veröffentlichende Fachgesellschaft: Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien (NVL) der Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften zur Qualitätsförderung in der Medizin
Klassifikation gemäß AWMF: S3
Datum der Veröffentlichung: 16.11.2015
Ablaufdatum: 15.11.2020
Quelle/Quelllink: https://www.leitlinien.de/themen/depression
Definition
- psychische Störung, gekennzeichnet durch deutlich gedrückte Stimmung, Interessenlosigkeit, Antriebsminderung über längeren Zeitraum
- häufig verbunden mit verschiedenen körperlichen Beschwerden
- es gelingt nur schwer oder nicht alltägliche Aufgaben wahrzunehmen
- Betroffene leiden unter starken Selbstzweifeln, Konzentrationsstörungen und Grübelneigung
Verlauf
Klassifikation
- syndromale Klassifikation
- unipolare depressive Störung
- keine Phasen gehobener, euphorischer oder gereizter Stimmungslage
- bipolare Störung
- Phasen gehobener, euphorischer oder gereizter Stimmungslage (Manie, Hypomanie, Zyklothymie, gemischt manisch depressive Phasen)
- Zyklothymie
- unregelmäßiger wechselnder Verlauf von hypomanen und minimal depressiven Phasen
- unipolare depressive Störung
- Klassifikation nach Schweregrad
- leicht
- mittelgradig
- schwer
- Einordnung des Schweregrades erfolgt über Anzahl erfüllter Haupt- und Zusatzsymptome
Symptomatik und Diagnostik
depressive Episode
- Hauptsymptome
- depressive, gedrückte Stimmung
- Interessenverlust und Freudlosigkeit
- Verminderung des Antriebs mit erhöhter Ermüdbarkeit (oft selbst nach kleinen Anstrengungen) und Aktivitätseinschränkung
- Zusatzsymptome
- verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
- vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
- Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit
- negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
- Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen
- Schlafstörungen
- verminderter Appetit
- Subtypisierung somatisches Syndrom
- Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten
- mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren
- frühmorgendliches Erwachen, zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit
- Morgentief
- objektiver Befund einer psychomotorischen Hemmung oder Agitiertheit
- deutlicher Appetitverlust
- Gewichtsverlust, häufig mehr als 5 % des Körpergewichts im vergangenen Monat
- deutlicher Libidoverlust
- Subtypisierung psychotische Symptome
- Wahnideen
- Halluzinationen
- depressiver Stupor
- rezidivierende depressive Störung
- mindestens eine weitere depressive Episode in der Vorgeschichte identifizierbar
- Dysthymie
- lang anhaltende (chronifizierte) und gewöhnlich fluktuierende depressive Stimmungsstörung
Diagnosestellung
- min. zwei (schwere Episode: drei) Hauptsymptome müssen mindestens zwei Wochen anhalten
- zusätzlich zu den Hauptsymptomen min. zwei (leichte Episode, F32.0), drei bis vier (mittelgradige Episode, F32.1) bzw. min. vier (schwere Episode, F32.2) Zusatzsymptome
- somatische Syndrom ist bei leichter (F32.01) bzw. mittelgradiger depressiver Episode (F32.11) nur dann zu klassifizieren, wenn wenigstens vier Merkmale des somatischen Syndroms eindeutig feststellbar sind
- schwere depressive Episode kann zusätzlich „mit psychotischen Symptomen“ (F32.3) klassifiziert werden, wenn o.g. Symptome auftreten
- Fremdanamnese wichtig, da sie häufig zusätzliche wichtige Informationen liefert, v.a. zu Beginn, Rezidiven sowie Zusatzsymptomen der Depression
Symptome, welche als Red Flag gelten
- da depressive Patienten selten spontan über typische depressive Kernsymptome berichten und eher unspezifische Beschwerden wie Schlafstörungen mit morgendlichem Früherwachen, Appetitminderung, allgemeine Kraftlosigkeit, anhaltende Schmerzen und/oder körperliche Beschwerden angeben, soll das Vorliegen einer depressiven Störung bzw. das Vorhandensein weiterer Symptome einer depressiven Störung aktiv exploriert werden
- allgemeine körperliche Abgeschlagenheit, Mattigkeit
- Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen)
