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Leitlinie „Akute Bewusstseinsstörungen jenseits der Neugeborenenperiode“ der GNP

veröffentlichende Fachgesellschaft: Gesellschaft für Neuropädiatrie
Klassifikation gemäß AWMF: S1
Datum der Veröffentlichung: 31.12.2020
Ablaufdatum: 30.12.2025
Quelle/Quelllink: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/022-016.html

Diagnostik

körperlicher Befund

  • Vitalparameter, ABCDE-Richtlinie
    • Beurteilung der Vitalzeichen, der Körpertemperatur, des Blutzuckers und die Untersuchung auf Traumahinweise
    • Diagnostik und Therapie müssen gleichzeitig ablaufen.
    • bei der Untersuchung der Vitalparameter ergeben sich Hinweise auf die Ätiologie der Bewusstseinsstörung:
      • Kussmaul’sche Atmung bei Azidose (z.B. diab. Koma)
      • Cheyne-Stokes- und periodisches Atmen bei Hirnstammdysfunktion
      • Acetongeruch in der Atemluft bei diabetischem Koma
      • süßlicher Geruch der Atemluft als Foetor hepaticus
      • Harngeruch bei urämischen Koma
      • Alkoholgeruch bei Alkohol-Intoxikation
  • Diagnostik und Therapie haben wie in allen Notfallsituationen gleichzeitig abzulaufen
  • ABCDE-Schema stellt zugleich Befundungs- und Therapiealgorithmus dar
  • zur klinischen Befunderhebung gehört zwingend, einen anhaltenden epileptischen Anfall zu erkennen.; klinische Erfahrung, dass das Fortbestehen des epileptischen Anfalls („subklinischer Anfall“, „hypomotorischer Anfall“) als Ursache der Bewusstseinsstörung häufig übersehen wird (z.B. können die Augen geöffnet, aber starr zu einer Seite deviiert sein)
  • Messung der Körpertemperatur zum Ausschluss alterstypischer Differentialdiagnosen
    • bei Krampfanfall bei Fieber und fehlender Anfallsanamnese ist ein Fieberkrampf als typischer Gelegenheitsanfall des Kleinkindalters wahrscheinlich
    • bei Fieber plus Vorliegen meningitischer Zeichen muss eine Meningitis ausgeschlossen werden
  • Hautbefund zeigt Flüssigkeitsverluste an und gibt Hinweise auf Verletzungen oder auf bestimmte Infektionen (Petechien bei Meningokokken-Sepsis, Virusexantheme)
  • Hinweise für ein Trauma wie Hautblutungen und Schwellungen besonders am Schädel dokumentieren
  • Verlängerte Rekapillarisierungszeit, d.h. > 3 Sekunden (Schock, Sepsis)?
  • Bestehen Turgor-Veränderungen der Haut als Hinweise auf Exsikkose?
  • Gibt es Hämatome, Vorliegen von Zyanose, Ikterus, Einstichstellen (z. B. bei Diabetes mellitus, Drogenkonsum), graues Hautkolorit bei Schock? Hautbläschen bei Herpes-Infektion, Exanthem bei Virusinfektion als möglicher Hinweis auf eine Virus-Enzephalitis?
  • insbesondere beim Säugling ist auf das Tasten einer Walze bei abdomineller Befunderhebung als Hinweis auf Invagination zu achten, da eine Invagination mit einer enzephalopathieartigen Bewusstseinsstörung einhergehen kann

Glascow Coma Scale

  • entwickelt für das Schädelhirntrauma beim erwachsenen Patienten
  • Standardinstrument für Beurteilung des Bewusstseins nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder und Jugendliche, nicht nur für das traumatische, sondern auch das nichttraumatische Koma
  • zur Graduierung der Bewusstseinsstörung wird empfohlen, GCS bzw. PGCS zu verwenden und den neurologischen Kurzbefund einzubeziehen
  • PECARN Regeln (Pediatric Emergency Care Applied Research Network SHT = Prädiktionsregeln für die Indikationsstellung für das cCT bei Kindern mit leichtem SHT)
    • Identifikation von Kinder nach geringem SHT, die kein Risiko für eine klinisch bedeutsame intrakranielle Verletzung haben
  • vollständige Beurteilbarkeit der Glasgow-Komaskala ist in bestimmten Situationen schwierig oder nicht möglich:
    • Augenverletzungen
    • Gesichtsverletzung
    • Stromunfälle
    • Intoxikationen mit trizyklischen Antidepressiva (rasch wechselnde GCS-Werte).
    • Krampfanfall (rasch wechselnde GCS-Werte)

