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Leitlinie „Treatment and Prevention of Drowning“ der WMS (Update 2024)

veröffentlichende Fachgesellschaft: Wilderness Medical Society
Klassifikation gemäß AWMF:
Datum der Veröffentlichung: 31.01.2024
Ablaufdatum:
Quelle/Quelllink: https://doi.org/10.1177/10806032241227460

Grundsätzliches

  • Definition „Ertrinken“ gemäß World Congress on Drowning (2002): „Vorgang, bei dem es zu einer Beeinträchtigung der Atmung durch Untertauchen oder Eintauchen in eine Flüssigkeit kommt“ basierend auf dem Verständnis, dass „eine Beeinträchtigung der Atmung eintritt, wenn die Atemwege der Person unter die Oberfläche der Flüssigkeit geraten (Submersion) oder Wasser über das Gesicht spritzt (Immersion)“
  • Definition gemäß World Congress on Drowning (2002) lässt nur drei Ergebnisse nach dem Ertrinken zu:
    • nicht-tödliches Ertrinken mit Folgeschäden
    • nicht-tödliches Ertrinken ohne Folgeschäden
    • tödliches Ertrinken
  • folgende Modifikatoren sollten im Zusammenhang mit Ertrinken nicht verwendet werden: nahe, nass, trocken, aktiv, passiv, Salzwasser, Süßwasser oder sekundär
  • primäre pathophysiologische Problematik beim Ertrinken ist die zerebrale Hypoxie und das Hauptziel der Therapie/Wiederbelebung ist die rasche Umkehr selbiger

Epidemiologie

  • jährlich 236.000 Todesfälle aufgrund Ertrinkens weltweit (CAVE: hohe Dunkelziffer)
  • Altersgruppe mit dem höchsten Risiko des Ertrinkens weltweit: 1 – 4 Jahre
  • Hauptursache für verletzungsbedingte Todesfälle bei Kindern im Alter von 1 – 4 Jahren
  • jährlich ca. 4000 Ertrinkungstote + 658 Todesfälle durch Bootsfahrten in den USA, wovon 81 % auf Ertrinken zurückzuführen waren (2005 – 2014)
  • > 90 % der weltweiten Todesfälle durch Ertrinken ereignen sich in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen
  • 2010 12.900 Fälle von Ertrinken in Notaufnahmen in den USA, 20 % davon bedurften einer KH-Aufnahme
  • 48 % höhere Wahrscheinlichkeit für Todesfälle durch Ertrinken an Wochenenden
  • 53 % aller männlichen und 26 % aller weiblichen Ertrinkungstodesfälle ereigneten sich in natürlichen Gewässern

Klassifikation

Gradpulmonaler Befundkardialer BefundMortalität
0normale Auskultation ohne HustenRadialispuls tastbar0 %
1normale Auskultation mit HustenRadialispuls tastbar0 %
2Rasselgeräusche, kleiner Schaum in den AtemwegenRadialispuls tastbar0,6 %
3akutes LungenödemRadialispuls tastbar5 %
4akutes LungenödemHypotension19 %
5AtemstillstandHypotension44 %
6Herz-KreislaufstillstandHerz-Kreislaufstillstand93 %

Reaktionsphasen in kaltem Wasser (Atemwege über Wasser)

  • Phase 1: „Kälteschockreaktion“ mit Keuchen und Hyperventilation (Dauer: ca. 30 – 90 sec)
  • Phase 2: „kalte Entkräftigung“ mit Abkühlung der Muskel- und Nervenfasern, die zu Schwäche und Koordinationsstörungen führt (Beginn nach wenigen Minuten mit Übergang in Handlungsunfähigkeit nach > 10 min)
  • Phase 3: „Unterkühlung“ mit Gefahr des Ertrinkens, wenn Wellen die Atemwege bedecken (Dauer bis Eintritt: 30 oder mehr Minuten)
  • ggf. Phase 4: „Rettungskollaps“/Kreislaufkollaps, da Rettung zu mentaler Entspannung und plötzlicher Verringerung des Adrenalinspiegels führen kann, was erhöhte periphere Durchblutung zur Folge hat, die RR und Kerntemperatur senkt und Stoffwechselnebenprodukte aus der Peripherie zum gereizten Herzen transportiert

Rettung ertrinkender Personen

  • Durchführung von Rettungsversuchen von sicheren Ort aus, sofern keine Wasserrettungsausbildung vorhanden (z.B. Zuwerfen von Seil oder Rettungsring)
  • sofern spezielle Rettungsgeräte für die Rettung aus dem Wasser genutzt werden, sollten ausreichende Kenntnisse bzgl. der Nutzung vorliegen
  • bei untertauchenden Fahrzeugen sofortige Befreiung nach dem Eintauchen ins Wasser (CAVE: sobald das Fahrzeug sinkt, von selbigem entfernen und in Sicherheit bringen)
  • bei (noch) schwimmenden Fahrzeugen Personen beim Herausklettern aus selbigem helfen und ggf. das Fahrzeug selbst initial als sichere Sitzfläche nutzen
  • Wiederbelebung im Wasser (In-Water-Resuscitation, IWR) nur durch ausgebildete Helfende, wenn die Wasserbedingungen ausreichend sicher hierfür sind und der Ort der Reanimationsversuche ausreichend weit entfernt von Land/sicherem Ort ist, um die IWR zu rechtfertigen (CAVE: keine Versuche der Herzdruckmassage im Wasser)
  • falls IWR nicht möglich, schnelle Befreiung ohne Verzögerung

