Wenn man an das Wort „Schizophrenie“ oder „schizophren“ denkt, assoziieren viele von uns diesen Begriff sofort mit widersprüchlich, abweichendem Verhalten oder Absurditäten, die nicht der Norm entsprechen. Diese Unkenntnis über die Schizophrenie löst aufgrund unseres inflationär falschen, diffamierenden Sprachgebrauchs bei betroffenen Personen vor allem ein Gefühl der Diskriminierung und Stigmatisierung aus. Sogar ein Blick in das Online-Wörterbuch des Dudens zeigt unseren problematischen Umgang mit dem Wort „schizophren“, denn auch dort findet sich ein großer Warnhinweis zur Bedeutung des Wortes und unserem problembehafteten Umgang mit der Schizophrenie.
Jedoch merkt man offenkundig, dass nicht nur in der fachfremden Otto-Normal-Bevölkerung eine hohe Ahnungslosigkeit bzw. fehlende Kenntnis über die Schizophrenie herrscht, sondern auch im notfallmedizinischen Bereich. Aus diesem Grund wird sich im heutigen Post alles um die Schizophrenie drehen, einem Krankheitsbild, welches in der akuten Ausprägung mit psychotischen und agitierten Zuständen, einen potentiellen psychiatrischen Notfalleinsatz darstellt. Wie bei den meisten Krankheitsbildern findet ihr am Ende des Beitrags eine kurze PsychFacts-Zusammenfassung.
Wortherkunft
Das Wort Schizophrenie setzt sich einerseits aus „schizein“ (griechisch) für spalten und „phrén“ (griechisch) für Zwerchfell, welches in der antiken Denkweise der Ort ist, an welchem Seele/Geist zu finden ist, und beschreibt etymologisch die alte Vorstellung von der gespaltenen Persönlichkeit als Charakteristika für die Schizophrenie. Diese alte Vorstellung hat auch dazu geführt, dass wir diesen inflationär stigmatisierenden, wörtlichen Umgang in vielen unserer Alltagskonversationen finden. Der deutsche Psychiater Asmus Finzen hat dies sehr treffend mit den nachfolgenden Worten auf den Punkt gebracht:
Schizophrenie ist nicht nur eine Krankheitsbezeichnung.
Schizophrenie ist – wie Krebs und Aids und früher die Tuberkulose – zugleich eine Metapher.
Der Begriff steht für alles mögliche andere; und nichts davon ist gut.
Die kurze Geschichte der Schizophrenie
- durch Emil Kraepelin, Eugen Bleuler und Kurt Schneider geprägter Begriff
- Bleuler beschrieb Anfang des 20. Jahrhundert die Primär- und Sekundärsymptome sowie die Grund- und Akzessorsymptome, welche heute noch ihr Gültigkeit in den Grundzügen haben
- Bleuler sorgte auch mit seinem 1911 erschienen Werk Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien das Verschwinden des von Kraeplin geprägten Begriffs der Dementia praecox
Epidemiologie
- Lebenszeitprävalenz, also die Gefahr im Laufe des Lebens zu erkranken, im Median bei 4,8 bis 7,2 pro 1000 Einwohner
- Jahresinzidenz im Mittel bei 15 Personen pro 100000 Einwohner
- Erstmanifestation meist zw. 15. und 35. Lj.
- weltweit ist ca. 1 % der Gesamtbevölkerung betroffen
- Geschlechterverteilung annähernd ausgeglichen
- gehäufteres Auftreten bei Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss und sozio-ökonomischem Status
- in 50 – 80 % der Fälle liegt zusätzlich ein Substanzmissbrauch vor
Zusatzfakt: Die volkswirtschaftlichen Kosten (direkt und indirekt) liegen bei 2 – 4 % der gesamten Kosten für Gesundheitsdienstleistungen in Deutschland, sind also vergleichbar mit Volkskrankheiten wie Diabetes und Erkrankungen von Herz und Kreislauf.
Verlauf
- bei ca. 20 % der Betroffenen kommt es nach Erstmanifestation zur Remission
- bei 2/3 der Betroffenen entwickelt sich ein episodischer Verlauf, entweder
- Vollremission zwischen einzelnen Episoden
- Teilremission in Form abgeschwächter, persistierender Symptomatik zwischen einzelnen Episoden
- bei 5 – 10 % entwickelt sich ein chronisch-progredienter Verlauf
Klassifikation & Symptomatik
Wie bei quasi allen psychiatrischen Erkrankungen zeigt sich auch die Schizophrenie sowie die anderen psychotischen Störungen als heterogenes Spektrum!