- Appetitstörungen, Magendruck, Gewichtsverlust, Obstipation, Diarrhöe
- diffuser Kopfschmerz
- Druckgefühl in Hals und Brust, Globusgefühl
- funktionelle Störungen von Herz und Kreislauf (z.B. Tachykardie, Arrhythmie, Synkopen), Atmung (z.B. Dyspnoe), Magen und Darm
- Schwindelgefühle, Flimmern vor den Augen, Sehstörungen
- Muskelverspannungen, diffuse Nervenschmerzen (neuralgiforme Schmerzen)
- Libidoverlust, Sistieren der Menstruation, Impotenz, sexuelle Funktionsstörungen
- Gedächtnisstörungen
Risikofaktoren
- frühere depressive Episoden
- bipolare oder depressive Störungen in der Familiengeschichte
- Suizidversuche in der eigenen Vor- oder der Familiengeschichte
- komorbide somatische Erkrankungen
- komorbider Substanzmissbrauch bzw. komorbide Substanzabhängigkeit
- aktuell belastende Lebensereignisse
- Mangel an sozialer Unterstützung
Differentialdiagnosen
- Panikstörung
- generalisierte Angststörung
- soziale Phobie
- Agoraphobie
- posttraumatische Belastungsreaktion
- spezifische Phobie
- Zwangsstörung
- manische oder hypomanische Episoden
- Essstörung
- Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit
- Medikamentenmissbrauch oder -abhängigkeit
- Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit
Suizidalität
- 30-mal höheres Risiko
- bei jedem Patienten mit einer depressiven Störung Suizidalität regelmäßig bei jedem Patientenkontakt klinisch einschätzen und ggf. explorieren
- bei akuter Suizidgefährdung und fehlender Absprachefähigkeit Patienten unter Berücksichtigung der individuell erforderlichen Sicherheitskautelen notfallmäßig in eine psychiatrische Behandlung überweisen
Management bei Suizidgefahr
- Definition „Suizidalität“
- „Erlebens- und Verhaltensweisen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln oder passives Unterlassen oder durch Handeln lassen den Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen“
- Suizidalität bei depressiven Patienten immer direkt thematisieren, präzise und detailliert erfragen und vor dem Hintergrund vorhandener Ressourcen beurteilen
Klassifikation
- passiver Todeswunsch (Wunsch nach Ruhe oder Pause)
- Suizidgedanken/-ideen
- Suizidpläne/-vorbereitungen
- suizidale Handlung
Risikofaktoren
- frühere Suizidversuche (wichtigster Risikofaktor!)
- drängende Suizidgedanken, konkrete Suizidpläne oder Vorbereitung suizidaler Handlungen
- „harte“ Methode
- keine Distanzierung von Suizidideen/Suizidversuch nach längerem Gespräch
- Abschiedsvorbereitungen
- Suizidarrangement
Symptomatik
- Gefühle von großer Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Wertlosigkeit und Schuld
- keine Zukunftsvorstellungen
- starke Eingeengtheit auf den Suizid (präsuizidales Syndrom), starker Handlungsdruck
- zunehmender sozialer Rückzug, Verabschiedung von Menschen, Verschenken von Wertgegenständen, Regelung letzter Dinge (Testament, Versicherungen, Papiere)
- offene und verdeckte Ankündigungen von Suizid
- Patient reagiert gereizt, aggressiv, agitiert, ängstlich oder panisch
- altruistische (pseudoaltruistische) Suizidideen
- Selbstopferungsideen
- Ideen erweiterter Suizidalität (Einbeziehung z.B. der Partner oder Kinder)
- depressiver Wahn oder anderweitig psychotische Depression (Gefahr des raptusartigen Suizids)
- persistierende Schlafstörung, Anhedonie, Gewichtsverlust und schlechte Konzentrationsfähigkeit
- Substanzabusus bzw. –abhängigkeit
Hauptaspekte der Suizidprävention
- Gesprächs- und Beziehungsangebot
- Raum und Zeit zur Verfügung stellen (Zuwendungsangebot)
- Sicherung eines emotionalen Zugangs und einer entsprechenden emotionalen Reaktion des Patienten
- beruhigende Versicherung, dass Hilfe möglich ist
- offenes, direktes, ernst nehmendes Ansprechen von Suizidalität
- Entdramatisierung sowie Vermeidung von Bagatellisierung
- Fragen nach bindenden, d. h. am Suizid hindernden äußeren (z. B. Familie, Kinder, religiöse Bindung usw.) und inneren Faktoren (z. B. Hoffnung auf Hilfe, frühere Erfahrungen, Vertrauen); je mehr bindende Faktoren genannt werden können, je mehr Gründe Patienten finden, die für das Leben sprechen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie ihren Suizidgedanken entsprechend handeln