initiales Management

  • initiales Management sollte vorrangig auf Atemwegssicherung & O2-Gabe abzielen und nicht auf den Einsatz von AED/Defibrillator, da schockbare Rhythmen beim Ertrinken selten sind (AED/Defibrillator-Einsatz in nasser Umgebung ist nicht kontraindiziert)
  • bei Herzstillstand Herzdruckmassage, Überdruckbeatmung und Versorgung nach ABC-Schema
  • nach Atemwegssicherung (CAVE: korrekte Platzierung) regelmäßige Beatmung (alle 6 – 8 sec)
  • O2-Gabe mit der höchsten verfügbaren Konzentration
  • bei Atemnot oder Atemstillstand lungenschonende Beatmung mit positiven Beatmungsdrücken
  • keine Anwendung des Heimlich-Manövers
  • NIV-Einsatz nur bei wachen Ertrinkungspatient*innen mit leichten bis mittelschweren respiratorischen Symptomen zu erwägen (CAVE: Patient*innen mit verändertem Bewusstseinszustand und/oder aktivem Erbrechen)
  • bei Anzeichen wie z.B. fokale neurologische Defizite oder veränderter Bewusstseinszustand nach risikoreiche Aktivitäten (Extremsport), besteht erhöhtes Risiko einer Wirbelsäulenverletzung (CAVE: gilt nicht für Patient*innen, die nachweislich kein Trauma erlitten haben)

weitere Therapie

  • keine routinemäßigen initialen Thorax-Röntgenaufnahmen (CAVE: keine Korrelation mit arterieller BGA)
  • kein routinemäßiges initiales Kopf-CT, da keinen prognostischen Wert
  • kein routinemäßiges Neuroimaging bei wachen & orientierten Patient*innen
  • keine routinemäßige Durchführung eines vollständigen Blutbildes oder einer Elektrolytuntersuchung
  • bei Anzeichen von Hypoxämie oder Atemnot (z.B. Zyanose, niedrige SpO2, Tachypnoe, anhaltende Tachykardie) arterielle BGA erwägen
  • keine empirische Antibiotikatherapie bei der initialen Therapie (bei Pneumonie Antibiotikatherapie gesteuert abhängig vom Bakterienkultur-Ergebnis aus Sputum oder endotrachealem Aspirat, Blutkulturen oder Urin-Antigentests, falls dies nicht möglich Steuerung anhand körperliche Anzeichen wie z.B. Fieber, vermehrtem Auswurf, abnormer Lungenauskultation)
  • keine routinemäßige Gabe von Kortikosteroiden
  • keine ausreichende Evidenz, um Einleitung oder Aufrechterhaltung des Targeted Temperature Management (TTM) zu empfehlen oder davon abzuraten

Sonstiges

  • bei bekannter Ertrinkungszeit in Wasser mit Temperatur > 6°C von mehr als 30 min oder in Wasser mit Temperatur < 6 °C von mehr als 90 min Rettung einstellen und zur Körperbergung übergehen
  • Einstellung von Wiederbelebungsmaßnahmen nach > 30 min kontinuierlicher Reanimation
  • Einstellung von Rettungsmaßnahmen, sofern zu irgendeinem Zeitpunkt während der Such- und Rettungsmaßnahmen die Sicherheit des Rettungsteams unannehmbar gefährdet ist
  • wenn ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen und die Sicherheit des Rettungsteams nicht gefährdet ist, kann die verlängerte Durchführung von Wiederbelebungsmaßnahmen erwogen werden, auch im Bewusstsein, dass Wiederbelebungsversuche wahrscheinlich vergeblich sein werden
  • sofortiger Transport in geeignete Klinik bei abnormalen Lungengeräuschen, starkem Husten, schaumigem Auswurf, schaumigem Material in den Atemwegen, Verwirrtheitszuständen oder Hypotonie (CAVE: sofern Risiken des Transports den potenziellen Nutzen überwiegen)
  • bei asymptomatischen Patient*innen (abgesehen von leichtem Husten) und normalem Auskultationsbefund Verbleib an Einsatzstelle unter Beobachtung einer anderen Person für die nächsten 4 – 6 h erwägen (erneute Vorstellung bei Entwicklung von Symptomen)
  • nach Beobachtungszeit von 4 – 6 h in Notaufnahme bei normalem Bewusstseinszustand, normaler/normalisierter Atmung und ohne weitere Verschlechterung der Atemfunktion Entlassung aus der Notaufnahme
Published inLeitlinien kompakt

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