dass du dein Kuscheltier willst!“ anstatt einem einfach „Das hast du toll gemacht!“

DONT’s in der Kommunikation mit Patient*innen

  • Nicht zum Sprechen/Kommunizieren zwingen, auch kein Erzwingen von Blickkontakt! Auch kein wiederholtes Erbeten und Erbetteln, ggf. auch Bestechen des Kindes!
  • Die für das Kind wichtige „Aufwärmphase“ vernachlässigen!
  • Ohne vorherige Absprache mit den Eltern (Tipps im Umgang etc.) mit dem Kind Kontakt aufnehmen!
  • Keine offenen Fragen stellen!
  • Keine Verärgerung über ausbleibende verbale/non-verbale Antworten des Kindes zeigen!

PsychFacts – selektiver Mutismus

Hier findest Du die PsychFacts zum selektivem Mutismus mit allem Wichtigen auf einen Blick: PsychFacts – selektiver Mutismus

Quellen

  • „Mutismus“ auf Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Mutismus (Abrufdatum: 06.11.2022)
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  • Child Mind Institute Family Resource Center. „Teachers Guide to Selective Mutism“. Zugegriffen 22. November 2022. https://childmind.org/guide/teachers-guide-to-selective-mutism/.
Published inIm Notfall Psychiatrie

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