- Vermittlung von Hoffnung, Hilfe und Chancen auf Veränderung (Zukunftsorientierung) sowie ein Angebot für weitere Therapie (selbst oder Vermittlung) und eine entsprechende Planung
- konkrete Vereinbarung über regelmäßigen zusätzlichen Kontakt (direkt oder telefonisch, mit Uhrzeit und Ort) und Klärung des Behandlungssettings (ambulant/stationär)
- suizidale Patienten müssen eine besondere Beachtung und Betreuung im Sinne einer Intensivierung des zeitlichen Engagements und der therapeutischen Bindung erhalten; konkretes Betreuungsangebot richtet sich nach den individuellen Risikofaktoren, der Absprachefähigkeit des Patienten und Umgebungsfaktoren
- Diagnostik von Suizidalität einschließlich Risikofaktoren
- Diagnostik bei suizidalen Patienten schließt Erfassung der graduellen Ausprägung der Suizidalität und Abschätzung des aktuellen Handlungsdrucks bzw. die aktuelle Distanzierung von Suizidalität ein
- Klärung und Regelung der aktuellen Situation
- Herstellung tragfähiger Beziehung, Klärung aktueller Anlass, Notwendigkeit akuter psychopharmakotherapeutischer Maßnahmen
- Zulassen von Trauer, Wut und Angst
- Erkennen von Suizidalität
- Klärung der „sichernden Fürsorge“: Vermeiden von Alleinsein, Einbeziehung positiv erlebter Bezugspersonen
- Klärung des adäquaten Behandlungssettings (ambulante/stationäre)
- nach internistischer/chirurgischer Erstversorgung bei Suizidversuch konsiliarische Abklärung durch FA für Psychiatrie und Psychotherapie
- weitere Hilfsmöglichkeiten aktiv klären und planen
- psychotherapeutisch orientierte Krisenintervention:
- Beginn sofort (Gespräch/Beziehung), Erkennen des Anlasses/Auslösers
- Verbündung mit dem Patienten gegen Existenzangst, Verlustangst, Hilflosigkeitsgefühle, usw.
Therapieplanung unter Berücksichtigung der Suizidgefahr
- Klärung und Besprechung der weiteren Therapie (ambulant oder stationär)
- Behandlung der Grundstörung (psychische Störung/Krise; hier depressive Störung) nach den entsprechenden Regeln von Psychopharmakotherapie, Psychotherapie und psychotherapeutischer Basisbehandlung
- Planung/Beginn Psychopharmakotherapie und/oder Psychotherapie unter Berücksichtigung von Suizidalität
Indikationen für stationäre Therapie
- Notwendigkeit einer medizinischen Versorgung nach einem Suizidversuch
- Notwendigkeit eines intensiven psychiatrischen Managements (z. B. bei Vorliegen psychotischer Symptome oder einer therapieresistenten Depression)
- mangelnde Absprachefähigkeit
- Etablierung tragfähiger therapeutischer Beziehung und Krisenintervention gelingen nicht und die betroffene Person bleibt trotz initialer Intervention suizidal
- betroffene Person verfügt über ungenügende psychosoziale Unterstützung für eine ambulante Behandlung
- stationäre Einweisung sollte für suizidale Patienten unbedingt erwogen werden,
- die akut suizidgefährdet sind
- die nach einem Suizidversuch medizinischer Versorgung bedürfen
- die wegen der zugrundeliegenden depressiven Störung einer intensiven psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Behandlung bedürfen
- wenn eine hinreichend zuverlässige Einschätzung des Weiterbestehens der Suizidalität anders nicht möglich ist
- wenn die Etablierung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung nicht gelingt und die Person trotz initialer Behandlung akut suizidal bleibt
- bei Suizidgefahr und fehlender Behandlungsbereitschaft muss die Krankenhauseinweisung gegen den Willen des Patienten erwogen werden (Unterbringungsgesetze oder PsychKG)
medikamentöse Therapie
- Akutbehandlung (möglichst < 14 Tage) mit Benzodiazepin kann bei suizidgefährdeten Patienten in Betracht gezogen werden
- bei suizidgefährdeten Patienten mit einer depressiven Episode mit psychotischen Merkmalen antidepressive Medikation mit Antipsychotikum ergänzen
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