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Was ist eigentlich… eine Skin-Picking-Störung?

Die Skin-Picking-Störung, auch Dermatillomanie oder Exkoriationsstörung genannt, ist eine psychische Erkrankung, welche sich durch das zwanghafte Kratzen, Zupfen oder Quetschen der eigenen Haut, v.a. Stellen mit unreiner Haut in Zusammenhang mit Akne, mit konsekutiven Hautläsionen (Verletzungen, Infektionen und Narbenbildung) zeigt, ggf. auch unter Zuhilfenahme von Pinzetten, Nadeln, Scheren oder Messern. Pragmatisch gesagt handelt es sich um die Sucht nach reiner Haut. Die Dermatillomanie führt in der Regel auch zu einem starken Leidensdruck sowie erheblichen Einschränkungen im persönlichen, familiären, sozialen, schulischen oder beruflichen Bereich.

Die Exkoriationsstörung gehört zu den Zwangsstörungen, unterscheidet sich aber in einigen relevanten Punkten von anderen spezifischen Zwangsstörungen, dazu gehören z.B. die fehlende oder nicht so stark ausgeprägte Obsession, das Belohnungsgefühl beim Zupfen oder Kratzen im Gegensatz zu anderen Zwangsstörungen sowie die entstehende Selbstbeschädigung, welche so bei Zwangsstörungen auch nicht vorliegt.

Erstmals beschrieben wurde die Skin-Picking-Störung vom englischen Chirurg Erasmus Wilson unter dem Namen „Neurotic Excoriation“ (1875) bzw. „Acne excoriée“ (1895).

Insgesamt zählt die Dermatillomanie in den Bereich der Body-focused repetitive behavior (BFRH), also der körperbezogenen, repetitiven Verhaltensweisen, zu denen auch die Onychotillomanie (Nägelkauen/-zupfen) und Trichotillomanie (Haareausreißen) zählen.

Epidemiologie

  • allgemeines „Hautbearbeiten“ kommt in der Allgemeinbevölkerung bei ca. 62 % vor
  • Punktprävalenz der Dermatillomanie: 1,2 – 2 % (Punktprävalenz bei 4- bis 17-Jährigen: 25 %)
  • Punktprävalenz der Dermatillomanie bei Patient*innen mit dermatologischen Erkrankungen: ca. 22 %
  • Lebenszeitprävalenz der Dermatillomanie: 3 – 5,4 %
  • insgesamt große Dunkelziffer und wahrscheinlich nur bis zu 20 % der Betroffenen in Behandlung
  • erster Altersgipfel besonders häufig in der späten Kindheit oder frühen Jugend und zweiter Altersgipfel in der Altersspanne zwischen 30 und 45 Jahren (CAVE: Erkrankungsalter bei ca. 13,5 Jahren und Diagnosestellung häufig erst im Erwachsenenalter)
  • Geschlechtsverteilung: 2 – 3 Frauen auf 1 Mann (CAVE: hohe Dunkelziffer bei Männern, wahrscheinlich nur ca. 55 % Frauen)
  • 40 % der Betroffenen schränken ihre sozialen Aktivitäten aufgrund der Erkrankung ein

Ursachen bzw. direkte Auslöser

Klare und gesicherte Ursachen für die Dermatillomanie liegen nicht vor, jedoch wird wie bei vielen psychischen Erkrankungen von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen, darunter z.B. Punkte wie:

  • genetische Prädisposition (v.a. bei Verwandschaftsverhältnissen Grad 1)
  • veränderte Gehirnstruktur (vermehrte Aktivität in Arealen, die die Mechanismen der Hemmung, Aktionsüberwachung und Ausübung von Gewohnheiten steuern)
  • Bewältigungsmechanismus für Stress, Angstzustände oder andere Erkrankungen, aber auch Langeweile (gebunden an best. Situationen, Orte, Gefühle, Gedanken, Tätigkeiten oder Tageszeiten)
  • Hauterkrankungen mit trockener, juckender und gereizter Haut sowie anderen Hautunreinheiten

Anamnese & Diagnostik

In Bezug auf die Anamnese und Diagnostik ist vor allem auf Grundlichkeit und Ausführlichkeit zu achten. Eine genaue körperliche Untersuchung bzgl. etwaigen Hautdefekten oder ähnlichem ist von hoher Relevanz, genauso wie eine genaue Anamnese hinsichtlich der nachfolgenden Punkten. Zusätzlich bietet sich für das initiale Screening zum Beispiel die Skin Picking Impact Scale (Cut-Off > 7 dient zur Abgrenzung von selbstverletzendem Verhalten an.