neurologischer Kurzbefund

  • neurologische Kurzbefund schließt die Prüfung der Motorik, der Pupillomotorik und das Vorliegen von Meningismus ein
  • Wie reagiert der Patient auf Schmerzreize?
    • seitendifferente motorische Antwort
      • Verdacht auf eine postiktale Parese (Todd’sche Parese, beim Kind als häufigste Ursache), Hirnblutung, zerebrale fokale Ischämie, Enzephalitis; fokale Anfälle können auf akute umschriebene Hirnläsionen hinweisen
    • symmetrische Streckkrämpfe
      • Hirnstammfunktionsstörung (Einklemmung, Trauma, Blutung)
  • Gibt es Auffälligkeiten der Pupillen?
    • einseitig lichtstarre Pupille weist auf transtentorielle Herniation bei supratentorieller Raumforderung hin
    • bilateral weite lichtstarre Pupillen bei zerebraler Anoxie oder Ischämie; besonders wichtig ist, dass ähnlicher Pupillenbefund durch Katecholamin-Gabe unter Reanimation vorgetäuscht werden kann
    • weite, jedoch seitengleiche Pupillen: Intoxikation durch Anticholinergika, Amphetamine, Kokain und Kohlenmonoxid oder epileptischee Anfall
    • bei engen, seitengleichen Pupillen ist Intoxikation durch Barbiturate, Opiate oder Cholinergika möglich
  • Besteht Nackensteife?
    • bei Meningismus ist im Kindesalter überwiegend an Möglichkeit einer Meningitis zu denken; Subarachnoidalblutung ist selten
    • zusätzliche fokale neurologische Symptome, delirante Symptome und Anfälle kommen vor bei Parenchymbeteiligung (Abszess, Enzephalitis) oder Sinusvenenthrombose
    • bei jungen Kinder ist Meningismus bei Meningitis nicht obligat; auf die Spannung der Fontanelle muss geachtet werden (gespannt, vorgewölbt)

Labor

  • wichtigste präklinische Parameter ist Blutglukose
    • Hypoglykämie ist definiert als Blutglukose ≤ 40 mg/dL

Differentialdiagnosen

Differentialdiagnose von exogenen Intoxikationen

  • Medikamente, die zu einer Bewusstseinsstörung führen
  • Sedativa (Benzodiazepine, Barbiturate, C2, KO-Tropfen (= liquid ecstasy = GAP-artig = GHB oder Gamma-Butyrolacton))
  • Anticholinergika (Trizyklische Antidepressive, antipsychotische Therapeutika, Antihistaminika, Belladonna, Phenothiazine)
  • Salicylate
  • Antidepressiva (Zyklische Antidepressiva, Selektive SerotoninWiederaufnahme-Hemmer)
  • Antipsychotika (Chlorprothixen)
  • Sympatholytika (Betablocker, Calciumkanal-Blocker, Clonidin)
  • Opiate (Morphin)
  • Antiepileptika (Lamotrigin, Oxcarbazepin)
  • Immunsuppresiva (Corticosteroide, Cyclosporin, Tacrolimus)
  • asphyxierende Substanzen (Kohlendioxid, Inerte Gase)
  • Asphyxantien (Kohlenmonoxid, Cyanid)
  • Cholinergika (Organophosphate, Carbamate)
  • Pilze
  • Umweltgifte (Organophosphate, Blei, Schwermetalle, Hydrocarbone)

Differentialdiagnostik angeborener Stoffwechseldefekte

  • hypoglykämische Bewusstseinsstörung
  • Hypoglykämie ist zusammen mit der diabetischen Ketoazidose die häufigste metabolische Koma-Ursache