Die frühere Klassifikation (ICD-10) in paranoide, hebephrene, katatone, undifferenzierte Schizophrenie sowie postschizophrene Depression, schizophrenes Rediduum und Schizophrenia simplex sind mit der neuen ICD-11-Klassifikation obsolet.
Schizophrenie (ICD-11 6A20)
- Störungen des Denkens wie Wahnvorstellungen, desorganisiertes Denken
- Störungen der Wahrnehmung wie Halluzinationen
- Störungen der Selbsterfahrung wie Empfinden, dass Gefühle, Impulse, Gedanken etc. unter Kontrolle einer externen Kraft stehen
- Störungen der Kognition wie Aufmerksamkeitsprobleme
- Störungen des Willens wie Motivationsverlust
- Störungen des Affekts wie Abgestumpftheit
- Störungen des Verhaltens, z.B. in Form von bizarrem oder zwecklosem Verhalten sowie unvorhersehbare oder unangemessene emotionale Reaktionen
Die nachfolgenden Kernsymptome müssen min. einen Monat lang bestehen und dürfen nicht auf einen anderen Gesundheitszustand oder die Wirkung von Substanzen/Medikamenten zurückzuführen sein:
- anhaltende Wahnvorstellungen
- anhaltende Halluzinationen
- Denkstörungen
- Erfahrungen von Einflussnahme, Passivität oder Kontrolle
Zusätzlich kann es ggf. auch zu katatonen Zuständen kommen.
Schizoaffektive Störung (ICD-11 6A21)
- episodische Störung von entweder gleichzeitig oder innerhalb weniger Tage nacheinander auftretender Schizophrenie sowie einer manischen, gemischten oder mittelschweren bzw. schweren depressiven Episode
- Symptome müssen min. einen Monat lang bestehen und dürfen nicht auf einen anderen Gesundheitszustand oder die Wirkung von Substanzen/Medikamenten zurückzuführen sein
Schizotype Störung (ICD-11 6A22)
- dauerhaftes (min. über mehrere Jahre) Muster von Exzentrizitäten in Verhalten, Aussehen und Sprache
- begleitet von kognitiven und wahrnehmungsbezogenen Verzerrungen, ungewöhnlichen Überzeugungen und Unbehagen in zwischenmenschlichen Beziehungen
- ggf. mit eingeschränktem oder unangemessenem Affekt und Anhedonie
- Symptome wie paranoide Ideen, Bezugsideen und weitere psychotische Symptome, auch Halluzinationen, können vorhanden sein, sind aber nicht ausgeprägt genug für die Diagnose von Schizophrenie, schizoaffektiver Störung oder wahnhafter Störung
akute vorübergehende psychotische Störung (ICD-11 6A23)
- ohne Prodromalstadium auftretend und in zwei Wochen das Maximum erreichend
- Symptome wie Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Desorganisation des Denkens, Ratlosigkeit oder Verwirrung sowie Störungen des Affekts und der Stimmung
- ggf. mit katatonieähnlichen psychomotorischen Störungen
- Symptomatik ist meist schnell wechselnd in Intensität sowie dem zeitlichen Rahmen
- Episode nicht länger als drei Monate, meist zw. Tagen und einem Monat
- Symptome dürfen nicht auf einen anderen Gesundheitszustand oder die Wirkung von Substanzen/Medikamenten zurückzuführen sein
wahnhafte Störung (ICD-11 6A24)
- Entwicklung von Wahnvorstellungen, die min. drei Monate anhalten müssen bei gleichzeitigem Fehlen von depressiven, manischen oder gemischten Stimmungsphasen
- Wahnvorstellungen sind sehr individuell, aber beim einzelnen Individuum in der Regel stabil
- Fehlen von typischen Symptomen der Schizophrenie wie deutliche und anhaltende Halluzinationen, Negativsymptome, desorganisiertes Denken oder das Erleben von Einfluss, Passivität oder Kontrolle
- keine Beeinträchtigung von Affekt, Sprache und Verhalten
- Symptome dürfen nicht auf einen anderen Gesundheitszustand oder die Wirkung von Substanzen/Medikamenten zurückzuführen sein
- Definition des „Wahn“
Überzeugung, die nachweislich unwahr ist oder von anderen nicht geteilt wird und in der Regel auf falschen Schlüssen über die äußere Realität beruht
gemäß ICD-11 MB26.0