Diagnosekriterien

Die Diagnose „Skin-Picking-Störung“ (6B25.1) ist gemäß der ICD-11 zu stellen bei folgenden Faktoren:

  • wiederholtes Zupfen der eigenen Haut, verbunden mit Hautläsionen (am häufigsten Gesicht, Arme & Hände und oft an mehreren Körperstellen)
  • erfolglose Versuche, das Verhalten zu verringern oder zu beenden
  • Auftreten des Zupfen der Haut in kurzen, über den Tag verteilten Episoden oder in weniger häufigen, aber länger andauernden Phasen
  • erheblicher Leidensdruck oder erhebliche Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen

Gemäß dem DSM-5 liegt eine „Excoriation Disorder“ (DSM-5 698.4) vor, wenn die nachfolgenden Faktoren vorliegen:

  • wiederkehrendes Hautzupfen, welches zu Hautläsion führt
  • wiederholte Versuche, das Hautzupfen zu unterlassen oder zu reduzieren
  • Hautzupfen führt zu signifikantem Leid bei Betroffenen oder Beeinträchtigungen in der sozialen, beruflichen oder sonstigen Funktionsfähigkeit
  • Hautzupfen lässt sich nicht auf physiologische Effekte einer Substanzeinnahme oder eine andere medizinische Erkrankung zurückführen
  • Hautzupfen kann nicht (besser) durch eine andere psychische Störung erklärt werden (z.B. Wahnvorstellung, körperdysmorphe Störung, stereotype Bewegungsstörung etc.)

Symptomatik

  • zwanghaftes Hautzupfen/-kratzen/-quetschen/-ziehen, v.a. im Bereich von rauen Hautstellen, Hautunreinheiten oder Unregelmäßigkeiten wie Pickeln, Akne, Neurodermitis, Hyper- & Hypopigmentierung o.Ä. (häufig betroffen sind Gesicht, Kopfhaut, Nacken, Finger, Hände, Unterarme sowie Oberschenkel, Waden, Füße oder Zehen)
  • Hautschäden, bedingt durch das Hautzupfen/-kratzen/-quetschen/-ziehen (ggf. sogar tiefe, bizarr konfigurierte Narbenkratern)
  • in schweren Fällen chirurgische Eingriffe wie z.B. eine Hauttransplantation erforderlich, aber auch Infektionen oder Sepsis mit der Notwendigkeit einer Antibiotika-Therapie etc.
  • Nutzung von Pinzetten, Nadeln, Scheren, Messer o.Ä. als Hilfsmittel
  • ansteigendes Gefühl von Spannung oder Erregung vor Durchführung
  • Wissen um die negativen Konsequenzen des Verhaltens
  • Beendigung der Schädigung meist erst, wenn der Drang nachlässt oder Erschöpfung einsetzt
  • Schamgefühl, Reue und Selbstvorwürfen mit Angst, Depression oder sozialer Isolation nach der Hautschädigung
  • Versuch die Hautschäden mittels Kleidung, Make-up oder anderen Mitteln zu verbergen
  • Leidensdruck und Beeinträchtigung von Arbeits-, Schul- und/oder Sozial- sowie Intimleben
  • Zeitumfang für Hautschädigung stark schwankend (Extremfälle mit bis zu 150 Episoden pro Tag möglich)
  • Beschreibung der gesamten Problematik als „Teufelskreis“ oder Ähnliches, ausgenommen von der Phase der Schädigung selbst, welche mit Gefühlen der Entspannung/Erleichterung beschrieben wird