Therapien

  • potentiell lebensbedrohliche Zustände werden schon bei Verdacht therapiert: Hypoglykämie, Status epilepticus, Hirndrucksteigerung, bakterielle Meningitis, Herpesenzephalitis
  • Übersicht über Notfallversorgung bei hochgradiger Bewusstseinsstörung
    • Erhaltung der Vitalfunktionen gemäß den ABCDE-Richtlinien hat absoluten Vorrang; ABCDE-Schema stellt zugleich Befundungs- und Therapiealgorithmus dar
    • Messung der Körpertemperatur
    • Glucose (2.5 mL/kg 10%ige Glukoselösung i.v., nach Blutentnahme, schon vor Erhalt des Resultats)
    • sichere epileptische Anfälle: antikonvulsive Therapie
    • empirische Therapie erwägen:
      • Infektion möglich: Antibiotikum, Acyclovir
      • Intoxikation möglich: Naloxon, Flumazenil, Aktivkohle, Magenspülung
      • Hirndrucksteigerung möglich: siehe Tabelle „Therapie bei erhöhtem intrakraniellem Druck“
      • Nicht-konvulsiver Status epilepticus möglich: Lorazepam, Levetiracetam
  • bei GCS < 9 Sicherung der Atemwege mit endotrachealer Intubation empfohlen
  • falls erforderlich, kardiopulmonale Reanimation und Stützung vitaler Funktionen (ABCDE-Maßnahmen): Atemwege freimachen, Beatmung und evtl. Intubation, Zirkulationsbehandlung (Herzdruckmassage (HDM) und Notfallmedikation Adrenalin, Katecholamine)
  • ggf. Volumenersatz (CAVE: Überwässerung bei Hirnödem!), Flüssigkeits- und Säure-Basen-Bilanzierung, frühzeitiger Einsatz von Katecholaminen
  • bei erhöhtem Hirndruck auf hochnormalen Blutdruck und ausreichenden Perfusionsdruck achten, Oberkörper 30° hochlagern, achsengerechte Kopflagerung und optimierte maschinelle Ventilation mit pCO2-Werten zwischen 30 und 35 mmHg (empfohlen bei GCS < 8)
  • bei allen komatösen Patienten Blasenverweilkatheter zur optimalen Flüssigkeitsbilanzierung; bei erhöhtem intrakraniellen Druck auch zur Kontrolle der Blasenfüllung, da diese reflektorisch den intrakraniellen Druck steigert
  • Einlage einer Magenablaufsonde
BefundeTherapieoptionen
A) Atemwege frei?– Atemwege freimachen
– Lagerung, Esmarch Handgriff
– ggf. verlegenden Fremdkörper entfernen
– Absaugen notwendig?
– pharyngealer Guedel- oder nasopharyngealer Wendel-Tubus?
orale Notfall-Intubation zur Sicherung der
Atemwege notwendig?
B) Atemtätigkeit („breathing“):
suffizient? Apnoe? AF?
Sauerstoffsättigung
(Pulsoximetrie)?
– O2-Gabe
– Beatmung über Maske
– Beatmung über Larynxmaske oder
– endotrachealen Tubus
C) Kreislauf („circulation“):
suffizient? Pulse tastbar?
Arterieller Blutdruck?
– Kreislaufunterstützung mechanisch und/oder
medikamentös
Quelle: https://register.awmf.org/assets/guidelines/022-016l_S1_Akute_Bewusstseinsstoerung_jenseits_der_Neugeborenenperiode_2021-01.pdf

Behandlungsstrategie spezieller Krankheitsbilder

epileptische Anfälle

  • Sauerstoffgabe bei Zyanose bzw. bei pulsoxymetrisch gemessener erniedrigter SpO2 (< 93 %) mit hohem Flow
  • medikamentöse Therapie bei einem einzelnen epileptischen Anfall von < 3 Minuten Dauer (Anhaltsgröße) nicht notwendig

Hirndrucksteigerung, Herniationssyndrome

  • Volumenzunahme von Hirngewebe, Blut und/oder Liquor führt zu einem Anstieg der intrakraniellen Druckvolumenkurve
  • Stabilisierung von Atemweg, Atmung und Zirkulation mit den Zielen: Normoxämie, Normokapnie (Vermeidung Hypoxie!)
  • normaler paCO2 anvisieren (Hyperkapnie oder Hypoxie führen zu Vasodilatation und damit gesteigertem zerebralem Blutfluss)
  • Aufrechterhaltung des MAD durch isotone oder hypertone Flüssigkeitsgabe (z.B. isotone NaCl-Lösung)
  • Antipyrese
  • Benzodiazepine zur Behandlung von epileptischen Anfälle (erhöhen den intrakraniellen Druck)
  • adäquate Analgesie
  • Kopfteil des Bettes um 15-30 Grad erhöhen; nicht mehr als 40 Grad; Kopfposition mittig
  • Indikationen für Intubation
    • Hypoxie oder Hypoventilation
    • GCS ≤ 8 oder < 12 mit rascher Verschlechterung
    • Verlust der Atemwegsschutzreflexe
    • Herniationszeichen
  • allgemeine Maßnahmen beim intubierten Patienten
    • Vermeiden von Muskelzittern: Muskelrelaxation
    • Kopf in Mittelposition beim intubierten Patienten
    • Vermeidung von hohem PIP oder PEEP (dadurch wird venöser Abfluss verschlechtert)
    • däquate Sedierung, Reduktion von Stimuli
    • Hyperventilation mit der Senkung des paCO2 auf 30-35 mmHg ist wegen der Gefahr der zerebralen Ischämie (Vasokonstriktion, Abnahme der zerebralen Perfusion) eine zeitlich begrenzte Option bei drohender Herniation oder Herniationssymtpomen; keine Routinemethode!

Bewusstseinsstörung nach anoxisch-ischämischer Hirnschädigung

  • Überlegenheit der gezielten therapeutischen Hypothermie von 32 – 34 °C gegenüber kontrollierte Normothermie mit 36 – 37.5 °C noch offen
  • Daten zur therapeutischen Hypothermie sind im Kindesalter nicht ausreichend, um eine Anwendung nach Reanimation zu empfehlen
  • Zwei Konzepte des Temperaturmanagements sind akzeptiert:
    • Kühlung für 2 Tage auf eine Körperkerntemperatur von 32 – 34 °C, gefolgt von kontrollierter Normothermie über 3 Tage
    • kontrollierte Normothermie für 5 Tage
  • Als Eckpunkte zur Körperkerntemperatur sind zu beachten:
  • Vermeidung von Hypothermie < 32 °C
  • Vermeidung von Hyperthermie > 37.5 °C
Published inLeitlinien kompakt

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