- Arten von Wahn (gemäß ICD-11 MB26): bizarrer Wahn, Kontrollwahn, Schuldwahn, Beziehungswahn, Liebeswahn, Größenwahn, Eifersuchtswahn, Verfolgungswahn, religiöser Wahn, somatischer Wahn, nihilistischer Wahn, Doppelgänger-Wahn, Verarmungswahn
Differentialdiagnosen
- primäre Hirnerkrankungen wie
- alkoholtoxische Enzephalopathien sowie andere Alkoholfolgeerkrankungen
- (komplexpartielle) Epilepsien
- Entzündungen wie MS, Neuroborreliose, Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung
- Schädel-Hirn-Traumata sowie andere cerebrale Raumforderungen (Hirntumore)
- cerebrale Ischämien, Hirnvenenthrombosen, Vaskulitiden
- Demenzen
- Elektroklytverschiebungen (Hypo-/Hyperkaliämie, Hypo-/Hypernatriämie)
- Schilddrüsenstörungen
- Hypo-/Hyperglykämie
- Störungen des Kortisolstoffwechsels (Cushing-Syndrom, Morbus Addison)
- psychotische Syndrome können darüber hinaus auch medikamenteninduziert sein (z.B. Anticholinergika, Triptane, Digoxin, Betablocker, ACE-Hemmer, Kalziumkanalblocker, MCP, H2-Blocker, Pantoprazol, L-Thyroxin, orale Verhütungsmittel, (Kortiko-)Steroide, NSAR, Opiode, Amoxicillin)
Anamnese & Diagnostik
- Liegen Anzeichen für Substanzmissbrauch-/abhängigkeit vor?
- Liegt eine Eigen- oder Fremdgefährdung vor?
- Suizid stellt häufigste Todesursache bei Erstmanifestation dar
- in 30 – 40 % liegt aggressives Verhalten vor und nur in 7 – 20 % der Fälle Gewalt gegen Andere
- Liegen typische Komorbiditäten wie Depression, Zwangsstörung, PTBS, Angststörung, Unruhe/Erregung vor?
- Liegen ein Krisenpass und/oder weitere Informationen über Vorerkrankungen und frühere Therapieabläufe vor?
- bei Ergreifen von Zwangsmaßnahmen Abklärung von posttraumatischer Symptomatik
Die Beobachtung des Verhaltens stellt eines der wichtigsten anamnestischen/diagnostischen Werkzeuge dar, z.B. hören die Betroffenen anderen Stimmen zu oder verfolgen sie mit den Augen Lebewesen, welche nicht vorhanden sind.
Therapie
- Absprachefähigkeit ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen im paranoiden, halluzinatorischen Erleben
- Ziel der Therapie sollte immer die Beruhigung und damit verbundene Beteiligung des Patienten an allen Behandlungsschritten sein
- (Zwangs-)Einweisung i.d.R. erforderlich, wenn Beeinträchtigung ausgeprägt ist und affektive Symptome und/oder Gefährdung vorliegt
- Zwangsmaßnahmen (Isolierung, Fixierung, medikamentöse Therapie wie Sedierung) erst, wenn alle anderen Deeskalationsmaßnahmen frustran verlaufen sind, und immer unter Wahrung aller rechtlichen Regelungen
- siehe hierzu S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang – Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“ der DGPPN
Kommunikation
- Vermittlung optimistischer Grundhaltung
- Schaffen einer möglichst reizarmen Umgebung
- empathisch, aber klar und strukturierend sein
- Zeit nehmen, die ggf. notwendig ist
- Techniken der Deeskalation anwenden
- keine unnötige Konfrontation/unnötiges in Frage stellen des Wahns und der Halluzinationen
- Patient ernst nehmen und auf seine Welt und Wahrnehmung eingehen
- Angehörige mit einbeziehen
- unsicherer, ängstlicher oder aggressiver Kommunikationsstil erschwert ggf. alle notwendigen Schritte der Diagnostik/Therapie
- Vermeiden von zu frühen Verdachtsdiagnosen, v.a. aus Gründen der Stigmatisierung
medikamentöse Therapie
- wenn möglich, Patient bei der Wahl der Medikamente, v.a. der Antipsychotika, mit einbeziehen; ggf. hat der Patient auch schon eine verordnete Akut-/Bedarfsmedikation
- bei Erwägung von medikamentöser Therapie immer die Gefahr des Bewusstseinsverlustes, der Übersedierung, der Kumulation psychotroper Substanzen und des Einfluss auf die therapeutische Beziehung berücksichtigen
Stufenmodell bei akuter Agitation, Angst und innerer Unruhe
Stufe 1:
1 – 2,5 mg Lorazepam oral, ggf. Wiederholung
Stufe 2:
1 – 2 mg Lorazepam oder 5 – 10 mg Diazepam i.v. oder i.m.