Zusätzlich lässt sich das Auftreten der Störung in zwei Formen unterscheiden. Bei der automatischen Form erfolgt die Schädigung der Haut wie in einem tranceähnlichen Zustand komplett automatisch und beginnt meistens mit dem automatisierten „Scanning“, also dem Absuchen der Haut mit den Finger/Händen nach spezifischen Hautstellen, gefolgt von der eigentlichen Hautschädigung. Die automtisierte Form liegt bei 76 % der Patient*innen mit einer Skin-Picking-Störung vor. Bei der fokusierten/ritualisierten Form ist das „Picking“ auf bestimmte Bereiche fokussiert, oft für mehrere Stunden. Die fokusierte Form ist i.d.R. erheblich schwerwiegender und führt erheblich häufiger zu relevanten Hautschäden.

Differentialdiagnosen

  • Zwangsstörung
  • Trichotillomanie oder andere körperbezogenen, repetitiven Verhaltensweisen (BFRH)
  • selbstverletzendes Verhalten
  • körperdysmorphe Störung
  • Essstörungen

Komorbiditäten

  • Depressionen (12,5 – 48 %)
  • Substanzabhängigkeiten (incl. psychoaktive Substanzen & Alkohol; 14 – 36 %)
  • Angststörungen (8 – 23 %)
  • generalisierte Angststörungen (12,5 – 48 %)
  • Onychophagie (Fingernägelkauen; ca. 65,4 %)
  • Persönlichkeitsstörungen (ca. 66,7 %)
  • Zwangsstörungen
  • Prader-Willi-Syndrom
  • bipolare Erkrankung
  • Nebenwirkung von Arzneimitteln oder Drogen (z.B. Kokain, Amphetamin)

Therapie

Wie bei den meisten psychiatrischen Erkrankungsbildern gibt es auch bei der Skin-Picking-Disorder einen dualen Ansatz aus psychotherapeutischer und medikamentöser Therapie. Im Rahmen der Psychotherapie kommen vor allem (kognitive) verhaltenstherapeutische Ansätze zum tragen, i.d.R. Training zur Gewohnheitsumkehr, welches 1973 entwickelt wurde, um unerwünschte Gewohnheiten durch eine bessere Selbstwahrnehmung und neu erlernte Verhaltensweisen zu verändern. Das Gewohnheitsumkehrtraining berücksichtigt hierbei die folgenden Aspekte:

  • Sensibilisierungstraining (Identifikation von Auslösern und Selbstüberwachung)
  • Stimuluskontrolle (Situationsmodifikation, z.B. mit Vermeidung von Auslösern)
  • Training mit konkurrierenden Reaktionen (Erlernen anderer Verhaltensweisen)

Laut neuester Untersuchungen kommt es beim Habit-Reversal-Training bei ca. 50 % der Patient*innen zu einem Rückgang der Skin-Picking-Problematik zu einem deutlichen Rückgang. Zusätzlich zur Verhaltenstherapie sind oftmals auch gruppentherapeutische Settings, v.a. mit Gleichaltigen, sehr sinnvoll.

Medikamentös kommen vor allem selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) oder Clomipramin als antidepressive Komponente, genauso wie Glutamatmodulatoren wie N-Acetylcystein oder Memantin zum Einsatz. Zusätzlich ist ggf. der Einsatz von Antikonvulsiva wie Lamotrigin zu erwägen, welches in einigen Studien hilfreich bei der Therapie der Dermatillomanie war.

Unabhängig von der Behandlung der psychiatrischen Komponente der Dermatillomanie sind ggf. plastisch-chirurgische Eingriffe sowie andere medizinische Therapien notwendig, um die Folgen der Hautschäden sowie die Hautschäden selbst zu behandeln.

PsychFacts

Passend zum heutigen Beitrag gibt es natürlich auch wieder ein PsychFacts mit allen wichtigen Infos kurz und knapp zusammengefasst:

PsychFacts – Skin-Picking-Störung

Quellen

Published inIm Notfall Psychiatrie

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