sekundär ggf. Antipsychotikum i.m.
ggf. auch Kombinationstherapie
Stufe 3
Wiederholung von Stufe 2 (Tageshöchstdosis berücksichtigen)
Antipsychotika-Therapie
2 – 5 mg Haloperidol i.m. alle 4 – 8 h
falls nötig ist auch die kombinierte i.m.-Gabe von Antipsychotikum und Benzodiazepin möglich
- in Einzelfällen können höhere Dosen erforderlich sein
- bei Erstmanifestation nach Abwägung ggf. erst mit der Hälfte der empfohlenen initialen Dosis beginnen
- wenn möglich immer orale Gabe der parenteralen Gabe vorziehen
- i.v.-Gabe nur unter (Monitor-)Überwachung (AF, Puls, RR, SpO2, Vigilanz)
- CAVE: QT-Verlängerungen -> lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen (Torsade de pointes)
- stark erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Problematik (ACS)
Sonderfall: katatone Schizophrenie
- 2 – 5 mg Lorazepam
- 10 – 15 mg Haldol
- bei perniziöser Katatonie (extremer Stupor mit Hyperthermie und vegetativer Dysregulation) sofortiger Transport in Klinik mit Möglichkeit der Elektrokonvulsionstherapie (Therapie der 1. Wahl)
geschlechterspezifische Unterschiede
- Menstruationszyklus, Schwangerschaft, Postpartalperiode und Menopause können durch hormonelle Veränderungen zu veränderter Symptomatik führen
- Vorgehen bei Schwangerschaft ist identisch dem Vorgehen beim Fehlen einer Schwangerschaft, jedoch sollte die medikamentöse Therapie auf Situationen beschränkt sein, bei denen die Folgen des Unterlassens einer medikamentösen Therapie den Folgen für das Ungeborene durch Medikamenten-Exposition überwiegen
Kinder & Jugendliche
- gleiches Vorgehen wie bei Erwachsenen unter Berücksichtigung von Alter und Gewicht bei der medikamentösen Therapie
ältere Patienten
- bei antipsychotischer Monotherapie geringere Dosierungen als bei jüngeren Patient*innen verwenden
PsychFacts – Schizophrenie
Hier findest Du die PsychFacts zur Schizophrenie mit allem wichtigen Informationen auf einen Blick: PsychFacts – Schizophrenie
Quellen
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- DGPPN e.V. (Hrsg.) für die Leitliniengruppe: S3-Leitlinie Schizophrenie. Langfassung, 2019, Version 1.0, zuletzt geändert am 15. März 2019, verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-009.html.
- Fiebach, Constanze. „Zum alltagsmetaphorischen Gebrauch des Wortes schizophren“. Concordia Discors vs. Discordia Concors, 2010.
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- International Classification of Diseases, Eleventh Revision (ICD-11), World Health Organization (WHO) 2019/2021 https://icd.who.int/browse11. Licensed under Creative Commons Attribution-NoDerivatives 3.0 IGO licence (CC BY-ND 3.0 IGO).
- Kaiser, Stefan, Gregor Berger, Philippe Conus, Wolfram Kawohl, Thomas J. Müller, Benno G. Schimmelmann, Rafael Traber, Nathalie Trächsel, Roland Vauth, und Erich Seifritz. „Die SGPP-Behandlungsempfehlungen zur Schizophrenie“. Swiss Medical Forum ‒ Schweizerisches Medizin-Forum, 19. Juni 2018. https://doi.org/10.4414/smf.2018.03303.
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